Erinnerung neu gedacht Der Animationsfilm "Wo ist Anne Frank" holt Geschichte ins Jetzt
Anne Franks Tagebuch ist weltberühmt. In dem Buch vertraute sich das jüdische Mädchen aus Frankfurt ihrer imaginären Freundin Kitty an. Ein Animationsfilm erweckt Kitty jetzt zum Leben - und verknüpft Geschichte auf originelle Weise mit der Gegenwart.
Es ist ein stürmischer Morgen, als im Anne-Frank-Haus in Amsterdam Kitty zum Leben erwacht. Wie von Zauberhand wächst aus den Zeilen des berühmten Tagebuchs die Figur eines Teenagers mit roten Haaren, strahlendem Gesicht und blauen Augen. So wie ihre Schöpferin Anne Frank sie beschrieben hat, steht die nun lebendige Kitty plötzlich im menschenleeren Museum. So startet der Animationsfilm "Wo ist Anne Frank".
Kitty weiß nicht, was sich nach dem letzten Tagebucheintrag ereignet hat. Für sie ist die Zeit stehen geblieben. Nach und nach begreift sie, dass aus ihrer Erfinderin eine Berühmtheit geworden ist: Straßen, Schulen und Theater sind nach Anne Frank benannt. Von Anne selbst fehlt aber jede Spur.
Zufällig lernt Kitty Peter kennen, einen Jungen, der sich für Geflüchtete einsetzt. Mit ihm und dem Tagebuch macht sie sich auf die Suche nach Anne Frank – und wird schnell zur Gejagten, weil sie mit Anne Franks Tagebuch einen nationalen Schatz bei sich trägt. Doch ihre Existenz ist daran gebunden, entfernt sie sich davon, dann löst sie sich auf.
Gegen das Vergessen: Geschichte animieren
Zehn Jahre hat es gedauert, bis der Film "Wo ist Anne Frank" auf die Leinwand kam. Die Idee stammte vom Anne Frank Fonds in Basel, damals noch unter der Leitung von Anne Franks Cousin Buddy Elias. Gesucht war eine neue Erzählform, die junge Menschen auch heute noch erreicht und mit der Geschichte des jüdischen Mädchens vertraut macht.
Die Lösung: ein Animationsfilm. Der israelische Regisseur und Drehbuchautor Ari Folman hat diese Idee umgesetzt, er gilt als Meister der Animation. Sein gezeichneter Dokumentarfilm "Waltz with Bashir" erhielt eine Oscar-Nominierung und den Europäischen Filmpreis.
Die Entstehung von Kitty: eine Brücke in die Gegenwart
Ari Folman reizte die Vorstellung, die Geschichte von Anne Frank weiterzuerzählen und eine Brücke in die Gegenwart und Zukunft zu schlagen. Dabei wollte er nicht erziehen, sondern "einen richtig schönen Film machen", wie der Regisseur im Gespräch mit dem hr erzählt. Er habe einen Coming-of-Age-Film über ein Mädchen und seine imaginäre Freundin machen wollen.
Trotz des schweren Themas ist der Film unterhaltsam und kurzweilig, ohne dabei oberflächlich zu wirken. Er variiert in Geschwindigkeit und Tiefe. Rückblenden in die Lebenszeit von Anne Frank zeigen düstere Szenen, in denen gesichtslose Gestapo-Einheiten durch die Stadt patrouillieren, kontrastiert von der Leichtigkeit heutiger Jugendkultur.
Das Grauen der Konzentrationslager bleibt eher angedeutet und wird überschrieben durch mythische Vorstellungen vom Tod, wie Anne Frank sie in ihrem Tagebuch beschrieb.
Kitty als Annes Alter Ego
Eindrucksvoll illustriert wurde der Film von Lena Guberman. Fast 160.000 Zeichnungen der Illustratorin sind in dem Film verarbeitet. Anne Frank hatte ihre imaginäre Freundin Kitty ziemlich genau beschrieben: den Gesichtsausdruck, die Nase, die Augen, die Art zu lächeln und wie sie sich bewegt. Guberman hat ihr ein Gesicht gegeben und die Figur zum Leben erweckt. Regisseur Ari Folman habe die entsprechenden Stellen im Tagebuch etwa 50 mal gelesen, erzählt er.
Wie eine Anleitung für einen Designer sei ihm das vorgekommen. Und als er die gezeichnete Kitty zum ersten Mal am Computer gesehen habe, wusste er: Kitty erzählt die Geschichte! Für ihn ist Kitty ein Alter Ego von Anne Frank. Das, was Anne nicht sein konnte, weil sie sich verstecken musste: "Ein Rebell, ein freier Geist, jemand, der wegrennen kann", sagt Regisseur Folman.
Ein Abenteuer im heutigen Amsterdam
Und rennen muss Kitty oft. Der Film zeigt sie bei wilden Verfolgungsjagden auf Schlittschuhen durch das winterliche Amsterdam. Die ganze Stadt sucht das wertvolle Buch, ohne das Kitty nicht leben kann. Kitty wiederum sucht Anne. Indem der Film ihren Spuren folgt, wird die Geschichte von Anne Frank und ihrer Familie über das Tagebuch hinaus weitererzählt.
Schließlich erfährt Kitty vom Auffliegen des Verstecks im Hinterhaus und dass Anne Frank und ihre Familie mit dem letzten Zug ins Konzentrationslager Auschwitz transportiert wurden. Und dass Anne und ihre Schwester Margot schließlich im KZ Bergen-Belsen an Unterernährung und Krankheiten starben, kurz vor der Befreiung des Lagers.
Geschichte weiterschreiben und nahbar machen
Auch die Eltern von Regisseur Folman waren in Auschwitz. Sie kamen zur gleichen Zeit im Vernichtungslager an wie die Familie Frank, von der nur der Vater Otto Frank überlebt hat. Folman sagt, dass er mit dem Film "Wo ist Anne Frank" auch das Werk von Otto Frank weiterführen wollte, nämlich auf das Schicksal von Kindern in Kriegsgebieten aufmerksam machen.
Während Ari Folman das Drehbuch schrieb, seien die Ausmaße der weltweiten Fluchtbewegungen deutlich sichtbar gewesen und hätten ihm die Idee gegeben, wie die Geschichte von Anne Frank weitererzählt werden kann. Eine Geschichte, die vielleicht sogar junge Menschen dazu bringe, aktiv zu werden.
Kitty will Annes Vermächtnis umsetzen
Im Film trifft Kitty durch Peter auf Geflüchtete, die illegal im Land sind. Kitty nutzt das Tagebuch, um sie vor der Abschiebung zu retten. Und um der aufgeregten Öffentlichkeit, die es nur auf das Tagebuch abgesehen hat, klarzumachen: Es geht nicht darum, Anne Frank zu verehren, sondern ihr Vermächtnis in die Tat umzusetzen und Menschen in Not zu helfen.
"Tu alles, um eine einzige Menschenseele zu retten!", sagt Kitty in der Geschichte. "Schon eine einzelne Kinderseele ist so viel wert wie ein ganzes Leben".
Sendung: hr-iNFO, 23. Februar 2023, 7.10 Uhr
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