Radeln in die Mitte der Gesellschaft Blinder Fahrradfahrer fährt 800 Kilometer bei Euro-Tandem-Tour

Hinfallen, durchatmen, wieder aufstehen: Andreas Loose aus Kassel kämpft sich seit 27 Jahren seinen Weg zurück aufs Fahrrad. Ab Sonntag fährt der blinde Sportler 800 Kilometer auf dem Tandem durch Deutschland. Damit will er auch andere blinde Menschen motivieren.

Andreas Loose ist blinder Tandemfahrer
Andreas Kropf (links) vom Kulturzentrum Schlachthof entwickelt die App-Idee mit und ist der neue Co-Pilot von Andreas Loose (rechts). Bild © Lara Shehada
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Vorsichtig setzt Andreas Loose einen Fuß vor den anderen. "Verdammt", flucht er. Vor Schmerzen zuckt er zusammen. Mitten im Hauseingang steht ein Holzklotz. Zum dritten Mal heute ist der 55-Jährige mit seinem Fuß dagegen gestoßen.

Loose ist blind. Der Holzklotz stand gestern noch an einer anderen Stelle. "Wir sprechen viel über Inklusion, aber es ist noch lange nicht alles perfekt", sagt er und greift nach seinem Blindenstock. Die gute Laune lässt er sich trotzdem nicht nehmen. Seit einigen Tagen kann er nur noch an eines denken: Fahrrad fahren.

Und das, obwohl es nach einem Unfall vor 27 Jahren seitens der Ärzte hieß: Schluss mit Radfahren. Seit zwei Jahren trainiert der 55-Jährige intensiv jeden Tag und ist mittlerweile wieder in Bestform.

Über 800 Kilometer in acht Tagen

Kommenden Sonntag fährt er mit seinem Co-Piloten gemeinsam mit 22 anderen Teams "die coolste Tandemtour des Jahres", wie er sagt.

Zeitgleich mit den Paralympics in Frankreich, an denen auch blinde Sportler aus Hessen teilnehmen, radeln die Teilnehmer bis zum 8. September quer durch Deutschland: über 800 Kilometer in acht Tagen, von Fulda über Magdeburg nach Leipzig und zurück. "Ich konzentriere mich auf den Fahrtwind und fühle mich einfach total lebendig", sagt er.

Teamwork und Vertrauenssache

Die vorderen Fahrer sehen den Weg und lenken, die hinteren wiederum sorgen für mehr Geschwindigkeit und Balance. Ohne gegenseitiges Vertrauen funktioniert der Sport nicht, erklärt Loose. Blinde Fahrer wie er trainieren wochenlang mit ihren Partnern und Partnerinnen. Mit dem elf Kilo schweren Tandemrad müssen sie über hundert Kilometer pro Tag schaffen.

Tourkonzept auch von blinden Radfahrenden erarbeitet

Die Tour wird von der HEM-Schwerger-Stiftung für Ehrenamt und Inklusion organisiert. Am Konzept haben mehrere blinde Fahrerinnen und Fahrer mitgearbeitet, so auch Maren Schwerger von der Stiftung.

Bis heute blieben Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen oft unter sich, spielten Blindenfußball oder Rollstuhlbasketball, sagt sie zu hessenschau.de. Wahrhaftige Inklusion sehe anders aus.

Einen Platz in der Mitte der Gesellschaft

Nicht ohne Grund findet die Euro-Tandem-Tour dieses Jahr gleichzeitig mit den Paralympics in Paris statt. Im Gegensatz zu den paralympischen Spielen ist die Euro-Tandem-Tour aber kein Wettbewerb.

Ein Gewinnerteam gibt es nicht. Maren Schwerger möchte nach eigenen Angaben vielmehr auch in Deutschland auf das Potenzial von Inklusion aufmerksam machen. "Radsport kann für blinde Menschen barrierefrei sein."

Finanzielle Hürde: 7.600 Euro für ein Fahrrad

Andreas Loose, blinder Tandemfahrer, steht mit Blindenstock neben Andreas Kropf und schaut ihn an
Andreas Loose mit Andreas Kropf von der Tchilla-Fahrradwerkstatt: Sie reparieren gerade ein altes Tandemrad. Bild © Lara Shehada

In der Praxis sind die Hürden allerdings hoch: Es gibt kaum Vereine und wenige Partner. Vor allem aber ist Tandemfahrern ein teurer Sport, so eine Sprecherin von Aktion Mensch. "Tandems sind sehr teuer und werden selten bis gar nicht von den Krankenkassen finanziert."

Der Verein unterstützt die diesjährige Tandemtour mit knapp 90.000 Euro – für Übernachtungskosten, Verpflegung und Polizeibegleitung.

Radsport bleibt Nischensport

Die Tandemräder müssen Sportler und Sportlerinnen allerdings selbst bezahlen oder Unterstützer suchen. Andreas Loose hat für sein Tandemrad über 7.500 Euro bezahlt. "Radsport ist für blinde Menschen weiterhin ein Nischensport", so Kevin Müller vom Deutschen Behindertensportverband.

In Hessen leben etwa 430.000 Menschen mit einer Sehbehinderung. "Wie viele blinde Tandemfahrer es in Hessen gibt, wissen wir gar nicht", bedauert Müller.

Eine App für blinde und nicht-blinde Fahrer

Trotz all der Hürden möchte Tandemfahrer Andreas Loose Lust auf den Sport machen. "Ich will andere blinde Menschen motivieren, die vielleicht nicht so gut vernetzt sind." Deshalb arbeite er seit einigen Monaten zusammen mit dem Kulturzentrum Schlachthof in Kassel an einer neuen App für Tandemfahrer.

Einfach ein Profil anlegen, Partner suchen und losfahren – so die Idee. Die Umsetzung würde das Kulturzentrum übernehmen. Und auch für die App sind die Fördergelder bereits beantragt.

Kommenden Sonntag startet Andreas Loose aber erst einmal Richtung Fulda. Dort beginnt die Euro-Tandem-Tour in diesem Jahr.

Redaktion: Katrin Kimpel

Sendung: hr1,

Quelle: hessenschau.de