Historisches Museum Frankfurt Sind wir die Zeitzeugen der Zukunft?

Krieg, Corona, Klimakrise: Ist man automatisch Zeitzeuge, wenn man prägende Ereignisse miterlebt hat? Im Rahmen des "Stadtlabors" des Historischen Museums Frankfurt haben sich 25 Menschen unterschiedlichen Alters mit dieser Frage beschäftigt.

Zeitzeugen Ausstellung Historisches Museum
Blick in die Ausstellung "Zeitzeugenschaft? Ein Erinnerungslabor" im Historischen Museum Frankfurt Bild © Stadt Frankfurt
  • Link kopiert!

Zwei nachgebaute Paternosterkabinen, dahinter eine Leinwand. Ganz langsam steigen Fotos auf, als fahre die Kabine in verschiedene Stockwerke. Die Geschichtsstudentin Inga Steinhauser steht im Aufzug und hält sich einen kleinen Lautsprecher ans Ohr.

Wer in diesen Paternoster steigt, begibt sich auf eine Zeitreise: Da ist Gemurmel in einem gefüllten Vorlesungssaal, die Ansage der U-Bahnstation "Holzhausenstraße", Bilder von der Goethe-Universität in Frankfurt.

Fast wie bei einem Hörspiel vermischen sich verschiedene Klangwelten und Zeitebenen. Stimmen von Studierenden beschreiben zunächst den Uni-Alltag während der Corona-Pandemie, dann springt die Erzählung in das Jahr 1960. Ein Student berichtet von einer Adorno-Vorlesung, von der er "allerdings so gut wie nichts verstanden" habe.

Audiobeitrag
Bild © Christiane Schwalm (hr)| zur Audio-Einzelseite
Ende des Audiobeitrags

"Stadtlabor" wird zum "Erinnerungslabor"

Inga Steinhauser gehört zu einer Gruppe von Geschichtsstudierenden der Goethe-Uni, die beim "Stadtlabor" des Historischen Museums mitgemacht haben. Frankfurterinnen und Frankfurter konnten sich dafür bewerben, um gemeinsam über den Begriff "Zeitzeuge" nachzudenken. Im Januar dieses Jahres starteten schließlich 25 Teilnehmende mit regelmäßigen Workshops in die Projektarbeit.

Das "Stadtlabor" des Historischen Museums gibt es seit 2010. Frankfurter und Frankfurterinnen erforschen dafür gemeinsam mit dem Museum unterschiedliche Themenschwerpunkte ihrer Stadt. Seit der Neueröffnung 2017 werden die Ergebnisse in einer Ausstellung im Bereich "Frankfurt Jetzt!" im Historischen Museum gezeigt.

Zu Beginn des Projekts sei erst einmal darüber gesprochen worden, was einen Menschen überhaupt zum Zeitzeugen mache, sagt Angela Jannelli aus dem Kuratoren-Team. Die Teilnehmenden seien sich einig gewesen, dass ein Zeitzeuge etwas Bedeutendes erlebt haben müsse. Auch der emotionale Aspekt sei ihnen wichtig gewesen: "Also: Wie fühlt sich diese Geschichte an?", erklärt Jannelli.

Das Bild zeigt zwei der drei Kuratoren der Ausstellung "Zeitzeugen? Ein Erinnerungslabor" im Historischen Museum Frankfurt. Zu sehen sind ein älterer Mann mit Halbglatze und runder Brille und eine ältere Frau mit halblangen grauen Haaren und einer royalblauen Jacke.
Angela Jannelli und Gottfried Kößler vom Kuratoren-Team. Nicht im Bild: Kuratorin Jasmin Klotz. Bild © Christiane Schwalm (hr)

Elf Beiträge sind aus dem Projekt hervorgegangen. Sie sind jetzt in der Ausstellung "Zeitzeugenschaft? – Ein Erinnerungslabor" zu sehen. Grundlage der Arbeiten ist die "Bibliothek der Generationen" im Historischen Museum, die in diesem Jahr ihr 25-jähriges Jubiläum feiert. Das Stadtarchiv der anderen Art bewahrt etliche Erinnerungsboxen auf, die mit wissenschaftlichen, künstlerischen oder biografischen Beiträgen zu Frankfurt gefüllt sind.

