Projekt "Lebensmelodien" Frankfurter Musikschüler spielen gegen das Vergessen des Holocaust
Lieder, die Jüdinnen und Juden in Konzentrations- und Arbeitslagern sangen, komponierten und die beinahe verloren gingen: Diese Stücke führen Frankfurter Musikschüler mit dem Musiker Nur Ben Shalom auf. Eine Erfahrung, die aufrüttelt.
Es sind Lieder, die Juden und Jüdinnen kurz vor ihrer Ermordung auf den Lippen hatten. Sie ließen die Menschen aufrechten Ganges in die Gaskammern der Konzentrationslager schreiten oder sie schenkten ihnen einen Moment Freude, wenn sie wieder an einem jüdischen Feiertag in den Baracken hungerten.
Manche der Lieder wurden in den im Nationalsozialismus errichteten Ghettos sowie in den Arbeits- und Konzentrationslagern nicht nur gesungen oder gespielt, sondern auch komponiert. Es sind sogenannte Lebensmelodien, die Frankfurter Musikschülerinnen und Musikschüler an diesem Donnerstag im Frankfurter Stadthaus bei einem kostenlosen Konzert spielen werden.
Jüdische Musik aus dem Holocaust erhalten
Die Musikschule Frankfurt beteiligt sich damit an einem bundesweit einmaligen Projekt. Der israelische Klarinettist Nur Ben Shalom hat es vor mehr als 15 Jahren in Berlin ins Leben gerufen.
Er forscht in Archiven, spricht mit Zeitzeugen und rekonstruiert zu den Melodien auch immer die Geschichten der Männer, Frauen, Kinder und Familien, die den Holocaust nicht überlebten. Auch Nur Ben Shaloms Familie wurde fast ausgelöscht, nur sein Großvater überlebte. Das Projekt der Lebensmelodien sei seine Art damit umzugehen, sagt Nur Ben Shalom. "Wenn wir diese Melodien spielen, dann wir bringen diese Stimmen zurück."
Erinnerung an den Holocaust aufrechterhalten
Neben dem Erhalt und der Erinnerung liege die Bedeutung des Lebensmelodien-Projekts darin, wie es die Zukunft beeinflusse, sagt Nur Ben Shalom. Er wolle Brücken bauen zur nächsten Generation. Darum spielt er mit seinem Ensemble nicht nur Konzerte wie jüngst bei dem vom Bundespräsidenten initiierten Festakt zu 75 Jahre Grundgesetz, sondern organisiert seit 2022 auch Bildungsprojekte in ganz Deutschland.
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2023 initiierte er bereits über hundert solcher Kooperationen mit Grundschulen, Gymnasien, muslimischen Jugendvereinen und Tanz- und Musikschulen. Seit Februar proben 25 Schülerinnen und Schüler die zwölf ausgewählten Musikstücke und jüdischen Melodien in einem eigenen Arrangement.
Schülerin: Man kann sich "ganz anders reinfühlen"
Die 17 Jahre alte Klarinettistin Mara Ilg und die 13 Jahre alte Pianistin Hannah Rosch sind dabei. Es fühle sich völlig anders an, diese Stücke zu spielen, sagt Hannah Rosch: "Es ist ja kein direkter Kontakt zu der Zeit, aber ein Schlüssel sozusagen, weil man sich durch die Musik noch mal ganz anders reinfühlen kann." Sie und Mara Ilg waren besonders berührt, weil hinter jedem Lied eine Geschichte stecke, die erzähle, wie Menschen versucht hätten, durch die Musik mit dem Horror des Holocaust umzugehen.
Ein Stück erzählt zum Beispiel die Geschichte von Shmuel Blasz, der in einem Arbeitslager der Nationalsozialisten in Ungarn eine Melodie komponiert hatte. Nur seine Melodie hatte die Nazi-Herrschaft überlebt: Denn sein Mithäftling und Freund im Arbeitslager hielt das Blatt Papier mit den Noten jahrelang bei sich versteckt.
Eine andere Lebensmelodie erzählt die Geschichte von Pnina, der besten Freundin von Nur Ben Shaloms Großmutter. Keine sieben Jahre alt, verlor sie in einem Ghetto in der Ukraine ihre gesamte Familie und irrte auf der Flucht vor den Nazis jahrelang allein durch die ukrainischen Wälder. Sie vergaß ihre Sprache, wer sie war und wie sie hieß. Erst die Melodie eines jiddischen Kinderlieds brachte Pninas Erinnerung zurück, schildert sie später in einem Brief.
Tränen bei dem ersten Konzert in Frankfurt
"Es war richtig berührend, wenn man die Geschichten gehört hat und danach immer die Musikstücke dazu", erinnert sich Hannah Rosch an das erste Lebensmelodien-Konzert der Musikschule, das bereits im Mai stattfand. Viele Menschen hätten an dem Abend Tränen in den Augen gehabt. Zur Erinnerung an Anne Frank, die am vergangenen Mittwoch vor 95 Jahren in Frankfurt geboren wurde, findet am Donnerstag ein zweites Konzert statt.
Es wirkt paradox, aber viele Melodien sind eher heiter, laden zum Singen und Tanzen ein. "Die Musik hat den Menschen damals Hoffnung gegeben", sagt Nur Ben Shalom. "Sie hat ihnen Kraft gegeben und ein bisschen Freude, um überleben zu können. Oder sie hat sie in den Tod begleitet."
Im Projekt der Lebensmelodien gehe es um ebendiese Widerstandsfähigkeit der Opfer und Überlebenden, angetrieben und aufrechterhalten durch die Musik, betont Nur Ben Shalom.
Bildungsarbeit über Judentum und Holocaust
Die Jugendlichen erfuhren in gemeinsamen Workshops mit Nur Ben Shalom mehr über das Judentum, Rituale und Feste sowie über die Bedeutung gewisser Lieder und über den Holocaust. Es wurde diskutiert und viele Fragen gestellt, wie Tino Schmidt von der Musikschule Frankfurt sich erinnert. Es sei "eine unfassbar konzentrierte, intensive Atmosphäre" gewesen, die er so an der Musikschule noch nie erlebt habe.
Sogar die Jugendlichen, die gerade mit ihrem Teil der Probe fertig waren, hätten sich dazu entschlossen, länger zu bleiben. "Weil sie einfach mehr wissen wollten über den Kontext aller Stücke. Und das ist bezeichnend, gerade bei 16- und 17-Jährigen, die in ihrer Freizeit eigentlich andere Dinge im Sinn haben."
Auf der Suche nach Frankfurter Lebensmelodien
Die Ergebnisse der Europawahl vergangenen Sonntag hätten die Relevanz des Projekts nochmal unterstrichen, betonten die Beteiligten. "Das ist damals eine schlimme Zeit gewesen, die man nicht herunterspielen sollte", sagt die 13-jährige Hannah Rosch. "So etwas darf nie wieder passieren."
Noch ungehörte Lebensmelodien gibt es laut Nur Ben Shalom genug. Gerade recherchiere er gezielt Frankfurter Geschichten und Kompositionen. Zusammen mit den Schülerinnen und Schülern der Musikschule Frankfurt sollen sie wieder erklingen, womöglich schon im kommenden Jahr.
Sendung: hr2-kultur, 13.06.2024, 7.05 Uhr
Redaktion: Sophia Averesch