Bildband zu brutalistischen Betonbauten in Marburg Ist das Baukunst oder kann das weg?

Marburgs Betonbauten im romantischen Fachwerkstadtbild sind ästhetisch umstritten, viele sind zudem sanierungsbedürftig. Während eine Fotografin dem Brutalismus der 1960er und -70er viel abgewinnen kann, würden andere die "Klötze" lieber abgerissen sehen.

Pagode
Das Hörsaalgebäude auf den Lahnbergen ist bekannt für sein Pagodendach Bild © Susanne Saker
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Bild © Susanne Saker| zur Audio-Einzelseite
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Es sind die 1960er Jahre. Eine kleine Gruppe von Architekten und Ingenieuren sitzt in einem stickigen Dachgeschoss-Büro in der Marburger Biegenstraße. Aus dem Fenster sehen sie die romantische Altstadt: Fachwerk, Stuck und Kopfsteinpflaster. Einer hat seinen Plattenspieler mitgebracht, es läuft laut klassische Musik. Aus Spaß dirigieren die Männer zwischendurch mit - sie haben Großes vor.

Der Ingenieur Gerhard Haberle war damals um die 30 und Teil dieser jungen und dynamischen Gruppe im Marburger Hochschulbauamt. Der heute 87-Jährige sitzt in seinem Garten und erzählt: Aufgrund von massiv gestiegenen Studierendenzahlen brauchte die Uni damals dringend Platz. Das Hochschulbauamt sollte einen neuen Campus entwerfen, in Fertigbauweise, mitten im Wald auf den Lahnbergen.

Mann guckt in ein Architektur Buch
Gerhard Haberle war an der Entwicklung des Marburger Bausystems beteiligt - inzwischen gibt es eine ausführliche wissenschaftliche Abhandlung darüber Bild © Rebekka Dieckmann

Flexibel und funktional, das seien die Maxime der Zeit gewesen. "Die Architekten, die das bei uns vorangetrieben haben, kamen direkt vom Lehrstuhl von Egon Eiermann", erzählt Haberle. Die Männer teilten den Campus radikal ein in ein Rastersystem aus 60 Zentimeter großen Quadraten - fast wie auf einer Lego-Bauplatte, erklärt der 87-Jährige.

Man habe die Innenwandmodule je nach Bedarf einfach versetzen und außen sehr unkompliziert Gebäudeteile anbauen können. "Und Beton galt damals als ehrlicher Baustoff", meint Haberle. Kein Stein auf den Lahnbergen sei gemauert worden, stattdessen habe man dort eine Art Fabrik für die Fertigteilfertigung aufgebaut. "Aber es gab von Anfang an Stimmen, denen das nicht gefiel und die das auch nicht verstanden haben."

Fachwerkbau und Affenfelsen: Eine Stadt der Gegensätze

Marburg ist eine Stadt der Gegensätze - auch architektonisch. Neben Fachwerkhäusern und Gründerzeitvillen wurden in den vergangenen Jahrzehnten auch zahlreiche massive Betonbauten errichtet. Bekannt und im Stadtbild durchaus dominant sind neben den Uni-Gebäuden auch die wuchtige Hauptpost und der "Affenfelsen", ein terrassenförmiger Wohnblock direkt an der Lahn. Viele Gebäude aus dieser Zeit sind inzwischen denkmalgeschützt.

Die Betonbauten werden in der Stadt immer wieder heftig diskutiert, etwa mit Blick auf ihre Nutzbarkeit, ihren Energieverbrauch und durchaus auch ihre Ästhetik, die nicht allen passt. Hinzu kommt: Einige sind baufällig und stehen bereits ganz oder teilweise leer - ein Abriss steht im Raum.

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Neuer Bildband: Marburg Brutal

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Was für manche Menschen in Marburg die abrisswürdigen Bausünden ihrer Eltern oder Großeltern sind, das sind für andere schützenswerte Kulturdenkmäler der Moderne. Zum Beispiel für die in Marburg wohnende Fotografin Susanne Saker. Seit Jahren fotografiert sie den Marburger Beton und huldigt ihm nun in einem neuen Bildband, der derzeit auf der Buchmesse vorgestellt wird: "Marburg Brutal".

Fotografin sieht Schönes da, wo andere Hässliches sehen

Kantig, roh, inzwischen auch verwittertet - Sakers Bilder zeigen eine meist menschenleere Architektur voller überraschender Details. Einen Kirchturm, der mehr wie ein Industriedenkmal aussieht. Ein Wandrelief mit feinen Strukturen und Formen. Und überall gut sichtbar: die Abdrücke der Holzverschalung im Beton, die stilprägend ist für den Brutalismus und der er seine heutige Bezeichnung, das französische Wort für unverputzten Rohbeton, verdankt: béton brut.

Susanne Saker ist Geisteswissenschaftlerin, sie kennt die sanierungsbedürftigen Büros der Philolosophischen Fakultät - inzwischen aus Brandschutzgründen teilweise gesperrt - nach eigener Aussage nur zu gut. Sie wisse, wie es dort durch die alten Aluminiumfenster reinziehe. "Man legt sich da im Winter möglichst ein Handtuch vor, das ist kein Gerücht."

