Zehn Jahre Seriale-Festival "Serien haben den Kinofilm abgelöst"
Vor zehn Jahren gründeten ein paar Serienfans in Gießen die "Seriale". Inzwischen ist das Festival das wichtigste seiner Art in Deutschland. Im Interview spricht Gründer Csongor Dobrotka darüber, wie es dazu kam.
Gießen und Wetzlar rollen den roten Teppich aus: Ab Mittwoch sind wieder viele internationale Filmemacher zu Gast bei der Seriale (bis 3. Juni), dem wichtigsten Festival für unabhängige digitale Serien in Deutschland. Es ist die zehnte Auflage des Festivals. Allein im offiziellen Wettbewerb sind 42 Serien und acht Pilotfolgen aus 16 Ländern zu sehen.
Präsentiert werden unter anderem die preisgekrönte, in Offenbach gedrehte Serie "Becoming Charlie", bei der es um Geschlechtsidentität und soziale Probleme geht. Weitere Höhepunkte sind die Frankfurter Serie "Secürity", die ins Sicherheitsgeschäft abtaucht, oder die argentinische Serie "Hell", die sich mit den Untiefen der sozialen Medien beschäftigt.
Einer der Gründer des Festivals ist Csongor Dobrotka. Mit hessenschau.de spricht er über die Anfänge des Festivals, über die Bedeutung von Netzwerken und über Hessen als Serien-Standort.
Das Gespräch führten Marc Klug und Sonja Fouraté
Ende der weiteren Informationenhessenschau.de: Herr Dobrotka, vor 25 Jahren starteten "Die Sopranos". Die Serie über eine italo-amerikanische Mafiafamilie gilt als erste Qualitätsserie und hat das Fernsehen revolutioniert. Wo stehen wir heute?
Csongor Dobrotka: Vor 25 Jahren war der Kinofilm das beliebteste Film-Medium beim Publikum, und das hat sich komplett geändert. Wir reden darüber, welche Serien wir geschaut haben und immer seltener, welche Kinofilme. Das heißt, dass Serien den Kinofilm ein bisschen abgelöst haben.
hessenschau.de: Aber sind Serien inzwischen nicht Mainstream geworden?
Dobrotka: Auf der einen Seite hat die Qualität von Serien auf jeden Fall zugenommen, auch was das technische Niveau angeht. Man kann kaum unterscheiden, ob man eine Serie oder einen Kinofilm schaut. Auf der anderen Seite: Dadurch, dass die hohe Qualität Standard ist, werden Inhalte immer öfter reproduziert.
Wir haben zwar eine große Vielseitigkeit in der Serienlandschaft, aber dramaturgisch gesehen haben wir es oft mit ähnlichen Strukturen zu tun. Deswegen zeigen wir bei der Seriale Independent-Serien, die innovative Erzählformen und Inhalte haben.
hessenschau.de: Wie weit haben deutsche Serien inzwischen aufgeholt?
Dobrotka: Was den Mainstream-Serienbereich angeht, sind die USA fast uneinholbar vorne. Das ist bei den Independent-Serien etwas anders. Wir zeigen diesmal 16 Serien aus Deutschland und jeweils acht Serien aus Kanada und Argentinien. Daran sieht man, in welchen Ländern Independent-Serien oder kurzformatige Serien weiterentwickelt werden.
In diesen Serien geht es um Themen, die kaum im Mainstream-Serienbereich vorkommen. Es geht um soziale Ungleichheit, um Geschlechteridentitäten, einfach um wichtige Themen für die Filmemacherinnen und Autorinnen, die sie ohne eine prüfende Instanz umsetzen konnten. Und diese haben sich qualitativ im Vergleich zu zehn Jahren viel weiter entwickelt.
hessenschau.de: Ein Fokus der Seriale liegt auch auf hessischen Serien. Wie ist Hessen als Produktionsstandort?
