Initiative sieht Kunstfreiheit bedroht  Debatte um documenta in Kassel reißt nicht ab

Nach dem Eklat bei der documenta 15 soll ein Verhaltenskodex bei der nächsten Weltkunstschau Diskriminierung und Antisemitismus verhindern. Gegen das Papier regt sich Widerstand. Kritiker befürchten, dass die Einflussnahme internationale Künstler abschreckt. 

Am Tag nach dem regulären Ende der documenta fifteen übermalt ein Mitarbeiter einer Malerfirma die Säulen des Fridericianums, die der rumänische documenta-Teilnehmer Dan Perjovschi mit Botschaften und Illustrationen bemalt hatte.
Zu Ende oder am Ende: Am Tag nach dem regulären Ende der documenta fifteen übermalt ein Mitarbeiter einer Malerfirma die Säulen des Fridericianums. Bild © picture-alliance/dpa
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documenta – Diskussion über Verhaltenskodex

Wendelin Göbel von der Initiative "stand with documenta"
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Ein erst verhülltes und später abgebautes Kunstwerk, weitere antisemitische Werke und eine zurückgetretene Findungskommission, die den documenta-Standort Deutschland anzweifelt: Die Diskussion rund um die weltgrößte Kunstschau in Kassel hat monatelang für Aufregung gesorgt - und kommt auch jetzt nicht zur Ruhe.  

Im Dezember war der "Code of Conduct", ein Verhaltenskodex gegen Antisemitismus für Geschäftsleitung und Künstlerische Leitung, veröffentlicht worden. Eine Managementberatung hatte den Kodex erarbeitet. Er soll verhindern, dass es auf künftigen documenta-Ausgaben zu einem Eklat kommt. Eine neu gegründete Initiative übt harsche Kritik an dem Papier. 

Initiative #standwithdocumenta sieht Kunstfreiheit in Gefahr  

Hinter der Initiative #standwithdocumenta steht eine zehnköpfige Gruppe. Mit einer Petition wollen die Mitglieder sicherstellen, dass die Kunstfreiheit auf der documenta weiterhin gewahrt bleibt. Die Gruppe befürchtet deutliche Beschränkungen der künstlerischen Freiheit, wenn die Empfehlungen zur Neuaufstellung der documenta umgesetzt werden. 

Ein prominenter Unterzeichner der Petition ist - neben dem ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten und Kassels Ex-OB Hans Eichel (SPD) - Bertram Hilgen, ein weiterer ehemaliger SPD-Oberbürgermeister.  

Verliert die documenta ihr Alleinstellungsmerkmal? 

Hilgen befürchtet, dass die documenta ihr Alleinstellungsmerkmal verliert. "Wenn die documenta schrumpft, weil die Welt nicht mehr hierherkommt, sondern nur noch Künstler aus der westlichen Hemisphäre, dann reiht sie sich ein in die 80 bis 100 Biennalen", sagt er. Mit einer Festschreibung der Verhaltensregeln schränke man den Handlungsspielraums für Künstlerinnen und Künstler und die kuratorische Arbeit ein, erklärt Hilgen.

Neben Hilgen und weiteren Menschen engagiert sich auch Zaki Al-Maboren in der Initiative. Der Künstler ist einst selbst durch die documenta nach Kassel gekommen und geblieben. Den Verhaltenskodex sieht auch er kritisch. "Wenn man vorschreibt, was man zu tun hat, wäre ich raus", sagt er, das gelte auch für andere Künstler. 

Kassel brauche keine Ausstellung, "die so sehr von außen bestimmt ist", so Al-Maboren, "das hemmt die Kreativität". Adressiert ist die Petition an Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), den hessischen Kultur- und Wissenschaftsminister Timon Gremmels (SPD) und den Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne).

Ex-OB Bertram Hilgen (SPD), Wendelin Göbel und der Künstler Zaki Al-Maboren
Mitglieder der Initiative #standwithdocumenta: Ex-OB Bertram Hilgen (SPD), Wendelin Göbel und der Künstler Zaki Al-Maboren Bild © hr/Stefanie Küster

 

OB Sven Schoeller: documenta 16 wird stattfinden 

Dieser macht sich keine Sorgen, dass die documenta 16 stattfinden wird. Dabei sei ein "weiter so" aber keine Option. Die documenta 15 habe gezeigt, dass die Ausstellung in ihrer Struktur "nicht resilient genug ist, um mit solchen Vorgängen umzugehen und in der Krise adäquat und schnell zu reagieren". Das habe dazu geführt, dass die documenta 15 einen erheblichen öffentlichen Schaden erlitten habe. Das gelte es zu vermeiden, sagt Schoeller. 

Der grüne Oberbürgermeister begrüßt die Auseinandersetzung mit der documenta und äußerte Verständnis für die Sorgen der Initiative. Allerdings müsse man immer sehr gut abwägen, welche Äußerungen man öffentlich mache und ob sie gegebenenfalls auch eine beschädigende Wirkung hätten. Dass es aus der Perspektive von Künstlerinnen und Künstlern Kritik am Verhaltenskodex gibt, kann Schoeller nachvollziehen. Eine Verhaltensordnung habe immer einen begrenzenden Effekt.  

