Einzigartiges Projekt im Staatstheater Wiesbaden Audiobeschreiber erzählen Tanzvorführungen für blinde Besucher

Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen können Tanz-Aufführungen bisher kaum umfassend erleben. Die Tanzplattform Rhein-Main hat darum eine deutschlandweit einzigartige Ausbildung ins Leben gerufen. Der Abschluss ist jetzt am Staatstheater Wiesbaden zu erleben.

Drei Männer tanzen auf einer Bühne. Sie und der Hintergrund sind schwarz. Die Männer tragen enge Glitzeranzüge und graue Shorts.
Für die Premiere von "Chronicles" des Hessischen Staatsballetts zeigen Tänzer aus dem zeitgenössischen Tanz verschiedene Choreographien. Mit Kopfhörern wird das Stück auch für nicht-sehende Menschen ästhetisch erfahrbar gemacht. Bild © picture alliance/dpa | Helmut Fricke

Wie beschreibt man Tanz in Worten? Dazu noch in Echtzeit? Anders als für Kinofilme und Theaterstücke, wofür in den letzten Jahren immer mehr Audiodeskriptionen angeboten werden, gibt es bei Tanzaufführungen bisher kaum sprachliche Begleitung für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen.

Das könnte daran liegen, dass "Tanz per se als visuelle Kunst wahrgenommen wird", sagt Lea Gockel, zuständig für die Koordination von Barrierefreiheit im Künstler*innenhaus Mousonturm in Frankfurt.  

Premiere im Staatstheater Wiesbaden: eine Live-Audiodeskription

Eine Frau sitzt in einem Glaskasten vor einem Laptop und liest einen Text ab. Auf dem Kopf hat sie einen Kopfhörer, in einer Hand ein Mikro.
Jasmin Schädler, Audiodeskriptions-Autorin, bei der Probe für den Tanzabend "Chronicles" des Hessischen Staatsballetts. Bild © picture alliance/dpa | Helmut Fricke

Um dem Mangel zu begegnen hat die Tanzplattform Rhein-Main mit Unterstützung von Lea Gockel ein deutschlandweit einzigartiges Pilotprojekt ins Leben gerufen: eine qualifizierte Ausbildung für Autor*innen von Tanz-Audiodeskription.

Die Ausbildung läuft seit November 2024, der Abschluss ist jetzt als Premiere am Staatstheater Wiesbaden zu erleben: eine Live-Audiodeskription, als eine Simultanbeschreibung, des neuen Stücks "Chronicles" vom Hessischen Staatsballett.

Weitere Informationen

Wann? Wo?

Premiere des Hessischen Staatsballetts „Chronicles“ am Sonntag, den 16. Februar um 18:00 Uhr im Großen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden

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Bildhafte Beschreibung von Geschehen auf der Bühne

Kreativ werden, hieß es in der Ausbildung: Eine Tänzerin stemmt sich empor, "als wolle sie der Schwerkraft trotzen" - heißt es etwa in der Audiodeskription von "Chronicles". Blinde und sehbeeinträchtigte Besucher*innen erhalten per Kopfhörer live bildhafte Beschreibungen von dem, was auf der Bühne passiert. Die Person, die die Audiodeskription vorliest - basierend auf einem festen Skript - sitzt in einer verglasten Kabine am Rand des Zuschauersaals. 

"Aber, wenn jetzt live irgendwas passiert, was jetzt nicht vorhersehbar ist, dann wird darauf trotzdem eingegangen", erläutert Mella Hambrecht, die als eine von zwei blinden Autor*innen und einer sehenden Kollegin den neuen Lehrgang leitet. Für den ersten Durchlauf bewarben sich 40 Interessierte, neun davon wurden als Auszubildende in die Kunst der Audiodeskription eingeweiht, eingeteilt in Dreierteams aus sehenden und sehbeeinträchtigten Autor*innen. 

