Vor 80 Jahren Das Grauen des NS-Todesmarschs von Frankfurt nach Hünfeld

März 1945, kurz vor Kriegsende. US-Truppen stehen vor Frankfurt. Wohin also mit den Zwangsarbeitern aus dem KZ Katzbach auf dem Werksgelände der Adlerwerke? Die SS treibt rund 360 Häftlinge zu Fuß bis nach Hünfeld - ein Todesmarsch bei Eis und Schnee.

Es muss ein Bild des Grauens gewesen sein: Etwa 360 ausgemergelte Menschen schleppen sich am Abend des 24. März 1945 von den Adlerwerken im Frankfurter Gallus ans nördliche Mainufer. Über die Hanauer Landstraße geht es weiter Richtung Osten.

Es sind Zwangsarbeiter, sie tragen dünne, verdreckte Häftlingskleidung und werden von SS-Soldaten vorangetrieben. Von Hünfeld soll es mit Güterwaggons weitergehen, ins Konzentrationslager Buchenwald.

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Gedenkveranstaltungen

Zum 80. Jahrestag des Todesmarschs finden in Frankfurt und anderen Gemeinden entlang der Route Veranstaltungen statt. Dazu gehört auch ein Tag der offenen Tür am Sonntag, 23. März, im Geschichtsort Adlerwerke. Am Montag wird der Opfer in der Frankfurter Paulskirche gedacht. Eine Übersicht finden Sie hier.

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"Wir waren in einem elenden Zustand"

Der Pole Andrzej Branecki ist damals gerade 15 Jahre alt. Auch er wird auf den Todesmarsch geschickt. Im Buch "Die letzten Zeugen" von Joana Skibinska berichtet er von seinen Erinnerungen: "Wir waren in einem elenden Zustand. Als wir Fulda passierten, hat uns eine Gruppe amerikanischer oder englischer Kriegsgefangener gesehen, die ebenfalls von der SS bewacht wurde. Wir müssen einen furchtbaren Eindruck auf sie gemacht haben, da sie sofort anfingen, uns Lebensmittel zuzuwerfen. Die SS-Leute versuchten, sie davon abzuhalten, indem sie in die Luft schossen."

Schwarzweiß-Foto eines älteren Herren, der beim Reden gestikuliert.
Andrzej Branecki Bild © M. Rusinek

Die SS-Soldaten haben es eilig, von der heranrückenden US-Armee wegzukommen. Sie treiben die Gefangenen immer weiter vorwärts. Wer nicht mehr weiter kann, legt sich in den Straßengraben und wird von der SS erschossen, genau wie diejenigen, die versuchen zu fliehen.

Andrzej Branecki berichtet, dass sich an den Straßenrändern der tauende Schnee mit Blut vermischt.

Aufstellwand, an der die Route des Todesmarschs nach Hünfeld illustriert ist.
Blick in den Geschichtsort Adlerwerke. Bild © Juliane Orth (hr)

Morde in Maintal, Gelnhausen, Wächtersbach

Das Schicksal der Häftlinge hängt auch von den Menschen in den Orten ab, durch die der Todesmarsch führt. Ein weiterer Überlebender, Janusz Garlicki, erzählt davon in seinem Buch "Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben".

Er schildert, wie ein Mitgefangener einem Kind am Straßenrand ein Stück Brot abgenommen habe, aus Hunger. Die Mutter des Kindes habe die Wachmänner gerufen. Der Häftling wurde beiseite geführt und erschossen.

Der Todesmarsch führt über Maintal, Gelnhausen, Wächtersbach und Fulda und durch mehr als 20 Dörfer. Die ersten zwei Tage bewegt sich der Trupp nur in der Dunkelheit, dann auch am Tag, weil es schnell gehen muss. Die US-Armee rückt immer näher. Der Zug fällt auf und es bleiben Leichen zurück, um die sich die Menschen vor Ort kümmern müssen. Manche werden auf den Friedhöfen vor Ort beerdigt.

Historisches s/w-Bild mit Menschen, die auf einer Straße hinter geöffneten Särge stehen.
Exhumierung von auf dem Todesmarsch gestorbenen Häftlingen in Maintal-Dörnigheim. Bild © Juliane Orth (hr)

Am 29. März erreicht der Todesmarsch Hünfeld. Von dort geht es weiter ins Konzentrationslager Buchenwald, wo nur 280 Häftlinge ankommen.

Mörderische Verhältnisse im KZ Katzbach

Insgesamt leben 1.616 Häftlinge zwischen August 1944 und März 1945 unter schlimmsten Umständen im KZ Katzbach in Frankfurt. Die meisten stammen aus Polen, viele waren am Warschauer Aufstand beteiligt. Der Überlebende Andrzej Branecki sagt später, das KZ Katzbach sei der schlimmste Ort gewesen, an dem er in seinem ganzen Leben war.

Die Häftlinge schlafen auf Brettern, leiden unter ständigem Hunger und Kälte und der Gewalt und Willkür der SS. Allein vor Ort sterben 527 Menschen. Auf dem Frankfurter Hauptfriedhof existiert ein Gemeinschaftsgrab mit Namen von verstorbenen Häftlingen, allerdings teils fehlerhaft und unvollständig. Aus Anlass des 80. Jahrestags wird eine neue Gedenkstele mit den Namen aller Verstorbenen installiert.

Dass kurz vor Kriegsende ein Todesmarsch durch Hessen führte und in aller Öffentlichkeit schwere Gräueltaten der SS passierten, ist immer noch zu wenig bekannt – genauso wenig wie die Tatsache, dass es zuvor im Frankfurter Gallusviertel ein Konzentrationslager gab. Wie kommt es damals dazu, dass mitten in der Stadt ein solches Lager existiert?

