Vier Jahre nach dem Anschlag von Hanau Warum Çetin Gültekin ein Buch über seinen ermordeten Bruder schrieb
Gut vier Jahre nach dem rassistischen Anschlag von Hanau veröffentlicht einer der Hinterbliebenen ein Buch über seinen getöteten Bruder. Çetin Gültekin will damit wachrütteln.
Wenn Çetin Gültekin durch sein Buch blättert und darüber spricht, bekommt er immer wieder glasige Augen. "Erstmals seit es diesen Anschlag gab, kann ich von einem Erfolgserlebnis sprechen", erklärt er und hält das Buch fest wie einen Schatz. Wer den 49-Jährigen in diesen Tagen erlebt, stellt fest: Nur selten legt er das Buch aus der Hand.
Kein Wunder – hat er doch knapp drei Jahre Zeit darin investiert. Ein harter Weg, wie er verrät. In "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" erzählt Gültekin die Geschichte seines Bruders Gökhan, der beim rassistischen Anschlag 2020 in Hanau ermordet wurde. "Und zwar gnadenlos ehrlich", wie er sagt.
Die letzten Stunden im Leben des Bruders
So skizziert er die letzten Stunden in Gökhans Leben, wie sie ihm von Überlebenden und Augenzeugen beschrieben wurden, berichtet von seinen Erlebnissen in der Nacht des Anschlags, von der Beerdigung und dem Kampf der Hinterbliebenen um Aufklärung und Konsequenzen bis heute.
Çetin Gültekin erzählt aber auch, dass sein Bruder die Schule ohne Abschluss verließ, dass er deshalb Probleme hatte, Arbeit zu finden und dass er kein Glück hatte im Umgang mit Frauen. "Das hat mich viel Überwindung gekostet", erinnert er sich. "Ich habe lange überlegt, ob ich das überhaupt machen soll."
Bei vielen Menschen im Familien- und Freundeskreis sei die Idee, so viel Persönliches – und eben auch Unvorteilhaftes – preiszugeben, gar nicht gut angekommen. Gültekin sagt: "Ich bin kein Stephen King. Ich denke mir nichts aus, sondern ich bin ehrlich und erzähle, was passiert ist."
Schmerzhafte Erinnerungen
Dabei sei er durch die Hölle gegangen. All die schönen, aber eben auch die unschönen Erinnerungen erneut zu erleben – das sei hart gewesen. Deshalb musste die Arbeit auch immer wieder unterbrochen werden, erzählt Gültekins Freund Mutlu Koçak, der das Buch mit ihm geschrieben hat.
"Er ist öfter über seinen Schatten gesprungen", so Koçak. "Es sind drei sehr turbulente Jahre gewesen, wo man auch mal mitten im Interview zusammen geweint hat, weil es einfach nicht mehr anders ging."
Gemeinsam hätten sie Gökhan Gültekins Lieblingsorte in Hanau besucht, seien Bilder aus Kindertagen der Gültekins durchgegangen, aber auch den Obduktionsbericht inklusive der Fotos. "Diese Bilder verfolgen mich. Wie soll das ein Hinterbliebener aushalten, wenn ich als Außenstehender davon träume?"
Ein Buch als Schocktherapie
Koçak spricht deshalb gern von einer Schocktherapie – die soll das Buch auch im Kampf gegen Rassismus sein. Zumindest hofft der 32 Jahre alte Soziologe und Politikwissenschaftler, dass es "viele in die Hand nehmen, es lesen und daraus lernen."
Die beiden Freunde sind überzeugt: Die 16 Kapitel auf den gut 300 Seiten zeigen, dass Gökhan Gültekin ein ganz normaler Mensch war, einer von vielen in Deutschland mit Migrationsgeschichte und Teil der Hanauer Stadtgesellschaft.
Für den rassistischen Attentäter war er aber einfach ein Fremder. "Rassismus abschaffen können wir nicht. Aber wir können vielleicht Rassismus ein bisschen minimieren", sagt Çetin Gültekin und hofft, dass der Tod seines Bruders nicht umsonst war.
Beitrag auch zur politischen Bildung
Ob das Buch eines Tages Lektüre in Schulen wird, zum Bestseller in Buchläden oder nichts dergleichen – zumindest die Hanauer Stadtbibliothek wird das Buch in ihr Sortiment aufnehmen. Es soll Platz finden neben anderen Büchern über Rassismus, Demokratie und politische Bildung.
Genau hier, im Hanauer Kulturforum, stellt Çetin Gültekin das Buch am Donnerstagabend einem ausgewählten Publikum vor, zusammen mit seiner Anwältin Seda Başay-Yıldız und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Am 19. Januar wird es außerdem eine Lesung geben.
In den kommenden Wochen gehen Çetin Gültekin und Mutlu Koçak mit ihrem Buch auf Deutschlandtour. Dann erscheint noch ein weiteres Buch eines Hinterbliebenen: Said Etris Hashemi, der beim Anschlag seinen Bruder und mehrere Freunde verlor und selbst schwer verletzt überlebte, hat ebenfalls ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben: "Der Tag, an dem ich sterben sollte".
Redaktion: Alexandra Müller-Schmieg
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 11.01.2024, 16.45 Uhr