Mit Naomi Beckwith wird es keinen documenta-Skandal geben
Sie ist ein Schwergewicht der Kunstszene und verbindet durch ihre Herkunft mehrere Welten: Nach dem Antisemitismus-Skandal 2022 wird es die künstlerische Leiterin Naomi Beckwith bei der documenta 16 einfacher haben.
Kunstfanatiker haben seit Monaten auf diesen Tag gewartet: Die neue künstlerische Leitung der documenta trat am Mittwoch in Erscheinung. Und was für eine: Naomi Beckwith, die Chefkuratorin und stellvertretende Leiterin des New Yorker Guggenheim Museums, eines der bekanntesten zeitgenössischen Kunstmuseen der Welt.
Für die documenta 16 ein etabliertes Gesicht wie die US-Amerikanerin Beckwith auszuwählen, ist gelinde gesagt eine sichere Wahl, um eine möglichst störungsfreie Weltkunstschau zu garantieren. Schon hat sie angekündigt: Unter ihr werde es keine diskriminierende Kunst geben.
Kunst ist nie unpolitisch
Zweieinhalb Jahre wird sie nun Zeit haben, die Ausrichtung der Ausstellung zu bestimmen. Für viele markiert das das Ende einer langen Debatte. Einer Debatte, die mit mehreren antisemitischen Kunstwerken auf der documenta fifteen begann und in der der Rücktritt der Findungskommission vor einem Jahr nur der letzte Schritt war.
Die Debatte hat viele Menschen in Hessen bewegt. Einige waren davon genervt. So äußerte immer mal wieder jemand die Meinung, Kunst müsse schließlich unpolitisch sein.
Nach mehr als zwei Jahren Aufarbeitung der Skandal-documenta muss man zum Schluss kommen: Nein, definitiv nicht, Kunst ist immer politisch. Schon die jüdische Philosophin Hannah Arendt sagte, Politik entstehe dort, wo Menschen zusammenkommen und ihre Meinung äußern.
Und Kunst sucht immer die Interaktion. Kunst kann also niemals frei von Politik sein. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft. Kunstschaffende wollen doch Debatten anstoßen, zur Diskussion anregen.
documenta-Skandal klärte Grundsatzfragen
Wenn wir nicht in der Kunst exemplarisch über Grenzen der Meinungsfreiheit sprechen können, wo sonst? Auch deshalb darf Kunst so viel. Sie kann verletzend sein, manchmal besteht darin sogar ihr Kern. Die Kunstfreiheit ist auch deshalb ein hohes Gut.
So unaushaltbar sie auch war: Selbst die antisemitische Bildsprache, die fratzenhafte Darstellung jüdischer Menschen auf der documenta fifteen, war von der Kunst- und Meinungsfreiheit gedeckt. Das Strafverfahren dazu stellte die Staatsanwaltschaft damals ein.
Was blieb, war die Diskussion. Die hat der oft zitierte documenta-Skandal befeuert wie kaum ein anderer. Der Berufsprovokateur und wiederholte documenta-Künstler Joseph Beuys wäre bestimmt stolz gewesen.
Neue Kuratorin, neue Chance
Nicht selten verlaufen Diskussionen wie die während und nach der documenta fifteen in den Bahnen eines globalen Nord-Süd-Konflikts. Diese Tragweite schien die damalige Leitung nicht ernst zu nehmen. Beckwith wird sie aber kennen und als Women of Color die Vielfalt internationaler Diskurse im Blick behalten.
Sie wird wissen: Damit die Weltkunstschau eine Kunstschau der Welt bleiben kann, darf sie einerseits nicht von nationalen, politischen Inhalten bestimmt werden. Andererseits sollten die Akteure so viel interkulturelles Verständnis aufbringen, dass sie die deutsche Sensibilität für Diskriminierung erfassen können.
Wo Ruangrupa versagt hat, kann die neue Kuratorin nun zeigen, dass sie kritische Themen diskriminierungsfrei angehen kann - und vor allem will. Dabei wird sie vom wissenschaftlichen Beirat unterstützt. Sie wird es dabei leichter haben als alle Kuratoren zuvor.
Verhaltenskodex als neues Instrument
Denn Naomi Beckwith hat mit dem Verhaltenskodex ein neues Besteck bekommen. Sie kann agieren, kann kontextualisieren, ohne politisch zu zensieren. Dafür hat der politische Prozess der vergangenen Monate gesorgt.
Dass diese Reform ihres Arbeitsauftrags mit erheblichem Widerstand aus der Kasseler Kunstszene einherging, ist nicht verwunderlich: Für Kassel und die documenta geht es um nicht weniger als das Ansehen in der Welt.
documenta war schon immer politisch
Seit ihrer Gründung war die Weltkunstschau auch eine Bühne der Politik. Die Kuratoren sind dabei die Verantwortungsträger.
Fest steht: Wenn auf allen Seiten so leidenschaftlich dafür gekämpft wird, dass Menschen frei sein können, frei von antisemitischen Angriffen, aber auch frei in ihrem künstlerischen Wirken, dann lohnt sich der Kampf.
Umso mehr ist zu wünschen, dass es auf der documenta trotzdem Kunst geben darf, die zum Beispiel Israels international umstrittene Kriegsführung im Nahen Osten kritisiert. Und selbstverständlich: dass das ohne Antisemitismus oder Rassismus geschieht.