Kriegsverbrechen vor 100 Jahren Warum junge Deutsch-Marokkaner Angst vor Krebs haben
Vor 100 Jahren attackierte die spanische Kolonialmacht Nordmarokko mit Giftgas. Eine junge Frankfurterin erinnert an ein vergessenes Kriegsverbrechen mit deutscher Beteiligung, unter dem bis heute Menschen marokkanischer Abstammung leiden.
Amal El Ommali trägt eine Kette mit einem Buchstaben um den Hals — das "Yaz" aus dem amazighischen Alphabet: "Er stellt einen Menschen dar, der die Arme und die Beine ausgebreitet hat und er bedeutet 'Freier Mensch'", erklärt sie.
El Ommali ist 30 Jahre alt, studiert Lehramt und beschäftigt sich, auch auf ihrem Instagram-Kanal, intensiv mit ihrer eigenen Geschichte und Herkunft.
Viele frühe Todesfälle
Ein Thema treibt die 30-Jährige aus Frankfurt besonders um. Sie hat viele Verwandte bereits im jungen Alter an Krebs verloren: "Oualid, Malika, Fatima, Hessbia, Abdelsalam, Yamna, Arkia, Barsh und Ahmad", zählt sie auf.
El Ommali glaubt, dass das kein Zufall ist. Ihre Familie gehört wie viele marokkanisch-stämmige Migranten in Deutschland zur Bevölkerungsgruppe der Rif-Imazighen. Sie stammt aus einem Dorf im nordmarokkanischen Rif-Gebirge.
Bomben mit deutschem Giftgas
Von 1923 bis 1927 führten die französischen und spanischen Kolonialmächte Krieg gegen die dortige Bevölkerung. Die Spanier bombardierten die Region dabei flächendeckend mit Giftgas aus deutscher Produktion. Die Lieferung wurde von der Reichswehr unterstützt, so legen es Quellen nahe.
Opferzahlen wurden bis heute nicht erhoben, unstrittig ist aber, dass bei den Gas-Angriffen Tausende Menschen ums Leben kamen. Unter den Spätfolgen leiden die Menschen vor Ort seit Generationen: kontaminierte Böden und Brunnen, dramatische Krebsraten.
Dazu ist die Infrastruktur der Region vernachlässigt, die Gesundheitsversorgung schlecht. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind viele Menschen von dort ausgewandert. Die größten Communities marokkanisch-stämmiger Migranten leben im Ruhrgebiet – und in der Rhein-Main-Region.
Langzeitfolge des Kriegs
Doch auch im Ausland und Generationen später hört das Leid der Betroffenen nicht auf: Hat das Gas zu epigenetischem Krebs geführt? Diese These äußerte der britische Historiker Sebastian Balfour, der viele Jahre vor Ort geforscht hat.
Wissenschaftliche Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen des Rif-Kriegs in Marokko fehlen bisher. Es gibt nur unzählige Zeitzeugenberichte – aus dem nordmarokkanischen Rif-Gebirge und aus der marokkanischen Diaspora, zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet.
"Als ich noch jung war, dachte ich, das wäre eine Misere, die nur mein Vater durchlebt hat oder seine Familie oder sein Dorf", erzählt Amal El Ommali über die Häufung der vielen Todesfälle in ihrer Familie.
Kein Einzelschicksal
Tatsächlich aber teilen sehr viele Menschen in der marokkanischen Community ihr Schicksal, zum Beispiel der in Frankfurt geborene Journalist Mohamed Amjahid. Auch in seiner Familie gab es unzählige Krebsfälle, "die immer mit einem Fragezeichen versehen waren", wie er sagt.
Eine besondere Wucht bekam das Thema, als sein Vater 2013 an Krebs starb. Aufgrund seiner Familiengeschichte hat ihm sein Arzt inzwischen vorgeschlagen, einige Krebsvorsorgemaßnahmen vorzuziehen.
Deutschland in der Verantwortung
Angesichts der Auswirkungen des Giftgas-Einsatzes bis in die Gegenwart betont Historiker Balfour die Verantwortung der verschiedenen europäischen Akteure des Krieges.
"Es ist wichtig, dass Deutschland seinen Anteil an der Lieferung von Senfgas durch die Reichswehr offiziell anerkennt", sagt er. Deutschland solle die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Bereitstellung von gezielter Hilfe für die Region voranbringen.
Auch für Influencerin Amal El Ommali sind viele Fragen zur Geschichte ihrer Community unbeantwortet: "Wo ist die Anerkennung? Wo ist die Aufarbeitung? Wo ist die postkoloniale Wiedergutmachung? Wo ist irgendetwas?", fragt sie.
Sendung: hr2-kultur, 24.09.2023, 18:00 Uhr
Ende der weiteren Informationen