Frau
Forografin Susanne Saker kennt die zugigen Fenster der PhilFak in der Wilhelm-Röpke-Straße Bild © Rebekka Dieckmann

Trotzdem sagt sie: "Mich fasziniert immer wieder, wie ein in der Realität oft als hässlich oder unschön empfundenes Bauwerk über die Fotografie in etwas Schönes umgewandelt wird." Die Geometrie und Symmetrie der Gebäude komme durch das Foto oft erst so richtig zur Geltung - vielen Menschen falle das im Alltag sonst gar nicht auf.

Lahnberge: Denkmalgeschützte Gebäude stehen leer

Besonders heftig umstritten in Marburg sind derzeit die naturwissenschaftlichen Gebäude auf den Lahnbergen, allen voran die inzwischen leerstehende Alte Chemie und das Hörsaalgebäude mit seinem charakteristischen Pagodendach. Das in den 1960er Jahren entwickelte "Marburger Bausystem" gilt in der Wissenschaft inzwischen als bahnbrechend. "Eines der frühesten und vermutlich auch international das bekannteste deutsche Bausystem", nannte es 2013 die Züricher Architekturprofessorin Silke Langenberg in ihrem Fachbuch "Offenheit als Prinzip".

Doch weil die Uni "bautechnische Mängel" sah und eine Sanierung für nicht lohnenswert hielt, plante sie 2009 einen Abriss der Alten Chemie, um auf den Lahnbergen einen fast komplett neuen Campus zu bauen. Der Rückbau wurde allerdings nicht genehmigt - das Hessische Landesamt für Denkmalpflege (LfDH) kam der Uni in die Quere.

Uni-Präsident: Denkmalschutz darf nicht über allem stehen

Uni-Präsident Thomas Nauss sagt, die Uni habe einige Gebäude aus dieser Zeit in den vergangenen Jahren erfolgreich umbauen können und nutze sie weiter, beispielsweise das Verwaltungsgebäude in der Biegenstraße, in dem er selbst sein Büro hat. Eine Sanierung auf den Lahnbergen würde jedoch einen Rückbau bis auf die Grundmauern notwendig machen - und auch dann sei fraglich, ob das Gebäude den energetischen und wissenschaftlichen Maßstäben von heute überhaupt noch entsprechen kann.

"Insbesondere in naturwissenschaftlichen Laboren haben wir inzwischen ganz andere technische Anforderungen, etwa was die Belüftung oder auch Schwingungen angeht", erklärt Nauss. Er könne den architektonischen Wert brutalistischer Gebäude zwar zum Teil durchaus nachvollziehen, beispielsweise mit Blick auf das Hörsaalgebäude. "Aber an der Alten Chemie ist aus Sicht einer Universität gar nichts mehr gut."

Mann blickt in die Kamera
Uni-Präsident Thomas Nauss hat sein Büro ebenfalls in einem brutalistischen Bau aus den 1960ern Bild © Rebekka Dieckmann

An Gebäuden wie diesem würden sich sehr widersprüchliche Interessen manifestieren, sagt der Uni-Präsident - die des Klimaschutzes, der Wissenschaft und des Denkmalschutzes. Auch letzter sei wichtig und er sei durchaus dafür, die architektonische Idee solcher Gebäude "mit in die Zukunft zu tragen", so Nauss. Aber: "Ich glaube, man muss Kompromisse finden und wir haben gerade in vielen Dimensionen Herausforderungen, bei denen der Denkmalschutz nicht über allen anderen stehen kann."

Denkmalpflege-Amt will "graue Energie" erhalten

Von Seiten des LfDH heißt es: Die Diskussion zum Umgang mit Betonbauten der Nachkriegszeit werde nicht nur in Marburg, sondern bundesweit geführt. Es gebe inzwischen einige hervorragende Beispiele für erfolgreiche Sanierungen aus dieser Zeit. Veränderungen an einem Baudenkmal würden grundsätzlich ein komplexes "Change Management" erfordern, oberste Priorität habe dabei immer, ein Objekt zu erhalten.

Zudem werde es auch aus energetischen Gründen immer wichtiger, Bestand ressourcenschonend weiterzuentwickeln und die "graue Energie" darin zu erhalten - also die Energie, die bereits für Herstellung, Transport und Verarbeitung von Baumaterialien aufgebracht wurde. Auch vor dem Hintergrund der klimapolitischen Ziele der Bundesregierung müssten Emissionen im Bausektor drastisch zurückgefahren werden, so das LfDH.

Was mit den umstrittenen Unibauten auf den Lahnbergen weiter passieren wird, ist derzeit also noch offen. Fotografin Susanne Saker und Ingenieur Gerhard Haberle plädieren dafür, den Bestand zu erhalten und energieeffizient umzubauen. Die Uni hat nach ihren bisher gescheiterten Abrissplänen inzwischen eine Potentialstudie in Auftrag gegeben, die Kosten und Nutzen einer Sanierung mit denen eines Neubau vergleichen soll. Das LfDH teilt mit: Auf Basis der Ergebnisse wolle man die Möglichkeiten einer Nachnutzung prüfen.

Brücke Röpke Str.
Am Brutalismus scheiden sich die Geister - Fußgängerbrücke zur PhilFak in der Wilhelm-Röpke-Straße Bild © Susanne Saker
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Sendung: hr2, 21.10.22, 7.10 Uhr

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Quelle: hessenschau.de