Gräber mit "Traufkindern" entdeckt Unter diesem Parkplatz in Eschwege liegt eine mittelalterliche Kirche

Auf der Freifläche neben dem Nikolaiturm in Eschwege soll ein begrünter Platz mit Bäumen und Brunnen entstehen. Bei den Bauarbeiten entdecken Archäologen unter dem Asphalt mächtige Kalkstein-Fundamente einer alten Kirche – und an der Mauer die Gebeine vieler kleiner Kinder.

Links im Bild Nikolaiplatz in Schwege von oben und rechts im Bild Ausgrabungsdetail mit Schädel und Rippenknochen
An der Grabungsstelle wurden mehrere jahrhundertealte Kinderleichen gefunden. Bild © Thomas Kurella/hr

Aus fast 50 Metern Höhe, von der Spitze des Eschweger Nikolaiturms, wird das ganze Ausmaß der alten Kirche sichtbar. Auf der rund 50 mal 40 Meter großen Fläche in der Innenstadt, wo vor kurzem noch Autos parkten, zeichnen sich die Mauerzüge eines großen Gebäudes ab: mächtige, akkurat behauene Steinblöcke.

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"Solche Steine sind im Mittelalter ziemlich teuer. Sie müssen mit einiger Mühe übers Wasser hierher gebracht worden sein."  So die Einschätzung von Archäologin Anja Rutter. "Da hat jemand richtig Geld ausgegeben. Das ist eine gut gebaute und massive Kirche." Rutter leitet die Grabung unweit der Werra im Auftrag von Hessen Archäologie.

Nach 400 Jahren Geschichts-Schatz gehoben

Nur die Grundmauern des Gebäudes, der früheren St. Godehard-Kirche, sind noch übrig. Die restlichen Steine sind woanders in der Stadt verbaut worden, sagt Rutter. Nach der Reformation habe die Kirche lange leer gestanden, dann kam Ende des 16. Jahrhunderts der Abbruch. Nur der Turm blieb stehen. Vielleicht ein Grund dafür, weshalb die alte Kirche bei den Eschwegern nie völlig in Vergessenheit geraten ist.

In Urkunden erwähnt wird sie zum ersten Mal 1340, im Spätmittelalter. Die Archäologen sind sich sicher: Unter den aufwendigen Fundamenten der Godehard-Kirche dürften noch ältere Reste von Vorgänger-Kirchen liegen. So tief dürfen sie aber diesmal nicht graben. Nicht nur wegen der Kosten. Auch, um diese Artefakte im Boden zu belassen, damit sie geschützt sind, für mögliche Untersuchungen in der Zukunft. 

Kinder, begraben abseits des Friedhofs

An einer Kante der lehmigen, von Mauerresten durchzogenen Grabungsfläche steht ein einfaches Kunststoffzelt. Darin kniet Anja Rutter mit zwei Kollegen auf dem Boden und schabt mit aller Vorsicht Erde aus einer flachen Grube heraus. Denn hier haben die Forscher feine menschliche Knochenreste gefunden.

Zwei Frauen in neonfarbener Arbeitskleidung knieen in der Ausgrabungsstättte
Anja Ritter (hinten) und ihr Team haben die Fundamente freigelegt. Bild © Thomas Kurella/hr

Schnell ist klar, dass sie zu klein für Erwachsene sind. Es sind die Skelette von Kindern, etwa vier bis fünf Jahre alt, außerdem von Säuglingen und Neugeborenen. Beim Abtragen der Erdschichten kommen immer neue ans Licht, dicht beieinander bestattet, nahe beim Altarraum der früheren Kirche. Aber nicht im Inneren, sondern außen vor der Mauer.

Rutter beschreibt einige der bewegenden Funde: "Wir haben zwei Bestattungen, bei denen die Beine so gespreizt sind, als ob man sie wirklich in Windeln begraben hätte. Das ist wirklich ein bisschen traurig. Um die hat vor 400 Jahren mal jemand wirklich geweint."

