Roman "Im Morgen wächst ein Birnbaum" erscheint Autor fordert: Männer müssen sich radikal verändern
Was ist ein "richtiger Mann"? Mit dieser Thematik beschäftigt sich der Autor Fikri Anıl Altıntaş in seinem Roman "Im Morgen wächst ein Birnbaum". Für ihn als türkisch-muslimischen Mann eine besonders schwierige Frage, wie er im Interview erklärt.
Das Gespräch führte Katrin Kimpel.
Ende der weiteren InformationenSeit seiner Kindheit in Aßlar (Lahn-Dill) findet sich Fikri Anıl Altıntaş in den Männerbildern, die ihm vorgelebt werden, nicht wieder. Zunächst versucht der Autor, alle Klischees zu erfüllen, später will er genau das nicht mehr: Zu viel Gewalt, Frauenverachtung und Rassismus sind für ihn im Spiel. Er fordert eine radikale Veränderung des Männerbildes.
Im Interview erzählt er von seinem Debütroman "Im Morgen wächst ein Birnbaum", warum es großen Mut erfordert, sich von "toxischer Männlichkeit" zu lösen und wie hilfreich es für alle Männer und damit die ganze Gesellschaft sein könnte, Verletzlichkeit zuzulassen.
hessenschau.de: Sie beschäftigen sich in Ihrem Roman "Im Morgen wächst ein Birnbaum" mit dem Thema Männlichkeit. Also zunächst: Was bedeutet Männlichkeit in Deutschland?
Fikri Anıl Altıntaş: Oh, Männlichkeit bedeutet ganz viel in Deutschland, vor allem aber die Vorstellung davon, wie heterosexuelle Männer - "ein richtiger Mann" - zu sein haben: Nämlich dominant, stark, mächtig, nicht an der Care-Arbeit partizipieren, viel arbeiten, Geld haben.
Aber diese Vorstellung führt zu sehr vielen Problemen, zu Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern. Viele Männer werden selbst durch das Patriarchat verletzt, es ist etwas Negatives für sie. Ich verstehe Männlichkeit in Deutschland als eine Sache, die dringend verändert werden muss.
hessenschau.de: Diese Vorstellung, wie ein Mann zu sein hat, ist das gleichzeitig Ihre Definition von "toxischer Männlichkeit"?
Altıntaş: Ich glaube, es gibt auf jeden Fall Überschneidungen. Die genannten Attribute werden einerseits im Kontext der Männlichkeitsforschung als hegemoniale Männlichkeit bezeichnet, also als etwas, das es so gibt und das eine gewisse Berechtigung hat.
Andererseits beschreibt man mit Dominanzstreben, Machterhalt und der Vorstellung, dass Männer in dieser Gesellschaft mehr Wert und ihre Worte mehr Gewicht haben, die toxische Männlichkeit. Aus der ergibt sich, dass Männer im Vergleich der Geschlechter höhere Positionen haben und dadurch natürlich auch Macht in Politik, Wirtschaft und Kultur.
Toxische Männlichkeit zieht sich durch die gesamte gesellschaftliche Struktur. Es ist nichts, was auf individueller Ebene passiert.
hessenschau.de: Diese toxische Männlichkeit ist der Ursprung für Sexismus und Gewalt in der Gesellschaft, sagen Sie. Warum?
Altıntaş: Vielen jungen Männern wird suggeriert, dass sie diese eine Form von Männlichkeit anstreben und sich daran orientieren müssen. Und wenn sie das nicht schaffen, führt das zu Druck und natürlich auch zu einer Abwertung.
Dieses System der Männlichkeit muss dann mit Gewalt verteidigt werden: mit Gewalt gegen Frauen, aber auch mit Gewalt der Männer gegen sich selbst. Männer begehen häufiger Suizide und kümmern sich schlechter um ihre Gesundheit.
hessenschau.de: In Ihrem Roman steht die migrantische Männlichkeit im Fokus. Was sind die häufigsten Vorurteile?