Das Erinnerungsprojekt will 105 Jahre lang unterschiedliche Beiträge mit Bezug zur Stadt Frankfurt archivieren. Initiiert wurde die "Bibliothek der Generationen" von der Künstlerin Sigrid Sigurdsson. Die Beiträge decken ein breites Spektrum ab, das von autobiografischen und künstlerischen Arbeiten bis hin zu wissenschaftlichen Darstellungen reicht. Jeder oder jede kann die Autorenschaft eines solchen Beitrags übernehmen und eine Box füllen. Ziel des Projekts ist es, die Geschichte der Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven kennenzulernen und Generationen zu verbinden. Jeden Dienstag um 14.30 Uhr bieten Ehrenamtliche einen Einblick in die Bibliothek.

Uni-Leben, Migration, Aktivismus

"In der Erinnerungsbox, die wir uns ausgesucht haben, war eigentlich gar nicht so viel drin", sagt Studentin Inga Steinhauser. Nur ein dickes Buch. Es sind die autobiografischen Erinnerungen des ehemaligen Frankfurter Studenten Ernst Neubronner aus den 1960er Jahren. "Er hat sehr alltagsbezogen von seinem Studium erzählt", sagt Steinhauser. Das habe die Gruppe zum Nachdenken angeregt: Was würden sie selbst von ihrem Studium erzählen?

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht von "Zeitzeugen? Ein Erinnerungslabor" im Historischen Museum Frankfurt. Zu sehen sind zwei nachgebaute Paternoster, im Hintergrund läuft eine Foto-Show auf einer Leinwand.
Kuratorin Angela Jannelli und die Studierenden Inga Steinhauser und Peer Groß zeigen die Inspiration für die nachgebauten Paternoster: eine Erzählung über das Studieren in den 1960er Jahren. Bild © Christiane Schwalm (hr)

Die subjektiven Überlieferungen in der "Bibliothek der Generationen" seien Anlass für die Teilnehmenden des Stadtlabors gewesen, ihre eigene Sicht auf die Gegenwart zu reflektieren, erläutert Kurator Gottfried Kößler.

Die Ergebnisse sind vielfältig: Es geht um Migration und Aktivismus, um die Veränderung von Orten, Kindererziehung, Queerness, Krieg und Künstliche Intelligenz. Jeder Laborant und jede Laborantin habe sich das herausgesucht, wo er oder sie emotional andocken konnte, so Kößler.

Verantwortung für Zukunft nicht bei Zeitzeugen

Im Fall der Paternoster-Arbeit von Steinhauser und ihren Mitstudierenden war das das Leben an der Universität. Im angedeuteten fünften Stockwerk fragt eine Stimme aus dem Lautsprecher, ob das Einfangen von Alltagsmomenten schon Zeitzeugenschaft sei. Inga Steinhauser beantwortet die Frage mit einer Gegenfrage: "Sind diese Alltagsmomente wichtig genug? Wollen sich das Leute später anhören?" Das könne sie selbst nicht beantworten.

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht von "Zeitzeugen? Ein Erinnerungslabor" im Historischen Museum Frankfurt. Zu sehen ist ein in der Mitte gespaltener Holztisch, der mit kaputtem Geschirr gedeckt ist. Im Hintergrund zeigt eine Fotocollage Eindrücke vom Krieg in der Ukraine.
Ein Projektbeitrag befasst sich mit dem Ukraine-Krieg. Bild © Christiane Schwalm (hr)

Die Stadtlaboranten waren sich den Kuratoren zufolge einig: Zum Zeitzeugen wird man von anderen ernannt. Oft gehe für die Allgemeinheit mit dieser Ernennung aber eine große Verantwortung einher, sagt Gottfried Kößler. Dabei müsse man "sich selbst für seine Zukunft einsetzen".

Diese Erkenntnis aus der Projektarbeit sei den Teilnehmenden des Stadtlabors sehr wichtig gewesen: Zeitzeugen seien bedeutend für unsere Gegenwart, doch die Verantwortung für unsere Zukunft liege immer noch bei uns selbst.

Weitere Informationen

Wanderausstellung "Ende der Zeitzeugenschaft?"

Parallel zum "Erinnerungslabor" zeigt das Historische Museum bis 4. Mai 2025 die Wanderausstellung "Ende der Zeitzeugenschaft?". Sie wurde vom Jüdischen Museum Hohenems (Österreich) und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Bayern) erarbeitet und beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte des Zeitzeugen – vom juristischen Prozesszeugen 1944 bis zu der Rolle, wie wir sie heute kennen. Die Frankfurter Adaption ist in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut entstanden.

Ende der weiteren Informationen

Redaktion: Anna Lisa Lüft

Sendung: hr2,

Quelle: hessenschau.de