Deutsche Nationalbibliothek Gespräche mit virtuellen Zeitzeugen des Holocaust
Was passiert, wenn niemand mehr lebt, der sich aktiv an den Holocaust erinnern kann? Die Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt kombiniert Interviews realer Zeitzeugen mit KI. So werden Erinnerungen nicht nur bewahrt, sondern fast echte Gespräche über den Tod hinaus möglich.
Ein kleiner abgedunkelter Raum, die Schüler der 12. Klasse der Ludwig-Erhard-Schule aus Frankfurt Unterliederbach sitzen im Halbkreis vor zwei riesigen Bildschirmen in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt. Zwei alte Menschen, Inge Auerbacher (Jahrgang 1934) und Kurt S. Maier (Jahrgang 1930), sind da zu sehen, jeweils in einem Sessel, lebensgroß.
Über ein Mikro stellt ein Schüler seine Frage an den virtuellen Kurt S. Maier. "Wie war der Geruch in den Konzentrationslagern?" Das Bild ruckelt kurz, der Mann bewegt sich, scheint zu überlegen. "Im Lager habe ich mich vor allem geekelt." Er erzählt von abgelegenen Plumpsklos, die alte Menschen oft nicht mehr erreichen konnten, weshalb die Hinterlassenschaften überall auf dem Boden lagen. Die Schüler hängen an seinen Lippen. Manche verziehen angeekelt das Gesicht.
Ausstellung dokumentiert Lebenswege der Zeitzeugen
Inge Auerbacher und Kurt S. Maier wurden beide im badischen Kippenheim geboren und mussten schon als Kinder Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten erleben. Sie überlebten die Lager Camp de Gurs (Frankreich) und Theresienstadt (Tschechien). Maier gelang die Flucht, Auerbacher wurde 1945 befreit und beide wanderten unabhängig voneinander in die USA aus.
Die Ausstellung "Frag nach" zeigt das Leben der beiden Zeitzeugen mit vielen Fotos, Anekdoten, Hörinseln und Graphic-Novel-Ausschnitten. Und vor allem ermöglicht sie den Besuchenden mit der 3D-Installation, ihnen Fragen zu stellen – quasi dank Künstlicher Intelligenz (KI) mit ihnen zu sprechen.
Archiv-Leiterin: "Das brauchen wir auch"
Zeitzeugen befragen, ihre Erinnerungen zu sammeln, das ist Basisarbeit beim Deutschen Exilarchiv 1933 - 1945, das an die Deutsche Nationalbibliothek angegliedert ist. Es habe sich immer wieder die Frage gestellt: Was passiert, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind? Dann hörte Sylvia Asmus, die Leiterin des Exilarchivs, von der Möglichkeit der 3D-Simulationen mit Interaktion. "Und dann haben wir beschlossen: Das brauchen wir auch!"
Stundenlange Interviews füttern die KI mit Text
In der Vorbereitung für die Ausstellung wurden die Zeitzeugen Inge Auerbacher und Kurt S. Maier jeweils fünf Tage und jeweils bis zu neun Stunden lang in speziellen Studios interviewt und von allen Seiten gefilmt. Danach wurden ihre Aussagen in Clips zerlegt und in einer Datenbank angelegt.
Für die Installation wandelt eine KI-Software die Fragen der Besucher in Text um, sucht die passende Antwort in der Datenbank und spielt sie dann aus. Das alles passiert in Sekundenschnelle und erzeugt so die fast perfekte Illusion, ein echtes Gespräch zu führen.
"Klar bekommt man da Gänsehaut"
"Also ich habe mit so was nicht gerechnet. Ich dachte nicht, dass man so ein Bild von denen sehen kann." Die 20-jährige Selcan ist nach dem virtuellen Interview ziemlich beeindruckt. Kurt S. Maiers Mimik und Gestik beim Erzählen zu sehen, das habe nochmal ganz andere Emotionen rübergebracht. "Klar bekommt man da Gänsehaut".
Die 19-jährige Mathilda betont, die Ausstellung alleine hätte ihr nicht gereicht, das Lesen alleine sei ihr zu eintönig. "Wenn wir jetzt nur die Ausstellung gehabt hätten, das sag ich ganz ehrlich, das spricht mich jetzt nicht so direkt an." Und ihre Klassenlehrerin Janice Becker ergänzt: "Es gibt einfach Menschen, die können durch Bewegtbild noch mal ganz anders Dinge aufnehmen, wahrnehmen, verarbeiten."
Exilarchiv-Leiterin Sylvia Asmus bestätigt diesen Eindruck. Schon in der Testphase vor Ausstellungsbeginn habe es viele Rückmeldungen gegeben, vor allem von jungen Menschen. "Sie trauen sich mehr Fragen zu stellen, was sie sich vielleicht, wenn der Zeitzeuge wirklich real im Raum wäre, nicht getraut hätten."
Sendung: hr2, 20.11.2023, 06.44 Uhr.
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