Kriegsverbrechen vor 100 Jahren Warum junge Deutsch-Marokkaner Angst vor Krebs haben

Vor 100 Jahren attackierte die spanische Kolonialmacht Nordmarokko mit Giftgas. Eine junge Frankfurterin erinnert an ein vergessenes Kriegsverbrechen mit deutscher Beteiligung, unter dem bis heute Menschen marokkanischer Abstammung leiden. 

Eine junge Frau mit Sonnenbrille neben einer älteren Frau mit rosa Kopftuch.
Amal El Ommali (hier mit ihrer Mutter) beschäftigt sich mit der Geschichte ihrer marokkanischen Familie. Bild © Privat
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Amal El Ommali trägt eine Kette mit einem Buchstaben um den Hals — das "Yaz" aus dem amazighischen Alphabet: "Er stellt einen Menschen dar, der die Arme und die Beine ausgebreitet hat und er bedeutet 'Freier Mensch'", erklärt sie. 

El Ommali ist 30 Jahre alt, studiert Lehramt und beschäftigt sich, auch auf ihrem Instagram-Kanal, intensiv mit ihrer eigenen Geschichte und Herkunft.  

Viele frühe Todesfälle 

Ein Thema treibt die 30-Jährige aus Frankfurt besonders um. Sie hat viele Verwandte bereits im jungen Alter an Krebs verloren: "Oualid, Malika, Fatima, Hessbia, Abdelsalam, Yamna, Arkia, Barsh und Ahmad", zählt sie auf.   

El Ommali glaubt, dass das kein Zufall ist. Ihre Familie gehört wie viele marokkanisch-stämmige Migranten in Deutschland zur Bevölkerungsgruppe der Rif-Imazighen. Sie stammt aus einem Dorf im nordmarokkanischen Rif-Gebirge.  

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Imazighen

Das Wort ist eine Eigenbezeichnung und bedeutet "Freie Menschen". In ihren nordafrikanischen Herkunftsländern sind sie keine ethnische Minderheit, sondern die indigene Bevölkerung - in Marokko sind mehr als 50 Prozent Imazighen. 

Der in Deutschland verbreitete Begriff "Berber" wird von ihnen als rassistisch abgelehnt, da er sich vom griechischen Wort "Barbaren" ableitet. 
Quelle: migratöchter (Karima Benbrahim) / hessenschau.de 

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Bomben mit deutschem Giftgas 

Von 1923 bis 1927 führten die französischen und spanischen Kolonialmächte Krieg gegen die dortige Bevölkerung. Die Spanier bombardierten die Region dabei flächendeckend mit Giftgas aus deutscher Produktion. Die Lieferung wurde von der Reichswehr unterstützt, so legen es Quellen nahe.  

Opferzahlen wurden bis heute nicht erhoben, unstrittig ist aber, dass bei den Gas-Angriffen Tausende Menschen ums Leben kamen. Unter den Spätfolgen leiden die Menschen vor Ort seit Generationen: kontaminierte Böden und Brunnen, dramatische Krebsraten. 

Dazu ist die Infrastruktur der Region vernachlässigt, die Gesundheitsversorgung schlecht. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind viele Menschen von dort ausgewandert. Die größten Communities marokkanisch-stämmiger Migranten leben im Ruhrgebiet – und in der Rhein-Main-Region. 

Langzeitfolge des Kriegs 

Doch auch im Ausland und Generationen später hört das Leid der Betroffenen nicht auf: Hat das Gas zu epigenetischem Krebs geführt? Diese These äußerte der britische Historiker Sebastian Balfour, der viele Jahre vor Ort geforscht hat. 

Wissenschaftliche Untersuchungen über die gesundheitlichen Auswirkungen des Rif-Kriegs in Marokko fehlen bisher. Es gibt nur unzählige Zeitzeugenberichte – aus dem nordmarokkanischen Rif-Gebirge und aus der marokkanischen Diaspora, zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet.   

"Als ich noch jung war, dachte ich, das wäre eine Misere, die nur mein Vater durchlebt hat oder seine Familie oder sein Dorf", erzählt Amal El Ommali über die Häufung der vielen Todesfälle in ihrer Familie.  

Kein Einzelschicksal 

Tatsächlich aber teilen sehr viele Menschen in der marokkanischen Community ihr Schicksal, zum Beispiel der in Frankfurt geborene Journalist Mohamed Amjahid. Auch in seiner Familie gab es unzählige Krebsfälle, "die immer mit einem Fragezeichen versehen waren", wie er sagt.

Ein junger Mann mit Vollbart steht vor einer Wand
Mohamed Amjahids Familie stammt aus Marokko. Er fürchtet deshalb, an Krebs zu erkranken. Bild © A. Langer

Eine besondere Wucht bekam das Thema, als sein Vater 2013 an Krebs starb. Aufgrund seiner Familiengeschichte hat ihm sein Arzt inzwischen vorgeschlagen, einige Krebsvorsorgemaßnahmen vorzuziehen. 

Deutschland in der Verantwortung 

Angesichts der Auswirkungen des Giftgas-Einsatzes bis in die Gegenwart betont Historiker Balfour die Verantwortung der verschiedenen europäischen Akteure des Krieges.  

"Es ist wichtig, dass Deutschland seinen Anteil an der Lieferung von Senfgas durch die Reichswehr offiziell anerkennt", sagt er. Deutschland solle die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Bereitstellung von gezielter Hilfe für die Region voranbringen. 

Auch für Influencerin Amal El Ommali sind viele Fragen zur Geschichte ihrer Community unbeantwortet: "Wo ist die Anerkennung? Wo ist die Aufarbeitung? Wo ist die postkoloniale Wiedergutmachung? Wo ist irgendetwas?", fragt sie. 

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100 Jahre Schweigen. Deutsches Giftgas in Marokko

Im hr-Feature "100 Jahre Schweigen. Deutsches Giftgas in Marokko" in der ARD-Audiothek geht es um den Rif-Krieg, die deutsche Beteiligung und die Folgen für die marokkanische Community.   

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Sendung: hr2-kultur, 24.09.2023, 18:00 Uhr

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Quelle: hessenschau.de/Alexandra Müller-Schmieg