Interview zum Kinostart am 30. Januar Filmdrama "Gotteskinder" zeigt Leid und Unterdrückung streng religiöser Erziehung
Freikirche, religiöser Fundamentalismus und verzweifelte Teenager: In ihrem Kinofilm "Gotteskinder" verzichtet die Regisseurin Frauke Lodders auf ein Happy End. Für die Recherche zu diesem Drama ist die Kasselerin tief in die Szene eingetaucht, wie sie im hessenschau.de-Interview erzählt.
Regisseurin Frauke Lodders aus Kassel erzählt in ihrem Drama "Gotteskinder" (Kinostart am 30. Januar) eine Coming-of-Age-Geschichte vor dem Hintergrund einer fundamentalistischen Freikirche:
Die Teenager Hannah und Timotheus wachsen in einer streng evangelikalen Familie auf, die Intimität vor der Ehe und Queerness als Sünde begreift. Als Hannah sich verliebt und Timo homosexuelle Neigungen entwickelt, geraten beide mit ihrer Religion, der Gemeinde und den Eltern in existenzielle Konflikte.
Warum ein Happy End im Film nicht möglich war, sie alles in und um Kassel gedreht hat und sie bei ihrer Recherche bei den fundamentalen Christen auch Halt gefunden hat, erzählt die Regisseurin von "Gotteskinder" im hessenschau.de-Interview.
Die Fragen stellte Juliane Orth
Ende der weiteren Informationenhessenschau.de: Wie kamen Sie auf das Thema der "Gotteskinder"?
Frauke Lodders: Ich habe vor einigen Jahren den Dokumentarfilm "Virgin Tales" gesehen. Darin wurde eine Familie in den USA begleitet, die streng gläubig war und bei der man das Gefühl hatte, auch alle Kinder stehen zu 100 Prozent dahinter.
Ich habe mich gefragt, was eigentlich passiert, wenn eines dieser Kinder da nicht mehr reinpasst. Und da hatte ich dann die Idee für "Gotteskinder", dachte aber, das funktioniert in Deutschland nicht, weil es das hier ja gar nicht gibt.
hessenschau.de: Und jetzt haben Sie diesen Film gemacht. Gibt es das hier also doch?
Frauke Lodders: Ein, zwei Jahre später wurde ich von zwei Studentinnen auf der Straße angesprochen, die für ihre Freikirche missioniert haben. Ich habe gemerkt, dass diese Gemeinde einfach wahnsinnig groß ist. Und diese Religiosität gibt es in Deutschland auch in einer sehr radikalen fundamentalistischen Ausrichtung. Ich wollte davon erzählen, wie das ist, wenn man in so einem Mikrokosmos aufwächst und irgendwann einfach nicht mehr reinpasst. Und ich durfte dank einer Drehbuchförderung ein Jahr sehr intensiv recherchieren.
hessenschau.de: Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen?
Frauke Lodders: Ich habe mir in Kassel, wo ich wohne, nur Infomaterial geben lassen und nicht in der dortigen Gemeinde recherchiert - einfach auch aus Sicherheitsgründen. Auch wollte ich nicht in meinem Privatleben angesprochen werden von Gemeindemitgliedern. Ich habe in anderen Städten recherchiert. Und da bin ich schon sehr stark missioniert worden auf jede erdenkliche Weise.
hessenschau.de: Wie sind Sie reingekommen in die Gemeinschaft?
Frauke Lodders: Meine erste Berührung war eine Gemeinde, die eine "Holy Spirit Night" veranstaltet hat. Das ist eine auf junge Menschen ausgerichtete Party. Es kommen Speaker, die über den Glauben sprechen, dann spielen Bands und es wird auch getanzt und zusammen gebetet und die Stimmung ist sehr gut.
Ich habe herausgefunden, dass die Gemeindemitglieder vorher in ihrer Stadt dafür werben und bin gezielt mit meinem Freund vorbeigelaufen. Wir wurden sofort angesprochen und wurden dann getrennt. Mit meinem Freund wurde dann eher auf so einer pseudowissenschaftlichen Ebene gesprochen und mit mir als Frau eher auf einer emotionalen Ebene.
hessenschau.de: Was waren die Methoden, um Sie zu überzeugen?
Frauke Lodders: Mir wurde etwa gesagt, dass mir alles verziehen wird, auch an sexueller Sünde, die ich vielleicht schon mal begangen hätte, wenn ich zu ihnen komme.
Es waren einfach sehr, sehr viele Gespräche. Sehr schnell wird eine Hand aufgelegt, sehr oft in den Nacken. Es wird für einen gebetet, man wird eingeladen in Hauskreise, zu Veranstaltungen. Man wird immer wieder sehr, sehr schnell dazu gedrängt, so ein Glaubensgelübde abzulegen.
hessenschau.de: In Ihrem Film ist Homosexualität ein Thema. Wie haben Sie das in Ihre Recherche eingebaut?
Frauke Lodders: Als ich so ein bisschen ein Gefühl dafür hatte, wie diese Gemeinden funktionieren, habe ich auch Kontakt zu sogenannten Konversionstherapeuten gesucht. Und habe sie angeschrieben unter dem Vorwand, ich wäre verheiratet und hätte jetzt Gefühle für eine neue Arbeitskollegin.
