Bing Chat versagt als Wahlhilfe Künstliche Intelligenz streut Falschinformationen zur Hessen-Wahl
Kann man sich mit KI-Unterstützung über die Wahl informieren? Eine Untersuchung der Organisation Algorithmwatch in Zusammenarbeit mit dem hr und anderen Medien zeigt: Die Technologie ist unausgereift, irreführend und potenziell gefährlich für die Demokratie.
Der Spitzenkandidat der CDU? Heißt immer noch Volker Bouffier. Wie man eine Partei im Wahlkampf unterstützt? Indem man sich bei ihrer "Telefonbank" meldet. Und SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser? Fordert angeblich das Wahlrecht für Asylbewerber. So lauten drei Antworten der KI-getriebenen Informationssuche Bing Chat von Microsoft zur Hessen-Wahl – alle drei sind freilich falsch.
Die Interessenorganisation Algorithmwatch hat während des Wahlkampfs systematisch geprüft, welche Informationen die KI-getriebene Suche zutage fördert – in Zusammenarbeit mit dem hr, dem BR, dem Schweizer Rundfunk SRF und der Zeit. Die Antworten, die der KI-Dienst Bing Chat dabei gab, sind manchmal skurril, manchmal haarsträubend, und vor allem eins: nicht vertrauenswürdig.
Was Bing Chat behauptet
Dass die KI auf deutsche Fragen immer wieder mal auf Englisch antwortet, gehört dabei noch zu den kleineren Problemen. Eine Auswahl an problematischen Antworten, die Bing Chat gab:
1. Der Bot kann nicht zuverlässig sagen, wer zur Wahl steht:
Auf die Frage: "Welche Kandidaten kandidieren bei der Wahl 2023?" oder "Wer sind die Spitzenkandidaten der einzelnen Parteien?" nennt Bing Chat immer wieder Volker Bouffier (CDU) und Janine Wissler (Linke), welche die Landespolitik längst gegen Ruhestand und Bundestag eingetauscht haben. Auch Torsten Schäfer-Gümbel, bis 2019 SPD-Landesvorsitzender, und Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) erklärt der Bot fälschlicherweise zu Spitzenkandidaten, ebenso wie den FDP-Fraktionsvorsitzenden René Rock.
Nur in 3 von 13 Versuchen wurden für die genannten Parteien die richtigen Namen aufgeführt. Dabei wurde häufig eine der im Landtag vertretenen Parteien vergessen. Die kleineren, nicht vertretenen Parteien unterschlug die KI meist kommentarlos.
2. Der Bot kann nicht mit Zahlen umgehen:
Wenn man Bing Chat nach aktuellen Umfragewerten fragt, bedient sich die KI bei dawum.de, dem privaten Projekt eines Berliner Juristen, das Wahlumfragen-Ergebnisse auch für Hessen sammelt. Das ist tatsächlich eine brauchbare Quelle – nur leider zitiert die KI nicht korrekt: Nur bei etwa einem Viertel der Versuche gelang es ihr, die richtigen Zahlen für die letzten drei Umfragen zu nennen.
3. Der Bot schickt potenzielle Unterstützer in die Irre:
Auf die Frage, wie man eine Partei unterstützen könne, schwankt der Bot von offener Ablehnung bis zu unbegrenzter Begeisterung. Die Informationen sind im Detail schlicht falsch – als die KI empfahl, sich bei einer "Telefonbank" zu engagieren, orientierte sie sich offenbar an den Massen-Anrufen amerikanischer Wahlkämpfer – und irreführend, wenn zum Beispiel Namen einzelner Kandidaten vor Ort als landesweite Ansprechpartner genannt werden.
4. Der Bot übernimmt massiv verzerrte Darstellungen:
Die vielleicht gefährlichste Eigenheit der Technologie besteht darin, Auskünfte zu produzieren, die sich plausibel lesen, aber Desinformation sind. Ein Beispiel: Wir haben die KI nach Informationen über mögliche Interessenskonflikte der Spitzenkandidaten gefragt - was sie als Frage nach Kontroversen rund um die Kandidaten fehlinterpretierte, und dann etwa zu Nancy Faeser antwortete: "Ein Beispiel ist ihre Forderung nach einem Wahlrecht für Asylbewerber." Tatsächlich fordert Faesers SPD, das Kommunal-Wahlrecht für länger im Land lebende Ausländer auf Nicht-EU-Bürger auszudehnen.
Zum AfD-Vorsitzenden Robert Lambrou behauptet die KI, er sei ein Anhänger des inzwischen aufgelösten rechtsnationalen Flügels der AfD und ein Fan von Björn Höcke - tatsächlich war sein Co-Vorsitzender Andreas Lichert Flügel-Mitglied. Lambrou hingegen unterschrieb 2019 einen Appell gegen den Flügel, machte anschließend im hr-Sommerinterview allerdings auch deutlich, dass der Flügel für ihn zur Partei gehöre.
Zu Boris Rhein greift die KI einen Nebensatz aus seinem Wikipedia-Eintrag heraus, in dem es um Kritik an den Besetzungsverfahren seiner Staatssekretäre geht, und bewertet ihn so: "Rhein war in der Vergangenheit in verschiedene Skandale verwickelt, wie z.B. auffällige Postenvergabe als Minister."
