Kuratorisches Konzept vorgestellt documenta 16 soll Brücken bauen statt provozieren

Wie will die künstlerische Leitung der documenta 16 die Wahrung der Menschenwürde sicherstellen? Nach der documenta 2022 soll jeder mögliche Skandal verhindert werden. Naomi Beckwith hat jetzt ihr kuratorisches Konzept der Öffentlichkeit vorgestellt.

Naomi Beckwith, Künstlerische Leiterin der der documenta 16, stellt in der documenta-Halle ihr kuratorisches Konzept vor. Die kommende Weltkunstausstellung documenta findet vom 12. Juni bis 19. September 2027 in Kassel statt.
Naomi Beckwith, Künstlerische Leiterin der der documenta 16, stellt in der documenta-Halle ihr kuratorisches Konzept vor. Bild © picture alliance/dpa | Uwe Zucchi

Das hat es so noch nicht gegeben: Mehr als zwei Jahre vor Beginn der documenta 16 in Kassel hat die künstlerische Leiterin Naomi Beckwith ihr kuratorisches Konzept für die Weltkunstausstellung der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei ging es nicht nur um Kunst, sondern auch um Beckwith' Strategien gegen einen erneuten Skandal.

Die Veranstaltung sollte ursprünglich im Kasseler Gloria Kino stattfinden. Wegen "überwältigendem Interesse" hatte das Presseteam den Termin in die documenta-Halle verlegt. Etwa 700 Menschen kamen dorthin. Am Einlass bildeten sich lange Schlangen, die bei Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne) sofort ein "documenta-feeling" auslösten.

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Kuratorisches Konzept der documenta 16 wird öffentlich vorgestellt

Kuratorisches Konzept der documenta 16 wird öffentlich vorgestellt
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Begegnung von globalem Norden und Süden

Beckwith betonte in ihrer Rede die Bedeutung der documenta. Diese sei dazu da, weltweit Beziehungen zu stiften. Auch solche, von denen man vorher nichts gewusst habe. "Unsere unterschiedlichen Identitäten betrachten wir als eine Stärke und nicht als Grund für Spaltung", so Beckwith. Sie wolle Verständnis füreinander wecken, auch wenn man anderer Meinung sei.

Sie sei offen für Debatten und Diskussionen, "aber ich werde keine physische, verbale oder symbolische Gewalt gegen andere dulden", betonte die künstlerische Leiterin. Ihre Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern sei geprägt von "tiefem gegenseitigem Respekt und einer Haltung des Teilens. Beckwith betonte, dass Fragen nach Respekt, Menschenwürde und persönlicher Wertschätzung im Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern und Publikum in ihrer Arbeit einen herausgehobenen Stellenwert genießen.

Bei der kommenden documenta wolle sie durch die Kunst zeigen, was passiert, wenn der globale Norden und der globale Süden sich begegnen. Ihre Geburtsstadt Chicago sei geprägt gewesen von der multikulturellen Gesellschaft und einer interdisziplinären Kunstszene. Während ihrer Rede wurden immer wieder Bilder vergangener Ausstellungen gezeigt oder Kunstwerke, die sie kuratiert hat.

Zitat
Eine der aufregendsten Herausforderungen, die ich mir vorstellen kann. Zitat von Naomi Beckwith, künstlerische Leiterin documenta 16
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Beckwith ist stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin des New Yorker Guggenheim Museums. Die documenta zu leiten, sei "eine der aufregendsten Herausforderungen, die ich mir vorstellen kann", erklärte sie nach ihrem Auftritt. In diesem Sommer will Beckwith nach Kassel ziehen. "Ich freue mich schon sehr darauf, hier zu wohnen", sagte sie.

Vor einem großen Gebäude mit Glasfassade steht eine Menschenschlange
Großes Interesse an der Vorstellung des kuratorischen Konzepts für die documenta 16. Bild © Stefanie Küster (hr)

Kunst- und Kulturminister Timon Gremmels (SPD) sendete Grußworte per Video. Entgegen der Ankündigung konnte er wegen der Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD in Berlin nicht in Kassel sein. Der Minister erwartet 2027 einen künstlerischen Höhepunkt in der documenta-Stadt mit Kunstwerken und vielen Künstlerinnen und Künstlern und "neue Perspektiven, die zum Diskurs anregen".