Mir wurde gesagt, dass das ein sehr ernsthaftes Problem ist, es wäre eine Krankheit, von der ich befallen wäre oder wahlweise Dämonen, die von mir Besitz ergriffen hätten. Also ich habe da wirklich schlimme Sachen gehört. Es gibt tatsächlich auch solche Einzelsitzungen, wie ich sie im Film zeige. Alles, was da gesagt wird, wurde während der Recherche zu mir gesagt.
hessenschau.de: Können Sie sich gut vorstellen, dass man leicht reingezogen wird in so eine fundamentalistische Freikirche?
Frauke Lodders: Ja. Ich glaube, wenn man zum Beispiel in einer Extremsituation ist und nach Halt sucht, dann kann man schnell reingezogen werden, weil da Menschen sind, die sich Zeit für einen nehmen, die einem zuhören.
Mir ging es auch nicht so gut während der Recherche und dann ist da jemand, der sehr, sehr wachsam war und das gesehen hat und meinte, ‘Du musst mir gar nicht sagen, was gerade bei dir nicht stimmt, aber wenn es für dich okay ist, sitze ich einfach hier neben dir und bete still für Dich, damit du nicht allein bist.‘ Und das war natürlich total berührend.
hessenschau.de: Und auch sonst haben die Glaubensgemeinschaften ja einiges im Angebot.
Frauke Lodders: Es gibt einen starken gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Und die Gottesdienste sind natürlich auch spannend. Die Musik ist gut und modern. Also vor allem Jugendliche werden angesprochen. Es gibt auch Apps oder Influencer, die auf YouTube werben. Man sieht auch nicht immer sofort, welche Art von Freikirche das ist, weil es ja auch Freikirchen gibt, die total in Ordnung sind, die total weltoffen und liberal sind. Und wenn man innerhalb des Systems immer funktioniert und nicht aneckt, kann man selbst in einer fundamentalistischen Freikirche ein sehr schönes Leben haben.
hesssenschau.de: Bei Ihren Protagonisten hat das nicht geklappt. Wie groß ist tatsächliche die Bedeutung von fundamentalistischen Freikirchen in unserer Gesellschaft?
Frauke Lodders: Ich glaube, die Bedeutung ist viel größer, als wir denken. Die Gemeinden sind riesig. Als ich angefangen habe zu recherchieren, waren es ungefähr 1,5 Millionen Mitglieder. Das war 2018. Die Zahlen steigen stetig.
hessenschau.de: Wie erklären Sie sich das?
Frauke Lodders: Ich glaube, dass das total relevant ist, weil diese Kirchen ähnlich wie auch rechte Gruppen sehr einfache Antworten auf komplexe Fragen geben und man sich davon sehr schnell angezogen fühlen kann.
Es geht aber sehr oft einfach mit einer Diskriminierung von Minderheiten einher. Und ich halte das besonders in unserer heutigen Gesellschaft für unabdingbar, sich damit zu beschäftigen. Wir haben überhaupt nicht auf dem Schirm, dass es diese Strömung gibt. Und der Film macht jetzt erst mal aufmerksam darauf und stellt das zur Diskussion.
hessenschau.de: Ihr Film endet tragisch in zweierlei Hinsicht. Warum haben Sie die Geschichte nicht gut ausgehen lassen und der Liebe eine Chance gegeben?
Frauke Lodders: Ein Happy End wäre unehrlich gewesen den Figuren gegenüber. Ich habe in der Recherche sehr viel mit Aussteigern zu tun gehabt. So ein Ausstieg dauert Jahre und verläuft auch nicht linear.
Ein Happy End hätte dem Film die Wucht genommen. Denn die wenigsten schaffen den Ausstieg aus solchen Strukturen. Man muss sich vorstellen, man hat seine gesamte Familie in dieser Gemeinde, alle seine Freunde, das gesamte Leben. Wer aussteigt, verliert alles. Und das ist einfach ein sehr, sehr harter Weg. Ich wollte keine Aussteigergeschichte erzählen, weil das der Ausnahmefall ist. Mein Film handelt vom Regelfall.
hessenshau.de: Der Film spielt in Nordhessen. An welchen Orten haben Sie gedreht?
Frauke Lodders: Wir haben komplett in Hessen gedreht. Das war mir sehr wichtig, weil ich ja selber aus Hessen komme und weil die Orte noch nicht so filmisch abgegriffen sind. Wir haben in der Kasseler Innenstadt gedreht, in Kassel-Calden stand das Haus der Familie. Wir haben in Baunatal gedreht, in der Rundsporthalle, also eigentlich alles in und um Kassel.
hessenschau.de: Die meisten Filmschaffenden gehen nach Berlin oder München. Sie stammen aus Kassel und leben und arbeiten dort. Warum?
Frauke Lodders: Ich bin in Kassel geboren und aufgewachsen und habe auch hier an der Kunsthochschule studiert. Wegen meiner Familie und meinen Freunden wäre es mir schwergefallen, diese Stadt zu verlassen. Und irgendwie hat es sich dann auch als positiv herausgestellt, zu bleiben: Ich habe eine ganz gute Beziehung zur Hessenfilm, der hessischen Filmförderung, die ja auch den Großteil von "Gotteskinder" finanziert hat. Außerdem ist man sowohl in München als auch in Berlin sehr, sehr schnell mit dem Zug.
hessenschau.de: Was ist Ihr nächstes Projekt?
Frauke Lodders: Ich habe tatsächlich eine neue Drehbuchförderung bekommen, auch wieder von der Hessenfilm. Und da schreibe ich über die Traumaverarbeitung nach einem Terroranschlag. Ich hoffe, dass das mein nächster Film sein wird und freue mich darauf, mich jetzt mit neuen Figuren beschäftigen zu können.