Kasseles Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne) steht in seinem Büro im Rathaus, im Hintergrund ein Bild vom Friedericianum.
Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller: "Öffentlichen Schaden vermeiden". Bild © hr/Stefanie Küster

Bietet Grundgesetz ausreichend Schutz?

Die Gruppe um den ehemaligen Verleger Wendelin Göbel findet eben genau das gefährlich. Zudem bezweifelt sie, dass ein Verhaltenskodex den gewünschten Erfolg haben wird. Man könne durch einen "Code of Conduct" nicht mehr Sicherheit gewinnen, ist sich Göbel sicher.

Vielmehr gebe das Grundgesetz ausreichend Schutz, indem gelte: "Es darf keine Diskriminierung geben". Das Grundgesetz mache das an der Unantastbarkeit der Würde des Menschen fest, daran seien alle gebunden. 

Sich von Kunstwerken distanzieren, statt sie abzuhängen

Die Erfahrung hat aber gezeigt: In der Praxis kostet das Diskutieren über bestimmte Kunstwerke oft zu viel Zeit, erinnert sich documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann. Und im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung bis zu einem Urteil darüber, ob ein Werk strafrechtlich relevant sei oder nicht, vergingen Monate.

Künftig soll der "Code of Conduct" antisemitische Vorfälle verhindern - dabei soll die neue Künstlerische Leitung festhalten, wie sie den Schutz der Menschenwürde umsetzen will, erklärt Hoffmann.  

Wenn dann doch ein Kunstwerk mit diskriminierendem Inhalt ausgestellt wird, solle es nicht abgehängt, sondern mit einem Schild versehen werden, auf dem sich die Leitung der Weltkunstschau von dem Werk distanziert. Auf diese Weise sei die Gratwanderung möglich, sagt der documenta-Geschäftsführer, "die Wahrung der Kunstfreiheit auf der einen und Schutz vor Diskriminierung auf der anderen Seite". 

documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann steht vor dem Friedericianum.
documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann Bild © hr/Stefanie Küster

Koalitionsvertrag: documenta soll in Kassel bleiben 

CDU und SPD hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich für eine documenta am Standort Kassel ausgesprochen und die Sicherung der Kunstfreiheit unter grundlegenden Regeln gefordert. Dazu gehöre auch "eine klare Linie gegen Antisemitismus". 

Kunst- und Kulturminister Timon Gremmels (SPD) hatte erst kürzlich in einem Interview mit hessenschau.de betont, dass die documenta als unabhängige Kunstausstellung in Kassel erhalten bleiben müsse.

Dabei dürfe sie nicht "zu einer hessischen, deutschen oder europäischen Einrichtung”. Der Markenkern der Ausstellung sei, “100 Tage im Mittelpunkt der internationalen Auseinandersetzung über zeitgenössische Kunst und Kultur" zu sein. 

documenta: "Biest" statt Funktionärsdarbietung

So sieht es auch Roger M. Buergel, künstlerischer Leiter der documenta 12 im Jahr 2007. Die documenta sei "ein Biest, ein Organismus, der lebt", betont Buergel. Darin unterscheide sich die documenta von "Funktionärsdarbietungen" wie der Venedig-Biennale oder der Singapur-Biennale oder Art Basel.

Die documenta sei seit den Zeiten ihres Gründers Arnold Bode ein improvisiertes Jonglieren, so der Ausstellungsmacher, "und dann fallen halt auch mal ein paar Bälle zu Boden". So sei die Ausstellung immer für einen Aufreger gut - Buergel sieht das mehr als "Zeichen von Vitalität als von einem Ende der Ausstellung".

Den "Code of Conduct" sieht Buergel kritisch - auch wenn die Verantwortlichen glaubten, damit eine "Bastion gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Sexismus" errichten zu können. Mit einer Art "Gesinnungsprüfung" bereite man Kräften wie der AfD eher den Boden, befürchtet Buergel.

Die Debatte über eine präventive Einschränkung künstlerischer Freiheit werde weithin geführt, erklärt Buergel, auch in seiner Geburtsstadt Berlin. Dies sei nicht nur eine documenta-Debatte und somit kein lokales Problem, vielmehr sei die Weltkunstausstellung ein Symptom unter vielen, bei denen versucht werde, Öffentlichkeit und Diskurse zu kanalisieren und zu regulieren.

Roger M. Buergel steht vor einer grünen Tafel, der Hintergrund mit Kreidezeichnungen ist unscharf.
Roger M. Buergel: "Die documenta ist ein Biest". Bild © picture-alliance/dpa

Weitere Veränderungen geplant

Der Verhaltenskodex ist derweil nur ein kleiner Teil der Veränderungen, die bei der documenta 16 kommen sollen. So soll ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet und die Aufgaben von Geschäftsführung und Künstlerischer Leitung klar geregelt sein. 

Die Ausstellung wird sich nach dieser Debatte und den Skandalen der Vergangenheit verändern, das ist jetzt schon abzusehen. Es bleibt also spannend rund um die documenta - und das ist vielleicht auch das, was sie ausmacht.

Oder - wie Buergel sagt: "Man mag so eine Ausstellung ja nicht der gepflegten Langeweile wegen, sondern weil man will, dass es kracht."

Weitere Informationen

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 12.02.2024, 19.30 Uhr

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Quelle: Leander Löwe, Elisabeth Czech, hessenschau.de