Ein "Trick" zur Rettung der Seele

Bisher fanden die Archäologen die Reste von mindestens 30 verschiedenen Kinder-Skeletten, die alle am selben Ort begraben worden sind. Es hat den Anschein, dass die Eltern für ihre verstorbenen Kinder einst bewusst diese Stelle ausgewählt haben. Die mögliche Erklärung für dieses rätselhafte Verhalten: Es könnte sich um sogenannte "Traufkinder" handeln.

Über Jahrhunderte hinweg, bis in die frühe Neuzeit, wurden Kinder aus Sorge um ihr jenseitiges Seelenheil an der Kirchenmauer bestattet. Im Bereich des Dach-Traufes, wo das Regenwasser vom Kirchendach auf ihre Ruhestätte tropfen kann.

Schädelrest in der Erde, daneben eine Karteikarte
Auch Schädelknochen wurden gefunden. Bild © Thomas Kurella/hr

"Je näher man die Toten am Altarraum bestattet, desto größer die Chancen, dass der zuständige Heilige am jüngsten Tag zu seiner Kirche kommt und die Seelen gleich mit einsammelt", erklärt Anja Rutter. "Es gibt auch die Vorstellung, dass das Traufwasser vom Dach der Kirche so etwas wie ein Tauf-Wasser ist, was die Kinder nochmal näher in den Schutz der Kirche rückt."

Gerade für die Eltern von Kindern, die noch vor der christlichen Taufe verstarben, mag diese Bestattungssitte ein Trost gewesen sein. Denn ungetauft war nach damaligem Verständnis ihr ewiges Heil in Gefahr. Diese Kinder durften auch nicht auf dem Friedhof ruhen – bestenfalls auf einem ungeweihten Areal, eigens für sie abgegrenzt. 

Die Kirchenreste: Spannung für die Einen, Frust für die Anderen 

Das Grabungsteam freut sich über das Interesse vieler Eschweger an "Ihrer" alten Kirche. Die sei im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung immer noch präsent.

Dennoch gab und gibt es auch Kritiker in der Anwohnerschaft. Die Entscheidung, den Nikolaiplatz von der PKW-Stellfläche in einen repräsentativen Ort mit Bäumen und Trinkwasserbrunnen zu verwandeln, tragen nicht alle mit, weil sie ohne den Parkplatz einen längeren Fußweg in die Innenstadt haben. Das sei gerade für ältere Menschen schwer zumutbar, sagt eine Anwohnerin.

Von Frost überzogene Ausgrabungsstätte, im Hintergrund Häuser
Früher Parkplatz, jetzt Ausgrabungsstätte, später Park: der Fundort in Eschwege. Bild © Thomas Kurella/hr

Diesen Unmut haben zu Beginn der Ausgrabung im November die Archäologen abbekommen, erzählt Grabungsleiterin Anja Rutter, weil sie "böswilliger Weise" den Parkraum verkleinert hätten. Inzwischen aber erlebten sie "super interessierte Leute, die uns auch Infos geben. Leute, die sagen: Das ist ja toll, dass wir jetzt endlich mal in den Boden gucken können."

"Tag der offenen Grabung" Anfang April

Noch bleibt den Archäologen etwas Zeit, die Begräbnisstätte und die Mauern der Godehard-Kirche freizulegen. Anfang April will Hessen Archäologie zu einem Tag der offenen Grabung einladen. Dann können sich die Eschweger selbst ein Bild machen vom Gotteshaus aus dem Mittelalter.

Die anschließenden Bauarbeiten für den Platz auf einem neuen, mehrstufigen Podium werden alles wieder zudecken. Der Platz soll bis 2026 fertig werden und so gestaltet sein, dass man die alte Kirche an diesem Ort noch ahnen kann, erläutert Bürgermeister Alexander Heppe: "Der Platz nimmt durch eine Schiff-artige Gestaltung Rücksicht auf das ehemalige Kirchenschiff. Wir werden auch auf die historische Bedeutung hinweisen: Mit Informationsmaterial, Schautafeln, vielleicht sogar mit einem Modell."

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de