Altıntaş: Oh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll… Also erst mal gibt es nicht DIE migrantischen Männer. Aber die Vorurteile sind etwa, dass sie gewaltaffin, sexistisch und antidemokratisch sind. Türkisch-muslimischen Männern wird vorgeworfen, dass sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen und dass sie diszipliniert und gewissermaßen von der Gesellschaft ferngehalten werden müssen.
Das, was ich meine, sind nicht nur harmlose Vorurteile, das ist antimuslimischer Rassismus. Da werden auch kolonial-rassistische Bilder reproduziert, nämlich dieses Bild des wilden und unachtsamen und sehr anarchischen Jungen, der durch seine gefährliche "Religion und Kultur" eine Gefahr für diese Gesellschaft darstellt.
Hier zieht sich aber die Gesellschaft aus der Verantwortung, wenn sie sagt, das Problem der sogenannten toxischen Männlichkeit ist ein migrantisches. Das ist schlicht falsch.
hessenschau.de: Was waren Ihre eigenen Schwierigkeiten, in den 1990er-Jahren als Sohn türkischer Eltern in Deutschland zum Mann heranzuwachsen?
Altıntaş: Meine Familie war eine sehr heteronormative: Mein Vater ging arbeiten, meine Mutter nicht. Ich bin in einem Kontext aufgewachsen, in dem es eine sehr klare Rollenverteilung gab.
Wir haben in Aßlar direkt in der Nähe des Industrieviertels gewohnt, es gab eine klare soziale Abgrenzung. Meine Familie und ich haben Rassismus und soziale Abwertung erfahren und das hat natürlich auch Einfluss darauf gehabt, wie ich meine Männlichkeit gesehen habe und dann auch versucht habe, sie zu leben.
hessenschau.de: Wie genau sah das dann aus? Anpassung oder Rebellion?
Altıntaş: Viele meiner nicht-weißen Freunde und auch ich selbst haben irgendwann angefangen, nicht auffallen zu wollen. Ich habe mich mit meinem Türkischsein so ein bisschen zurückgehalten, um ohne Probleme durch diese Gesellschaft und diese Schule zu kommen.
Etwas später in der Pubertät habe ich gemerkt: Okay, wenn die Leute mich schon anders machen, dann will ich auch ganz bewusst anders sein. Mit 14, 15 Jahren habe ich versucht, diesen stolzen, harten Türken zu performen. Und in dieser Ambivalenz, in diesem Hin und Her, befinde ich mich irgendwie immer noch.
hessenschau.de: Was an dieser Suche nach Ihrer Männlichkeit ist heute anders?
Altıntaş: Der einzige Unterschied ist, dass ich jetzt versuche zu verstehen, wie diese ganzen Sachen konstruiert werden. Ich versuche, der Suche nach Männlichkeit nicht mehr so eine große Relevanz zu geben.
Ich glaube, genau da liegt das Problem und ich möchte mir einfach weniger Druck machen. Aber meine Freundin, meine Freunde und mein Umfeld haben natürlich auch sehr viel Arbeit in mich investiert und helfen mir.
hessenschau.de: Sie haben ein Bühnenprogramm mit Ihrem Vater. Wie hat er Sie geprägt?
Altıntaş: Mein Vater hat auch diese gelebte Ambivalenz, das beschreibe ich auch in meinem Buch. Er ist eine dominante Person mit klaren Vorstellungen, wie ich als Junge erwachsen werden sollte: Erfolg, Kinder, Auto, Haus – diese Dinge.
Aber er hat mir auch sehr oft seine sensible Seite gezeigt. Er hat viel geweint, er hat geschrieben, er war sehr kreativ und sensibel in der Familie.
In Gesprächen zum Bühnenprogramm habe ich ihm viele Fragen gestellt, auch zur Rollenverteilung meiner Eltern. Mein Vater hat durch seine Offenheit und seine Verletzlichkeit sehr viele Denk- und vielleicht auch Herzensräume geöffnet. Auch wenn ich jetzt mit 75 Jahren keinen großen Feministen mehr aus ihm machen werde.
hessenschau.de: Was ist mit deutschen Männern in herausgehobenen Funktionen, die vielen jüngeren Männern eine Orientierung bieten könnten? Politiker etwa wie Friedrich Merz sind bislang nicht als Feministen aufgefallen.
