Brutalismus bizarr 5 Gründe, warum dieses Haus in Offenbach Kult ist
Auf den ersten Blick ist es eine Bausünde mitten im Zentrum von Offenbach: das Gothaer-Haus aus den 1970er Jahren. Doch ein junges Architektur-Kollektiv plädiert für einen zweiten Blick auf das Gebäude. Es lohnt sich - aus fünf Gründen.
Es ist sicher eines der markantesten Gebäude in Offenbach: das sogenannte Gothaer-Haus an der Berliner Straße. Es entstand vor fast 50 Jahren im Auftrag einer Versicherung und wird heute von vielen als brutalistische Bausünde empfunden.
Doch ein Architektur-Kollektiv ist so begeistert von dem Hochhaus, dass es seine verborgenen Qualitäten sichtbar machen will. Die jungen Architekten haben ein Buch über das Gothaer Haus geschrieben und laden dazu ein, sich mit dem Gebäude auseinanderzusetzen, denn:
1. Es ist schön
Echt jetzt? "Klar", sagt der Architekt Jan Engelke. "Schönheit hat für mich viel damit zu tun, was ich interessant finde." Und interessant, geradezu rätselhaft, ist das 1977 fertiggestellte Gebäude auf jeden Fall.
Ein flacher, verspiegelter Baukörper mit Läden und Büros, darüber gestapelte Wohnungen mit zackig nach außen gedrehten Balkons. Wie ein Schiff, das vom Offenbacher Himmel gefallen ist, sieht das aus. Dazu das Nebeneinander von verspiegelten Fassaden, Betonsäulen, Wellblech und quadratischen Fenstern mit Holzrahmen. Brutalismus bizarr!
Jan Engelke und seine Freunde vom jungen Architekturkollektiv ANA haben sich spontan in das Haus verliebt, als sie sich einmal eher zufällig in Offenbach trafen. Sie beschlossen, die Geschichte des Hauses zu erforschen und seine verborgenen Qualitäten der Öffentlichkeit näher zu bringen. Entstanden ist dabei das Buchprojekt "Offenbach Kaleidoskop" mit vielen Fotos und Interviews rund um das Gebäude.
2. Es ist ein cooler Mix
Nicht nur Form und Fassade des Hauses erscheinen abenteuerlich zusammengestückelt, auch die Funktionen sind bunt gemischt. Ein Studio für Wasserbetten und ein Sexshop im Erdgeschoss, darüber die Büros des Offenen Kanals und eine Arztpraxis, darauf gestapelt Wohnungen mit spektakulärer Aussicht – und ganz oben ein Schwimmbad, das leider nicht mehr in Betrieb ist.
Geplant wurde das Haus im Auftrag der Gothaer-Versicherung in den 1970er Jahren von dem damals jungen und unerfahrenen Architekten Peter Opitz. Der schlug sich mit ständig wechselnden Anforderungen der Bauherren herum, was die improvisierte Gestalt des Gebäudes zum Teil erklärt. Am Ende war Opitz so frustriert, dass er das Haus am liebsten wieder abgerissen hätte, erzählt er im Buch. Für Jan Engelke aber steht fest: Das Ergebnis ist "total spannend" und der Mix von Funktionen funktioniert bis heute gut.
3. Es erzählt Geschichten
Es ist ein Haus voller Geschichten von denen, die hier wohnen, arbeiten oder einkaufen. Das Architekturkollektiv ANA hat die Menschen im Gothaer-Haus und in der Nachbarschaft befragt und dokumentiert diese Interviews in seinem Buch. Da ist zum Beispiel Bernhard, der seit einem Vierteljahrhundert gerne hier lebt und entdeckt hat, dass ein Hochhaus nicht anonym sein muss.
Oder Adriana, die als Kind aus Rumänien nach Offenbach kam, später ihre Arztpraxis in dem Gebäude eröffnete und dann selbst eine Wohnung im obersten Stockwerk bezog. "Die Geschichten gehören zu dem Haus dazu und machen seinen Wert aus", sagt Jan Engelke.
Die verschiedenen Perspektiven verbinden sich wie in einem Kaleidoskop. Genauso spiegelt die Fassade des Gebäudes die Umgebung wieder – gebrochen und fragmentiert. Das brachte die Architekten auf den Titel "Offenbach Kaleidoskop" für ihr Projekt.
4. Es wird grün
Das Gothaer-Haus ist eine Landmarke, jeder und jede in Offenbach kennt das herausragende Gebäude an der Berliner Straße. Noch parken Autos vor dem Haus, doch der Parkplatz soll sich in eine kleine Grünanlage verwandeln.
Einen Vorgeschmack liefert das ANA-Kollektiv mit einer Installation, die am Sonntag (14. Mai) eröffnet wird: Pflanzen bilden einen temporären Stadtwald, eine Treppe lädt zum Verweilen und Diskutieren ein, an einer Soundstation ist die Geschichte des Hauses zu hören. Die Installation soll den ganzen Sommer über zu erleben sein und den Blick für das Gebäude schärfen.
5. Es hat Zukunft
Ein Drittel des Gebäudebestands in Europa stammt aus den 1960er und 1970er Jahren, stellen die Leute vom ANA-Kollektiv fest. Diese Gebäude in großem Stil abzureißen komme schon aus Gründen des Klimaschutzes nicht mehr in Frage. Sich mit diesen Architekturen auseinanderzusetzen und ihre verborgenen Qualitäten zu aufzudecken, sei daher "eine der zentralen Aufgaben unserer Generation", sagen die jungen Architekten.
Am Gothaer-Haus in Offenbach wollen sie zeigen, wie das geht. Auch den Denkmalschutz haben sie schon für das Gebäude begeistert. Es ist auf dem besten Wege, Kult zu werden. Nur eins soll dabei nicht passieren: dass die Aufwertung dieser lange verpönten Architektur zur Gentrifizierung beiträgt, die auch im Zentrum von Offenbach das Wohnen für viele unbezahlbar macht.
Sendung: hr-iNFO, 12.05.2023, 20:30 Uhr
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