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Jürgen Habermas wird 95

Jürgen Habermas steht bei einem Vortrag am Rednerpult

Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, jüngst die Europawahl: Es gibt kaum ein relevantes politisches Thema, zu dem sich Jürgen Habermas nicht öffentlich äußert. Jetzt feiert der streitbare Philosoph seinen 95. Geburtstag.

Er gilt als wichtigster deutscher Philosoph der Gegenwart und als diskussionsfreudiger Intellektueller: Seit rund sieben Jahrzehnten schaltet sich Jürgen Habermas immer wieder in politische Debatten ein - ob im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder mit der israelischen Gegenattacke nach dem Angriff der radikalislamischen Hamas vom 7. Oktober.

"Öffentliches Engagement" sei "die wichtigere Aufgabe der Philosophie", stellte Habermas einmal klar. Am Dienstag wird der Philosoph und Soziologe 95 Jahre alt.

"Habermas ist "singuläre Figur"

Für Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und Habermas-Schüler, ist Habermas in der wissenschaftlichen Landschaft eine singuläre Figur. "Nicht nur, weil er nach wie vor in diesem - jetzt doch recht hohen - Alter noch sehr produktiv ist. Sondern auch, weil er immer wieder neue Themen aufgreift", sagt Forst. Auch die Breite seines Werks sei singulär.

Habermas verfasste zahlreiche Bücher, Essays und politische Streitschriften, entwickelte die Gesellschaftstheorie der "Frankfurter Schule" weiter. Sein 1981 erschienenes Hauptwerk, die "Theorie des kommunikativen Handelns", ist mehr als 1.200 Seiten dick. Die Sekundärliteratur zu seinem Gesamtwerk wird auf etwa 14.000 Arbeiten geschätzt. Die Schriften sind grundlegend für Philosophie und Soziologie, beeinflussten aber zum Beispiel auch die Linguistik.

"Stimmen, die fundierte Argumente einbringen"

Der Name Jürgen Habermas sei einer der wenigen, der selbst Kommilitonen bekannt sei, die nicht wie er Philosophie studierten, berichtet der Frankfurter Student Robin Waldenburg. Es sei begrüßenswert, wenn sich Philosophinnen und Philosophen in öffentliche Debatten einmischen, findet Waldenburg. Es seien "Stimmen, die wirklich fundierte Argumente in die Diskussion einbringen."

Seit den späten 1950er Jahren lässt Habermas kaum eine intellektuelle Debatte aus, lässt sich dabei politisch aber nie vereinnahmen. Manche Diskussion wie den Historikerstreit über die Singularität des Holocaust in den 1980er Jahren eröffnete er auch selbst. Dabei habe er immer darauf hingewiesen, dass es ein Unterschied ist, ob man mit wissenschaftlicher Expertise spricht oder als Intellektueller, sozusagen als Bürger unter Bürgern, erklärt Rainer Forst: "Das ist wichtig für ihn."

Inge Werth: Jürgen Habermas diskutiert mit streikenden Studenten der Goethe- Universität Frankfurt 1968

Debattenerosion durch soziale Medien

Der "herrschaftsfreie Diskurs", die "ideale Sprechsituation" oder der "zwanglose Zwang des besseren Arguments" sind bis heute viel diskutierte Habermas-Stichworte. Habermas befasste sich intensiv mit dem Medium Sprache, glaubt an die Macht der Kommunikation. Die vernünftige Rede, die auf Wahrheit und Konsens gerichtete Kommunikation, müsse wenigstens "antizipiert" werden, sagt er, also eine Grunderwartung sein.

Dazu gehört auch, dass alle Debattenteilnehmer sich wechselseitig ernst nehmen und sich auf den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" einlassen. Dass dies in Zeiten der sozialen Medien erodiert - auch das analysierte Habermas jüngst kritisch.

Sorge vor Spaltung der Öffentlichkeit

Seine Sorge gilt einer möglichen Fragmentierung der Öffentlichkeit und der Aufspaltung in "Halböffentlichkeiten", die ihre eigenen Wahrheiten schaffen. Ob unter diesen Bedingungen an einem Ideal "deliberativer Demokratie" festgehalten werden kann - also einer Demokratie, die auf Debatten basiert - ist eine Frage, die Habermas wie auch viele andere umtreibt.

Philosoph Rainer Forst: Mann sitzt auf Stuhl und stützt seinen Kopf mit einer Hand ab

"Die allgemeine Nutzung sozialer Medien ist kein Problem", sagt Rainer Forst. "Aber wenn viele Menschen nur noch bestimmte soziale Medien nutzen und sich ausschließlich in deren Wahrheitsregime befinden, kann daraus ein Problem werden. Man muss dafür sorgen, dass Qualitätsmedien in der Lage sind, mit diesen Netzwerken zu kommunizieren und sie in die allgemeine Öffentlichkeit zu integrieren. Es ist aber die Aufgabe an uns alle, dass respektbezogene und wahrheitsbezogene Standards nicht verletzt werden."

Für ihn sei Habermas‘ Denken "immer eine große Quelle der Inspiration gewesen", sagt Forst, heute selbst bedeutender Philosoph. "Und ich bin dankbar dafür, dass mir das über einen solch langen Zeitraum vergönnt war."

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Biographisches

Geboren wurde Habermas 1929 in Düsseldorf. Er studierte Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur sowie Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn. Auf Einladung von Theodor W. Adorno arbeitete er in den 1950er Jahren am Institut für Sozialforschung in Frankfurt.

Nach einer Professur in Heidelberg übernahm er 1964 Max Horkheimers Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie in Frankfurt. Nach einem Wechsel an das Starnberger Max-Planck-Institut lehrte er ab 1983 wieder als Philosophieprofessor in Frankfurt, wo er 1994 emeritiert wurde.

Neben zahlreichen Auszeichnungen - darunter der Heine-Preis - und Ehrendoktorwürden im In- und Ausland erhielt Habermas 2001 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Jury würdigte ihn als den prägendsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Mit seiner Frau lebt er seit langem am Starnberger See.

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