Altıntaş: Wir leben in Deutschland immer noch in einem relativ konservativen Land, in dem Gesetze mehrheitlich von Männern gemacht werden, und die vor allem Frauen benachteiligen – Beispiel Ehegattensplitting. Es braucht politische Rahmenbedingungen, um das zu ändern.
Wir haben in Berlin jetzt das Beispiel gehabt, dass genau wegen rassistischer Narrative über junge migrantische Männer (nach den Silvesterkrawallen, Anm. d. Red.) auch Wahlkämpfe gewonnen wurden. Und ein Friedrich Merz scheut sich ja auch nicht, von Diskriminierung gegen Männer zu sprechen. Es gibt diese Gegenbewegung in der Gesellschaft in den letzten zwei, drei Jahren. Und da ist nicht nur Friedrich Merz ein Problem, da ist auch ein Jens Spahn ein Problem, aber auch viele andere.
hessenschau.de: Welches ist das mächtigste Gegengift gegen toxische Männlichkeit und damit Gewalt und Antifeminismus?
Altıntaş: Wir brauchen noch mehr Männer, die die Klappe aufmachen und dagegen argumentieren. Männer haben die Macht und somit auch die Macht, von ihren Privilegien etwas abzugeben. Wir brauchen also vor allem unter den Männern, die zum Beispiel eine politische Macht haben, den Mut, diese verkrusteten Strukturen aufzubrechen.
Wir brauchen viel mehr Mut, Geschlechtergerechtigkeit noch stärker in den Fokus zu rücken. Und wir müssen Rollenbilder aufbrechen, mit denen unsere Kinder erzogen werden und das Thema Geschlechtergerechtigkeit auch in die Schulen holen.
Hinzu kommt, dass an vielen Stellen im Internet eine antifeministische Gegenrevolution stattfindet. Und deshalb müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Wie können wir eine feministische Revolution eigentlich auch im digitalen Raum starten, um genau diesen antifeministischen Strukturen und auch Tendenzen entgegenzuhalten? Ich glaube, das muss die Politik noch ernster nehmen. Genau das würde ich mir wünschen.
hessenschau.de: Warum ist es so schwer für Männer, Nähe zuzulassen und Verletzlichkeit zu zeigen? Könnten diese Gefühle nicht auch ein Gegengewicht sein?
Altıntaş: Absolut. Männer denken ja immer noch, sie müssten Unsicherheit oder Verletzlichkeit durch Aggressivität oder Gewalt kompensieren. Wir brauchen mehr Vorbilder, die auch in der Öffentlichkeit zeigen, dass es anders geht. Männer, die miteinander sprechen und das auch kultivieren. Und auch da spielen die politischen Rahmenbedingungen eine Rolle.
Soweit die sehr verkrusteten Rollenbilder nicht aufgebrochen werden, wird es auch auf individueller Ebene sehr, sehr schwer für Männer, den Mut aufzubringen, Verletzlichkeit zu zeigen. Und: Weinen und Verletzlichkeit sind nur allererste Schritte, um dieses ganze System der Männlichkeit zu hinterfragen.
hessenschau.de: Woher könnte der Mut kommen, es doch zu tun? Sind Sie ein Mutmacher?
Altıntaş: Damit tue ich mich immer schwer. Ich habe meinen Mut gefunden durch meine Freundin, Freundinnen, meine Schwestern und durch feministische Literatur. Diesen Tipp gebe ich gerne auch jungen Männern: Folge doch bei Instagram auch mal feministischen Accounts.
Ich will aus meiner Perspektive, der türkisch-muslimischen Perspektive, Mut machen, sich allseits für Menschlichkeit zu interessieren und schreibe gegen diese rassistischen Narrative an. Und vielleicht kann mein Buch auch ein Mutmacher für andere sein. Das bleibt aber jedem selbst überlassen.
Sendung: hr2, 20.04.2023, 07.14 Uhr
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