Ausstellung zeigt queeres Leben im Alter "Ich will mich nie mehr verstecken müssen"
Eine Wanderausstellung in einem Flörsheimer Seniorenheim zeigt queeres Leben im Alter. Die Heimleitung hatte sich auf Kontroversen eingestellt – doch die Bewohner reagierten anders als erwartet.
Als die Bewohnenden des Seniorenheims Doreafamilie in Flörsheim (Main-Taunus) vor mehr als 60 oder 70 Jahren ihr beginnendes Sexualleben erkundeten, war gleichgeschlechtliche Liebe mehr als nur ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde. Sex zwischen Männern etwa war in der Bundesrepublik verboten - und wurde bestraft. Circa 50.000 Männer wurden zwischen 1950 und 1969 wegen Homosexualität verurteilt. Gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen wurde gesellschaftlich überhaupt nicht thematisiert.
"Eine Bewohnerin sagte: Das sind doch die, die am 17.5. Geburtstag haben", erinnert sich Susanne Wiederhold. Die Anspielung verstand die Leiterin des Sozialdienstes der Einrichtung erst auf Nachfrage. Die verklausulierte Zahlenkombination 1-7-5 steht für den Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch, in dem die Verfolgung schwuler und bisexueller Männer rechtlich geregelt wurde. Erst 1994 beschloss der Bundestag die endgültige Streichung des Paragraphen.
"Ich habe eine Enkeltochter, die steht auf Frauen"
Heute, Jahrzehnte später, ist queeres Leben sichtbarer als je zuvor. Auch im Eingangsbereich der Einrichtung in Flörsheim. Hier hängen Girlanden mit der Regenbogenfahne und der Transgender-Fahne mit den weißen, hellblauen und rosa Streifen - sie begleiten die Wanderausstellung "Lesbisches, schwules und trans* Leben im Alter", die das Seniorenheim aktuell zeigt.
Auf Tafeln werden die Lebensgeschichten von sieben Menschen - Lesben, Schwulen und Trans*-Personen zwischen 64 und 85 Jahren - in ihren eigenen Worten erzählt. Geschaffen wurde die Ausstellung von der Hessischen Landesfachstelle LSBT* im Alter.
Jetzt lebe ich schon über 30 Jahre mit meiner Frau in Frankfurt am Main. Inzwischen sind wir als lesbisches Paar in einer Einrichtung angemeldet. Gut ist, wenn in den Einrichtungen die älteren Menschen ohne Angst ihre geschlechtliche und sexuelle Identität offen leben können. Denn sobald das Gesicht beim Thema verzogen wird oder sonst eine abwertende Reaktion kommt – dann trauen sich viele gar nicht mehr, etwas über sich zu sagen. Zitat von Corry, 79 Jahre*Zitat Ende
Trotz jahrzehntelanger Tabuisierung habe die Ausstellung angeregt, über die Liebe zwischen Mann und Mann, Frau und Frau zu sprechen, sagt Sozialdienstleiterin Wiederhold. "Plötzlich erzählt mir eine Bewohnerin: Ich habe eine Enkeltochter, die steht auf Frauen."
Heimleiter rechnete mit Gegenwind
Vor der Ausstellungseröffnung rechnete Heimleiter Stefan Nardelli im Interview mit der "Main-Spitze" noch mit Gegenwind. Eine spezifische Altersmilde der Bewohner habe er bei diesem Thema nicht bemerkt, er glaubte nicht an sonderlich viel Akzeptanz abseits der Heterosexualität. Doch tatsächlich, stellen Nardelli und Wiederhold fest, habe es keinen einzigen negativen Kommentar gegeben.
"Ich habe mit sehr viel mehr Kontroverse gerechnet", sagt Nardelli. Auch, weil es in seinem privaten Umfeld entsprechende Kommentare gegeben habe. Offen gelebte Homosexualität bei Menschen im Alter von 70 plus? So etwas gebe es doch nur in Frankfurt und nicht im kleinen Flörsheim, habe ein Bekannter abwertend gesagt.
Ob zurzeit Lesben oder Schwule in ihrem Seniorenheim wohnen, wissen Nardelli und Wiederhold nicht – auch wenn sie es vermuten. "Ich frage ja nicht x-beliebige Menschen auf der Straße, ob sie hetero oder homo sind, und das machen wir bei unseren Bewohnern auch nicht", sagt Wiederhold.
Poster mit nacktem Mann besorgen
Rund fünf bis acht Prozent der Bevölkerung sind homosexuell, sagt Klaus Müller, Professor für Pädagogische Aufgaben in der Pflege an der Frankfurt University of Applied Sciences. Aber aufgrund ihrer Lebensgeschichten, häufig geprägt von Verfolgung und Ausgrenzung, würden viele Menschen im Altersheim diesen Teil ihrer Identität noch verstecken.