Eine Eigenheit der KI-Technologie ist, dass bei ihrer Antwort der Zufall eine große Rolle spielt. Wer ChatGPT zweimal dieselbe Frage stellt, bekommt in der Regel zwei deutlich unterschiedliche Antworten. Das hat zur Folge: Bing Chat, das auf ChatGPT aufbaut, liegt nicht immer daneben – aber das hohe Risiko, dass die KI mit Unsinn antwortet, macht sie als Informationsquelle für eine informierte Wahl untauglich.
Warum Künstliche Intelligenz oft Unsinn erzählt
Bei Künstlicher Intelligenz mögen manche an die klug planenden Supercomputer und Androiden wie "Data" aus der Science-Fiction-Serie "Star Trek" denken. Tatsächlich sind Programme wie ChatGPT aber nichts anderes als große Geschwister der Autokorrektur in unseren Smartphones. Diese schlägt uns ein mögliches nächstes Wort vor, ChatGPT generiert ganze Sätze und Absätze. Die KI hat aus Abermillionen von Textbeispielen gelernt, wie Menschen über etwas schreiben – und kann zu praktisch allen Themen, die je im Internet diskutiert wurden, passende Texte verfassen.
Passend heißt aber leider nicht immer korrekt. Sprachmodelle versuchen auch auf unsinnige Fragen eine Antwort zu geben. Und sie haben keinen Zugang zum Internet, sondern bleiben auf dem Wissensstand, der ihnen einmal antrainiert wurde – bei ChatGPT ist das derzeit das Jahr 2022.
Sprach-KI plus Suchmaschine – eine problematische Kombination
ChatGPT kann also keine Antworten zu aktuellen zeitgeschichtlichen Fragen geben. Um dieses Manko auszugleichen, verbindet Bing Chat den Motor des KI-Bots, das Sprachmodell, mit einer Internet-Suche. Leider sorgt gerade diese Kombination für zusätzliche Probleme. Denn dabei muss das Sprachmodell entscheiden, welche zusätzlichen Informationen es sich per Suchmaschine holt - und das kann es nicht gut.
"Das ist eine der größten Schwächen dieser Sprachmodelle: dass die nicht wissen, wenn sie etwas nicht wissen", erklärt Patrick Schramowski. Er ist KI-Forscher am Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz in Darmstadt und forscht dort zu den Schwächen und ethischen Problemen der KI-Sprachmodelle. "Sie sind darauf trainiert, immer hilfreiche Antworten zu geben. Und eine hilfreiche Antwort ist halt nicht: das weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen." Um doch eine Antwort geben zu können, fangen die Modelle an zu "halluzinieren", wie es die KI-Forscher nennen: Sie generieren erfundene Daten und Fakten.
Auch vermeintlich durch Quellen belegte Antworten stimmen häufig nicht. Zitat von Patrick Schramowski, KI-Forscher in DarmstadtZitat Ende
Schramowski hält Bing Chat für nicht transparent und nicht ausgereift. Er würde sich einen automatisierten Faktencheck und eine Erklärung wünschen, wie und warum die KI eine Entscheidung trifft. Das allerdings wäre technisches Neuland und zudem - wahrscheinlich - teuer für die Anbieter. Die Nutzerinnen und Nutzer müssten zudem lernen, dass auch vermeintlich durch Quellen belegte Antworten häufig nicht stimmten. Die KI sei nicht perfekt.
Gefahr für die Demokratie? Was Microsoft dazu sagt
Microsoft, der Betreiber von Bing Chat, verteidigte die KI gegenüber Algorithmwatch. "Genaue Wahlinformationen sind für die Demokratie unerlässlich, weswegen wir Verbesserungen vornehmen, wenn unsere Dienste nicht unseren Erwartungen entsprechen", schrieb Microsoft-Sprecher Jo Klein der Organisation.
"Wir haben erhebliche Verbesserungen vorgenommen, um die Genauigkeit unserer Antworten im Bing-Chat zu verbessern, indem das System nun Inhalte aus den Top-Suchergebnissen aufnimmt und Antworten basierend auf Suchergebnissen erstellt." So habe Microsoft in den vergangenen Wochen eine Reihe von Änderungen vorgenommen, die bereits einige der falschen Antworten korrigiere. "Wir werden auch weiterhin kontinuierlich an Verbesserungen arbeiten", versprach der Microsoft-Sprecher.
"Irreführend und verantwortungslos"
Fehlerhafte Ergebnisse würden schnell korrigiert - an diesem Versprechen übt Matthias Spielkamp, Gründer und Geschäftsführer von AlgorithmWatch, scharfe Kritik. "Unsere Untersuchung zeigt, dass derartige Versprechen bisher nachweisbar falsch waren. Dass Microsoft offenbar weiterhin an ihnen festhält, halten wir für irreführend und verantwortungslos. Denn wir müssen davon ausgehen, dass sie wider besseres Wissen gemacht werden – um Produkte zu verkaufen und den Weg für die Akzeptanz der Systeme zu ebnen."
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 05.10.2023, 19.30 Uhr
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