Nach Herrenberg-Urteil Hessische Musikschulen dürften teurer werden oder schließen
Hessens Musikschulen schlagen Alarm. Als Folge eines Gerichtsurteils müssten sie viele der bisher freiberuflich tätigen Lehrkräfte festanstellen. Das würde Millionen kosten. Viele Musikschullehrer fürchten um ihre Existenz.
Die Gitarre frisch gestimmt, sitzt Jan Jansohn neben seiner Schülerin Elif im Arbeitszimmer seiner Wohnung in Darmstadt. Geduldig korrigiert er ihre Handgriffe, während sie den Beginn der "Bourée" von Johann Sebastian Bach spielt. Bis zu den Sommerferien hat der studierte Musikpädagoge noch an der Musikschule in Langen (Kreis Offenbach) gearbeitet. Dann kam die Kündigung.
"Es ist mir erst mal eiskalt den Rücken runtergelaufen, und ich habe mich auch ohnmächtig gefühlt", sagt Jansohn. Fast 20 Jahre arbeitete er in Langen als freie Honorarkraft. Das bedeutet, dass die Schule für ihn keine Sozialversicherungsbeiträge abführen musste. Als Lehrkraft war Jansohn somit kostengünstiger als ein Festangestellter. "Man hat sich so daran gewöhnt, aber je älter ich werde, desto mehr wird mir klar, wie ungünstig das für die weitere Lebensplanung ist", schildert er.
Die Kündigung von Jansohns Honorarvertrag war eine Reaktion auf das sogenannte Herrenberg-Urteil. Eine freiberuflich tätige Klavierlehrerin aus diesem Ort in Baden-Württemberg hatte wegen Verdachts auf Scheinselbstständigkeit auf Festanstellung geklagt und 2022 vor dem Bundessozialgericht Recht bekommen.
18 Millionen Euro an Rückzahlungen
Obwohl das Urteil eine Einzelfallentscheidung war, hatte es seitdem weitreichende Konsequenzen - auch für Musikschulen in Hessen. Rund zwei Drittel der 2.700 Lehrkräfte, die an etwa 66 öffentlichen Musikschulen im Land tätig sind, arbeiten dort ohne Festanstellung.
Die Deutsche Rentenversicherung kündigte nach dem Urteil des Bundessozialgerichts an, die Honorarverträge sukzessive zu prüfen und nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge nachzufordern. Auf Hessens Musikschulen käme dann nach aktuellen Berechnungen ein Betrag von bis zu 18 Millionen Euro zu.
Um außerdem Problemen mit rechtswidriger Scheinselbstständigkeit auch künftig aus dem Weg zu gehen, müssten die Musikschulen ihren Lehrkräften Festangestellten-Verträge anbieten. Das würde mindestens weitere 3,5 Millionen Euro pro Jahr bedeuten.
Ein doppeltes Damoklesschwert
Von einem doppelten Damoklesschwert, das über den Musikschulen hänge, spricht Hans-Joachim Rieß, der Geschäftsführer des Verbands deutscher Musikschulen in Hessen (VdM-Hessen). "Das Geld wird nicht vom Himmel fallen, und die Musikschulen werden reihenweise Insolvenz anmelden", so Rieß.
Bei öffentlichen Musikschulen sind die Träger meist gemeinnützige Vereine oder Kommunen, die beide nicht für sprudelnde Geldquellen bekannt sind. Zwar gibt es auch Fördergeld vom Land Hessen, allein in diesem Jahr 4,4 Millionen Euro. Doch mehr als 60 Prozent der Gesamtkosten tragen die Eltern, die ihre Kinder in die Musikschule schicken, mit ihren Beiträgen.
Doch auch da gibt es Grenzen, wie Jörn Pick, der Leiter der Paul-Hindemith-Musikschule in Hanau, sagt. Dort kostet der Musikunterricht derzeit 100 Euro pro Monat. Wenn Pick alle seine 40 Lehrkräfte künftig festanstellen würde, müsste die Schule bis zu 100.000 Euro mehr aufbringen.
"Elitebetrieb für Gutsituierte"
Ohne mehr Fördergeld könnte das bedeuten, dass der Elternbeitrag auf 115 Euro steigen müsse, kalkuliert Pick: "Es wird darauf hinauslaufen, dass wir uns zu einem Elitebetrieb entwickeln, was sich dann nur noch die Gutsituierten leisten können." Das dürfe nicht Aufgabe einer öffentlichen Musikschule sein.
Eine Lösung ist derzeit nicht in Sicht, obwohl die Zeit drängt. Die Deutsche Rentenversicherung hat den Musikschulen nur noch bis diesen Oktober Zeit gegeben, um die Verträge neu zu regeln. Auch dem Land Hessen macht das Herrenberg-Urteil einen Strich durch die Rechnung.
Im Pakt für Musikschulen zwischen Land, kommunalen Spitzenverbänden und dem Musikschulverband, der Mitte 2023 beschlossen wurde, handelte die damalige Kulturministerin Angela Dorn (Grüne) aus, bis 2032 alle Honorarkräfte, die dies wünschen, festanzustellen. Dieses Ziel sollte auch dank einer jährlich um 600.000 Euro steigenden Förderung durch das Land erreicht werden.
Moratorium bis 2027 gefordert
Ad hoc noch mehr Geld ins System zu geben, sei nicht möglich, heißt es aus dem inzwischen SPD-geführten Ministerium auf hr-Anfrage. "Wir führen viele Gespräche auf Bundesebene, um dafür zu sorgen, dass angesichts dieses Urteils erst mal keine Prüfungen durchführt werden", sagt Kulturstaatssekretär Christoph Degen (SPD).
Konkret geht es bei diesen Gesprächen um das Ziel, ein Moratorium bis 2027 herauszuhandeln, so dass bis dahin keine Beiträge zur Sozialversicherng rückerstattet werden müssten. Ob das klappt, steht in den Sternen.
Ebenfalls unklar ist, ob am Ende überhaupt alle bisher freiberuflichen Musiklehrkräfte eine Festanstellung möchten. An der Paul-Hindemith-Musikschule in Hanau hat eine interne Umfrage ergeben, dass etwa die Hälfte sich das wünscht.
"Musikschule ist keine Freizeiteinrichtung"
Für den Gitarrenlehrer Jan Jansohn würde eine Festanstellung vor allem Sicherheit bedeuten, zum Beispiel bei Krankheit. "Die letzten Jahre und Jahrzehnte war es so: Wenn man krank war, hat man auch kein Geld bekommen", sagt er. Für ihn wäre es ohnehin ein fatales Zeichen an seinen Berufsstand, sollte es keine Einigung über die künftige Finanzierung geben.
"Musikschule ist keine Freizeiteinrichtung, sondern ein kulturelles Bildungsinstitut", findet Jansohn. Das sei nicht mit einem Sportverein zu vergleichen, bei dem Ehrenamtliche Kinder coachten. "Sondern hier arbeiten Menschen mit einem bis zwei Hochschulabschlüssen." Das werde zu wenig gewürdigt.
Die Musikschule Langen hat Jansohn inzwischen einen neuen Vertrag angeboten - trotz des Herrenberg-Urteils wieder auf Honorarbasis. Er und andere Musiklehrkräfte wollen das Angebot rechtlich prüfen lassen. Um seine Existenz vorerst zu sichern, will Jansohn den Vertrag aber unterzeichnen.