Wenn keiner weiß, dass sie schwul oder lesbisch sind, sagt Müller, sei es die Aufgabe der Pflegenden, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen - und Bedürfnisse zu erfüllen, die über Hetero-Wünsche hinausgehen.
"Wenn jemand krank und gebrechlich ist, wird er nicht aufstehen und sagen: Ich will ein Poster von einem nackten Mann in meinem Zimmer haben", sagt Müller. "Dann werde ich alles tun, um ihm diesen Akt zu besorgen."
Nicht nur, dass sich viele Bewohner im Altenheim nicht outen, dazu kommt: "Viele Betroffene reißen sich nicht darum, in ein heteronormatives Altersheim zu ziehen", sagt Müller.
Mein Coming-out kam spät, mit 50 Jahren. Bei der Anmeldung in einer Einrichtung für Senior:innen sagte die Leitung: "Oh, das ist toll. Jetzt haben wir auch ein gleichgeschlechtliches Paar. Das finde ich gut." Mir ist es wichtig, dass ich einfach angenommen werde. Zitat von Marie-Luise, 85Zitat Ende
Im Alter ziehen Menschen, die offen homosexuell leben möchten, beispielsweise ins Frankfurter Julie-Roger-Haus. Das Seniorenheim wird von Armin Blum geleitet, der "selbst betroffen" – also schwul – ist, wie er sich nicht ganz ernsthaft ausdrückt.
Regenbogen-Seniorenheim ausgezeichnet
"Meine Oma hat geweint, weil der Junge 'krank' ist", sagt Blum über sein eigenes damaliges Coming-out. Das habe zu seiner Mission beigetragen, ein Altenheim zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen und niemand verfolgt wird.
Dafür wurde das Julie-Roger-Haus als erstes Seniorenheim in Deutschland mit dem Regenbogenschlüssel ausgezeichnet, einem Qualitätssiegel für Einrichtungen, die LGBTQ-Bewohnenden ein möglichst diskriminierungsfreies Umfeld schaffen.
Inzwischen genieße ich mein Ältersein sehr. Mit meinem Freundeskreis, vor allem älteren schwulen Männern, unternehme ich viel. Ich will mich nie mehr verstecken müssen. Das würde mich in die Anfangszeit meines Coming-outs zurückwerfen, und das geht nicht. Mein Lebensende möchte ich möglichst selbstbestimmt erleben. Zitat von Bernhard, 72 JahreZitat Ende
Sieben der 80 Bewohnenden stehen heute offen zu ihrer Homosexualität, dazu kommt eine Dunkelziffer, vermutet Blum. Dass die Bewohnenden ablehnend auf queere Zimmernachbarn oder Pflegekräfte reagieren, komme nur selten vor, sagt Blum: "Eine blöde Nuss gibt es immer." Aber die seien oft in ihrer Jugend so sozialisiert worden und könnten nichts dafür.
Lieber erinnert sich Blum an die Hochzeitsfeier zweier Männer in seinem Haus. Die erste Frau auf der Tanzfläche sei eine Bewohnerin gewesen, die noch einige Jahre zuvor ihren eigenen Sohn aufgrund seiner Homosexualität verstoßen habe. "Es ist nie zu spät, umzudenken", sagt Blum dazu.
Wir erkannten, dass wir irgendwann nicht mehr jung und knackig sind, sondern uns überlegen müssen, wie wir unser Alter mit Anstand gestalten. Dazu gehört auch, dass Schwule, Lesben und Trans*-Personen in den Pflegeeinrichtungen akzeptiert werden. Seit elf Jahren wohne ich im Lebenshaus Frankfurt, einer Einrichtung, in der auch queere Menschen willkommen sind. Zitat von Hans-Peter, 76 JahreZitat Ende
In Flörsheim steht eine Bewohnerin auf den Rollator gebückt vor den Texten mit den homosexuellen Lebensgeschichten. Viele Bewohner lesen die Texte auch in der Broschüre auf ihren Zimmern, weil das Stehen vor den Wandtafeln zu anstrengend ist.
Auch wenn in Flörsheim keine Bewohner offensichtlich schwul oder lesbisch leben oder lieben, würden sich die Bewohner in den Geschichten der Menschen in der Ausstellung wiederfinden, sagt Heimleiter Nardelli. "Eine Bewohnerin hat mir erzählt: 'Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich einen Spanier heirate.'"
Homosexualität war – und ist gelegentlich immer noch – für viele eben nicht das einzige Tabu in der Liebe.
*Alle hervorgehobenen Zitate stammen aus der Ausstellung.
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