Schoeller bemühte in seinem Grußwort das Bild der "documenta am Abgrund". Nach der umstrittenen Schau in 2022 habe man sich aus einem Tal herausgearbeitet und "viel dazugelernt". Im Bild eines Berges bleibend sei die beste Nachricht, dass die documenta mit Naomi Beckwith den besten Guide und Bergführer bekommen habe.

"Jede künstlerische Leitung hat eine ganz eigene Persönlichkeit", sagte Schoeller. "Die Einzigartigkeit jeder Persönlichkeit findet Ausdruck in der Ausstellung." Verletzungen als Auswirkung von diskriminierenden Handlungen solle es nicht geben. Was das genau bedeutet, dazu soll es demnach in den kommenden Monaten konkretere Informationen geben.

Eine Frau mit einem blauen Blazer steht auf einer Bühne, hinter ihr ein Bild, das die englischen Worte "Me" und "We" zeigt.
Naomi Beckwith bei der Präsentation ihres kuratorischen Konzepts. Bild © Stefanie Küster (hr)
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Konzept für Kunstschau - und für die Wahrung der Menschenwürde

Dass Beckwith ihr Konzept vorab der breiten Öffentlichkeit präsentieren musste, ist Teil des Code of Conduct, den der Aufsichtsrat nach dem Eklat bei der documenta fifteen beschlossen hatte.

Dieser Verhaltenskodex hatte im Vorfeld für viel Kritik gesorgt - vor allem, weil er zunächst auch für die künstlerische Leitung gelten sollte. Von diesem Plan war der Aufsichtsrat dann abgerückt und hatte damit der Kunstfreiheit offenkundig ein großes Gewicht zugerechnet.

Festgelegt wurde aber, dass die künstlerische Leitung im Vorfeld der Öffentlichkeit ihr Konzept präsentieren muss. Dies beinhalte laut Aufsichtsrat eine Darlegung darüber, "welches Verständnis sie von der Achtung der Menschenwürde hat und wie deren Wahrung auf der von ihr kuratierten Ausstellung sichergestellt werden soll".

Vor einem großen Gebäude mit einer Glasfassade warten unzählige Menschen auf den Einlass
Lange Schlangen bei der Präsentation des kuratorischen Konzepts für die documenta 16. Bild © Stefanie Küster (hr)

documenta 16 ohne Skandal?

Null Toleranz für Rassismus, Antisemitimus und jegliche Form von Diskriminierung bei der documenta 16 - mit dieser Ansage hat Naomi Beckwith bereits bei ihrer Antrittsrede im Dezember letzten Jahres klargemacht: Einen Skandal wie bei der vergangenen documenta in 2022 soll es mit ihr nicht geben.

Die 49-Jährige war auf das indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa gefolgt, das die umstrittene documenta fifteen im Jahr 2022 kuratiert hatte. Die Schau war von massiven internationalen Antisemitismus-Diskussionen überschattet worden.

Bereits vor Beginn waren Stimmen laut geworden, die Ruangrupa und einigen eingeladenen Künstlern eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung wurde eine Arbeit mit antisemitischer Bildsprache entdeckt und abgehängt. Später lösten weitere Werke scharfe Kritik und Forderungen nach einem Abbruch aus.

Die nächste Weltkunstschau findet vom 12. Juni bis zum 19. September 2027 statt. Kassel verwandelt sich dann wieder in die weltweit bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst und empfängt ein internationales Publikum. 

Weitere Informationen

Weltkunstausstellung documenta

Die documenta fand erstmals 1955 statt, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals organisierte der Kasseler Maler und Akademieprofessor Arnold Bode im zerstörten Museum Fridericianum eine umfassende Übersichtsausstellung zur europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Sein Ziel war es, die während des Nationalsozialismus als entartet diffamierten Künstler zu rehabilitieren und Deutschland in die Reihe der Kulturnationen zu integrieren.

Seither hat sich die documenta im zunächst vier-, später fünfjährigen Rhythmus zur weltweit bedeutendsten Ausstellungsreihe für Gegenwartskunst neben der Biennale in Venedig entwickelt. Seit 1972 kuratieren wechselnde künstlerische Leitungen die Ausstellung. Sie werden jeweils von einer international besetzten Findungskommission bestimmt.

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Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de, dpa/lhe