Dobrotka: In Hessen haben die Serienmacherinnen und -macher einen Nachteil zu einem Vorteil gemacht. Wir haben hier keine Filmakademie, sondern eher ein Netzwerk aus Hochschulen. Und der direkte Zugang zum Fernsehsender ist nicht ganz so leicht wie womöglich in Berlin. Dadurch müssen alle kreativer sein und diese Kreativität bringt viele Independent-Produktionen mit sich.
Tatsächlich ist es so, dass in den vergangenen zehn Jahren die meisten Independent-Serien aus Hessen kamen - im Vergleich zu allen anderen Bundesländern. In der Zwischenzeit gibt es auch eine Förderung durch die HessenFilm.
Ich hoffe, dass die Seriale den Serienmachern ein bisschen geholfen hat, denn sie hat sich auch zu einer Marketingplattform entwickelt. Wir haben viele internationale Produzenten da.
hessenschau.de: Haben Sie vor zehn Jahren bei der Gründung gehofft, dass sich die Seriale so entwickeln würde?
Dobrotka: Ursprünglich hatten wir nicht einmal vor, ein Festival zu gründen. Wir wollten Macher von Independent-Serien zusammenbringen. Wir wollten Serien zeigen, die im Fernsehen nicht vorkamen. Anfangs war das als Kinotour geplant mit einem unglaublich niedrigen Budget. Auf unseren ersten Aufruf bekamen wir an die 50 Serien aus Deutschland eingereicht - womit wir wirklich nicht gerechnet haben.
hessenschau.de: Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Dobrotka: Da ist einmal der Standort in der Nähe zum Frankfurter Flughafen. Wir haben beim ersten Mal Gießen ausgewählt, weil es mitten in Deutschland war. Die Atmosphäre war so schön und familiär, dass wir gedacht haben: Okay, wir machen hier weiter. Seit 2017 ist es eine internationale Veranstaltung, da uns irgendwann bewusst wurde, dass es bei Webserien keine Grenzen gibt.
hessenschau.de: Wie wurden die internationalen Serienmacher auf Sie aufmerksam?
Dobrotka: Ich hatte 2016 eine Serie gemacht, bin damit sehr viel zu anderen Festivals gereist und habe festgestellt, dass es zwischen den Independent-Serienfestivals ein großes weltweites Netzwerk gibt. Wir organisieren und unterstützen uns, haben zum Beispiel die Festivals nie zur gleichen Zeit. Oder wir tauschen Serien aus, sodass diese eine internationale Plattform bekommen.
Diese Kooperation hat dazu geführt, dass wir bekannter wurden. Und inzwischen sind wir ein Team von 70 bis 80 Personen. Unser Programm läuft für sechs statt nur zwei Tage. Wir zeigen Serien aus mehr als 16 Ländern und haben ein großes Rahmenprogramm aufgelegt.
hessenschau.de: … das Sie auch stark ausgebaut haben. Es gibt Gespräche mit Serienmacherinnen und -machern, Vorträge, Workshops und ein Bildungsprogramm.
Dobrotka: Da wir das einzige Festival für dieses Medium in Deutschland sind, bilden wir auch eine erste Anlaufstelle für neue Talente, denen wir Kontakte in die Branche ermöglichen, auch international. Ich würde sogar sagen, die wichtigsten Distributoren für Webserien sind jedes Jahr hier.
hessenschau.de: Wie geht es weiter? Wie sehen die kommenden zehn Jahre aus?
Dobrotka: Es ist ein bisschen wie mit den Independent-Serien selbst: Es ist ein Prozess und wir müssen die Gegebenheiten immer neu reflektieren und uns weiterentwickeln. Wenn wir das nicht machen, schaffen wir es vielleicht nicht mehr, den Zeitgeist zu treffen. Das bedeutet: Ich weiß nicht, was kommt, aber wir machen weiter und wir sind gut vorbereitet.
Sendung: hr2, 29.05.2024, 17.45 Uhr
Ende der weiteren Informationen