Sonnenaufgang ist nicht gleich Sonnenaufgang

Mann und Frau sitzen an Tisch und reden.
Lea Gockel und Fabian Lilian Korner leiten und beraten die Ausbildung für die Audiodeskription des Staatstheaters. Mit Kopfhörern wird das Stück "Chronicles" auch für nicht-sehende Menschen ästhetisch erfahrbar gemacht. Bild © picture alliance/dpa | Helmut Fricke

Kreative Audiodeskriptions-Texte für Tanzstücke zu erstellen, sei eine große Herausforderung, erläutert Lea Gockel vom Mousonturm Frankfurt, denn es gehe darum, eine Sprache zu finden, die die Bewegungen, räumlichen Eindrücke und Licht-Stimmungen für Menschen beschreibt, die teils nicht auf optisches Erfahrungswissen zurückgreifen können.

Gockel nennt als Beispiel, dass die Farben auf der Bühne zum Farbspektrum eines Sonnenaufgangs wechseln: "Dann haben wir als sehende Menschen ein Gefühl und ein Bild im Kopf. Wenn ich eine geburtsblinde Person bin, ist das kein Automatismus in meiner Erfahrungswelt, weil ich noch nie einen Sonnenaufgang gesehen habe."

Wichtig: "Viele Adjektive finden"

Darum sei es zentral, dass eine blinde Perspektive schon bei der kreativen Entstehung der Texte dabei sei. In ihren Dreierteams wurden die sehenden und nicht-sehenden Autor*innen angehalten, für das Tanzstück „Chronicles“ eine gemeinsame poetische Sprache für Bewegungen und Stimmungen zu finden, erklärt Lea Gockel, die über eine "rein technische Beschreibung von Bewegungen" hinausgeht.

Die blinde Ausbilderin Mella Hambrecht des neuen Lehrgangs Audiodeskription ergänzt: "Ich lasse mir genau beschreiben, was man sieht. Dann versuchen wir, die Bewegungsqualitäten in dem Stück rauszufinden und die Stimmung rüberzubringen." Ein wichtiger sprachlicher Schlüssel sei es, "viele Adjektive zu finden - und auch Vergleiche zu finden mit Dingen, die Leute schon kennen: dass Arme sich wie Flügel bewegen beispielsweise." 

Das Ziel: ein gleichwertiges ästhetische Erlebnis

Am Ende gehe es aber nicht darum, sehenden und blinden Personen ein gleiches Erlebnis, ein "gleiches Wahrnehmen" zu ermöglichen, betont Mella Hambrecht. Die kreative Audiodeskription mit ihrer poetischen Sprache solle vielmehr, sagt auch Lea Gockel, ein sinnliches und „gleichwertiges ästhetisches Erlebnis“ ermöglichen. 

Dafür sei auch wichtig, einfach mal nichts zu sagen, so Hambrecht: "Die sehende Person würde dann gerne sehr viel beschreiben, aber es sind Dinge auf der Bühne oft schon zu hören, also wie sich die Leute bewegen oder wie die Tänzerinnen atmen." Damit sie die Geräusche auf der Bühne direkter und besser wahrnehmen können, werden blinde und sehbeeinträchtigte Menschen deswegen auch möglichst weit vorne an der Bühne platziert. 

Beteiligte wurden auch körperlich aktiv 

Um das Skript einer Audiodeskription für eine Aufführung zu erstellen, waren die Autor*innen-Teams regelmäßig bei den Proben von "Chronicles" dabei und standen in engem Austausch mit den Choreograf*innen. Sie haben sich den Choreografien "auch körperlich" genähert, erklärt Lea Gockel, "haben selbst getanzt und Bewegungen ausprobiert." Es gehe darum, zu verstehen "wie fühlt sich etwas an". 

Alle Teilnehmer*innen des neuen Ausbildungslehrgangs haben unterschiedliche Hintergründe, von einer sehbehinderten Physiotherapeutin bis zur sehenden Choreografin, die Barrierefreiheit besser verstehen und in ihren Stücken umsetzen möchte. 

Tanzstück wird fester Bestandteil des Staatstheaters

Am Ende hat die Zusammenarbeit auch die Dramaturgie des Stückes selbst beeinflusst. "Dass zum Beispiel eine Situation länger steht, oder Musik erst später einsetzt, weil dann die Audiodeskription fertig ist", verrät Mella Hambrecht.

Zu sehen ist das Ergebnis jetzt in Wiesbaden. Es verspricht eine dauerhafte Bereicherung zu werden, denn das Tanzstück "Chronicles" wird fester Bestandteil des Programms am Staatstheater.

Redaktion: Sonja Fouraté

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de