Olympia-Outfits made in Hessen Wie diese Nordhessin den Turnsport revolutionierte
Im nordhessischen Söhrewald entstehen die Olympia-Outfits für die deutschen Turnerinnen und Turner. Die langen Hosen der Frauen werden in Paris wohl erneut für Gesprächsstoff sorgen. Jedes Teil ist Handarbeit - und eine feministische Kampfansage.
Ein kleines Schild an einem unscheinbaren Backsteinhaus im Wohngebiet weist nach unten. Ein paar Stufen geht es runter in das Reich von Stefanie Kusemann. In ihrem Elternhaus in Söhrewald (Kassel) hat die 52-Jährige sich ein Schneider-Atelier eingerichtet.
Nur die wenigsten wissen, dass hier Olympia-Outfits genäht werden. Am Freitagabend hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Olympischen Spiele in Paris offiziell eröffnet. Bei den Wettkämpfen werden die deutschen Turnerinnen und Turner Kusemanns Anzüge tragen. Ihre Kreationen haben schon bei den Spielen 2021 in Tokio Aufsehen erregt.
Olympia-Outfits, die Dritte
Durch einen schmalen Flur geht es in das ehemalige Wohnzimmer der Kellerwohnung. Im lichtdurchfluteten Raum stehen vier Nähmaschinen auf großen Tischen, in einer Schublade türmen sich Garne in allen Farben. Daneben ein Chaos aus Stoffen, Skizzen und einer Kiste mit einer Miniatur-Nähmaschine obendrauf - darin liegen Embleme mit dem Bundesadler.
Angefangen hat alles mit selbstgenähten Turnanzügen für die eigene Tochter, doch das ist lange her. Kusemann, die früher selbst turnte und Kinder trainierte, hat in den letzten Wochen eine Menge zu tun gehabt, erzählt sie.
Neben den üblichen Bestellungen von jungen Turnerinnen, Vereinen und Verbänden hat sie mit ihrem vierköpfigen Team die Paris-Outfits für den Deutschen Turner-Bund genäht. Zwanzig Trikots und zehn Hosen für die Männer, zwölf Anzüge für die drei Frauen, eins davon ein individuelles Einzeltrikot. Bereits das dritte Mal schneidert Kusemann, genannt Steffi, olympische Outfits.
Für sie sei das ein Ritterschlag und ein Grund, stolz zu sein, sagt die Schneiderin. 2015 hatte Ulla Koch, die damalige Bundestrainerin, bei ihr angerufen und gefragt, ob sie für die Nationalmannschaft nähen könne. Und die Hobby-Schneiderin Steffi nähte. Wenig später bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro gewann Fabian Hambüchen Gold - in ihrem Outfit.
Geheimnis um das finale Design
In jedem Anzug stecken acht bis zehn Stunden reine Näharbeit, dazu kommt die Zeit für den Entwurf, einen Testanzug und Maßnehmen im Bundesleistungszentrum. Und dann ist da noch die Feinabstimmung mit den Sportlerinnen. In unzähligen WhatsApp-Nachrichten hat sich Kusemann mit Sarah Voss, Helen Kevric oder Pauline Schäfer-Betz, der diesjährigen Olympia-Auswahl, ausgetauscht. Wo muss mehr Stoff hin, wo weniger und wie sollen die unzähligen Strasssteine sitzen?
Das endgültige Design ist noch ein Geheimnis. Erst wenn die Sportlerinnen und Sportler ab Samstag nach den Medaillen greifen, wird das Design enthüllt. Eins kann Kusemann schon jetzt verraten: Auch in diesem Jahr werden die Turnerinnen Anzüge mit langen Beinen tragen.
Langbeinige Anzüge als Zeichen für Selbstbestimmung
Im internationalen Leistungssport vollzieht sich ein Wandel. Bei der letzten Olympiade 2021 in Tokio waren die deutschen Turnerinnen geschlossen mit langbeinigen Anzügen aufgetreten und hatten damit für Aufsehen gesorgt. Für die Turnwelt war so wenig nackte Haut ein absolutes Novum. Normalerweise sind die Anzüge wie ein knapper Badeanzug geschnitten.
Mit ihrem Auftritt hatten die Sportlerinnen so ein Zeichen dafür gesetzt, dass Frauen selbst über ihr Outfit bestimmen können. Für das Design und den Schnitt hat Kusemann viel positives Feedback bekommen, auch wenn es für die Sportlerinnen zunächst ungewohnt war. Doch nach dem ersten Training war klar: Mit mehr Stoff fühlten sich die Athletinnen wohler und "können sich auf die schweren Übungen konzentrieren und loslegen", wie Kusemann erzählt.
Mehr Stoff, mehr Sicherheit
Denn der sparsame Schnitt sei vielen Turnerinnen unangenehm, weiß Kusemann. Gerade bei sogenannten Spreizsprüngen, also einem Spagat in der Luft, könnten Fotos entstehen, die so nirgendwo landen sollten - schon gar nicht im Internet. Durch die langbeinigen Anzüge blieben Beine und Schritt bedeckt, so die Olympia-Schneiderin. "Es gibt ein sichereres Gefühl als die knappen Anzüge", sagt sie. Denn mit den langen Beinen verrutscht nichts mehr.
Wie sich ihre Outfits bei den Olympischen Spielen machen - das schaut sich Kusemann mit ihrem Team am Sonntag bei einem gemeinsamen Frühstück im Fernsehen an. Neben aller Aufregung, ob die Nähte halten, drücken sie natürlich "ihren" Olympia-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern die Daumen.