Im Sommer 1944 fehlen Arbeitskräfte, die in den Adlerwerken die weitere Produktion von Gütern für die Rüstungsindustrie ermöglichen. Schon seit 1941 sind dort Zwangsarbeiter beschäftigt, aber jetzt kommen erstmals Häftlinge aus Konzentrationslagern zum Einsatz, berichtet der Leiter des Geschichtsorts Adlerwerke Thomas Altmeyer.

Die Menschen werden direkt in den Adlerwerken untergebracht, die zu dem Zeitpunkt schon mehrfach unter Beschuss geraten sind. Das Gebäude ist beschädigt, auch die Räume in der dritten, vierten und fünften Etage, in denen die Häftlinge leben und arbeiten: im KZ Katzbach.

In den Adlerwerken zu Tode geprügelt

Darauf stehen auch die Namen von Florian und Tadeusz Swistak, Vater und Bruder von Zygmund Swistak, der das KZ Katzbach und danach noch weitere Konzentrationslager überlebt.

Sein Bruder Tadeusz wird in den Adlerwerken von der SS zu Tode geprügelt. Erst viele Jahre nach dem Krieg erfährt Zygmund Swistak, dass sein Vater auf dem Todesmarsch nach Hünfeld umgebracht wurde.

Berührender Moment auf dem Hauptfriedhof

Zygmund Swistak ist der einzige Überlebende seiner Familie. Nach dem Krieg liegt er lange im Krankenhaus und emigriert dann nach Australien. "Möglichst weit weg von Europa wollte er sein", erinnert sich seine Tochter Jenni Hauwert-Swistak.

Frau mit langen Haaren, Brille, schwarz gekleidet, steht vor einer Backsteinwand.
Jenni Hauwert-Swistak Bild © Juliane Orth (hr)

Die 61-Jährige ist für den 80. Jahrestag des Marsches von Australien nach Frankfurt gereist und nimmt an der Einweihung der Gedenkstele auf dem Hauptfriedhof teil. Es sei ihr wichtig, sagt Jenni Hauwert-Swistak, dass man sehe, dass "diese 527 Menschen Namen hatten, sie hatten Familien und sie waren echte Menschen".

Mit dem Gemeinschaftsgrab auf dem Hauptfriedhof verbindet Jenni Hauwert-Swistak außerdem ein besonders Erlebnis. Schon 1998 ist sie mit ihrem Vater dort. Die beiden haben damals Schwierigkeiten, die Namen zu finden, die in Stein auf dem Boden eingelassen sind.

Schwarzweiß-Foto einer vierköpfigen Familie, recht ein Kind, daneben ein Mann, ein weiteres Kind und die Mutter.
Die Familie Swistak, Zygmund rechts. Bild © privat

"Also knieten wir alle nieder und begannen zu suchen, und Dad fand einige Namen seiner Freunde, die er vorlas. Und dann fand ich den Namen seines Bruders, meines Onkels." Noch heute bekommt sie glasige Augen, als sie sagt: "Es war das erste Mal, dass ich meinen Vater weinen sah. Es war überwältigend."

Kampf um Erinnerung ändert ein Leben

Von diesem Moment an setzt sich Zygmund Swistak dafür ein, dass es in Frankfurt einen Erinnerungsort gibt. Im März 2022, als der Geschichtsort Adlerwerke eröffnet wird, ist er schon 97 Jahre alt und wird per Video dazu geschaltet. Fünf Monate später stirbt Zygmund Swistak. Jenni Hauwert-Swistak ist sich sicher, dass ihr Vater so lange gelebt hat, um das noch zu erleben.

Jenni Hauwert-Swistak beschreibt ihren Vater als "gequälte Seele". Er sei oft wütend und rachsüchtig gewesen. Aber der Kampf für den Erinnerungsort und der Austausch mit anderen Überlebenden habe ihn weicher gemacht, sagt sie.

Schwarzweiß-Bild eines alten Mannes mit weißen Haaren und Bart, der an einem Holzzaun lehnt. Er trägt sehr weite, ärmliche Kleidung. Im Hintergrund ist ein Farmhaus zu sehen, das eher wie eine Hütte wirkt.
Zygmunt Swistak in Australien. Bild © privat

Doch er habe sehr stark unter Depressionen gelitten, besonders in den Nächten, und er habe nicht schlafen können. Sie sagt, es sei traurig zu wissen, dass er nie ganz glücklich schien.

Die Worte des Vaters sprechen

Am Montag wird Jenni Hauwert-Swistak bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Todesmarschs und dem Ende des KZ Katzbach in der Paulskirche sprechen. Sie weiß jetzt schon, dass sie weinen wird, sagt sie. Aber es ist ihr wichtig, dabei zu sein.

"Um Dads Vermächtnis zu erfüllen." Wäre er hier, da ist sie sich sicher, würde er "mit seiner tiefen Stimme alles erzählen. Aber so spreche ich seine Worte."

Schwarzweiß-Kohlezeichnung von Männern in gestreifter Häftlingskleidung, die von einem Wärter in Uniform mit einem Knüppel eine Treppe hinuntergetrieben werden.
Zeichnung von Zygmunt Swistak. Bild © privat

Jenni Hauwert-Swistak erinnert in der Paulskirche an die insgesamt 1.616 Häftlinge des KZ Katzbach. Es wird geschätzt, dass nur etwa 120 von ihnen die NS-Zeit überlebt haben.

Redaktion: Sonja Fouraté

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de