Bombenangriff 1943: 80 Jahre später Eine Nacht, die Kassel verändert hat
Kaum ein Stein blieb auf dem anderen, als die Stadt Kassel in der Nacht vom 22. Oktober 1943 bombardiert wurde. Ob im Museum, der Schule oder im Seniorenheim – selbst nach 80 Jahren sind die Erinnerungen an die Horrornacht noch immer präsent.
Früher habe das Kasseler Wilhelmsgymnasium (Wilhelmshöhe) an einem anderen Ort gestanden, erklärt Lehrerin Katharina Regett ihren Schülern: in der Innenstadt, in etwa dort, wo heute das Hessische Landesmuseum stehe. Sie gibt kurz vor den Herbstferien eine ganz besondere Geschichtsstunde. Die Schüler sehen Bilder des zerstörten Kassels, Videos von Zeitzeugen und sprechen über das humanitäre Völkerrecht. Der Anlass ist der 80. Jahrestag des Großangriffs auf Kassel.
Es habe für den Fall eines Bombardements der Schule sogar einen Evakuierungsplan gegeben. Doch sei der nie in Kraft getreten, so die Lehrerin. In der Nacht vom 22. Oktober 1943 wurde neben der Innenstadt auch die Schule von Bomben getroffen. Das Gebäude, in dem noch im selben Jahr der spätere Journalist Peter Scholl-Latour sein Abitur abgelegt hatte, wurde dabei bis auf die Grundmauern zerstört.
Nur die Bücherei im Keller überstand den Angriff, wie ein altes Konferenzprotokoll belegt. Rund 40 Angriffe der Alliierten auf Kassel habe es im zweiten Weltkrieg gegeben. Der vom 22. Oktober war jedoch der verheerendste: 10.000 Tote und 12.000 Verletzte lautet die traurige Bilanz der Nacht. 444 britische Bomber radierten mit hunderttausenden Brandbomben die Innenstadt nahezu aus. Sie zerstörten 80 Prozent der Gebäude im ganzen Stadtgebiet.
Geschichte durch Gebäude nachvollziehen
"Geschichte manifestiert sich ja auch in Gebäuden und Straßen. Wir laufen durch diese Stadt, wir sehen Dinge und können sie vielleicht nicht ganz einordnen", sagt Lehrerin Katharina Regett. Eine solche Einordnung solle den Schülerinnen und Schülern dank des Geschichtsunterrichts gelingen. Sie sollten versuchen nachzuvollziehen, was in der Welt passiert und wo die Ursprünge für heutige Probleme liegen könnten, sagt die Lehrerin.
Das ist auch das Anliegen einer neuen Sonderausstellung im Stadtmuseum Kassel. Denn der Angriff sei prägend für die Stadtidentität gewesen, sagt Kuratorin Christina Reich. Er halte sich noch bis heute in den Köpfen der Bewohnerinnen und Bewohner Kassels. "Viele weinen ja zurecht der Altstadt hinterher, aber dieses Thema ist ambivalent", sagt Reich. Denn diese Innenstadt sei mitunter gar nicht so wunderschön gewesen, wie heute oft angenommen wird.
Kassels wunderschöne Altstadt: Eine nationalsozialistische Romantisierung?
Schlechteste hygienische Zustände, wenig Sonnenlicht und kaum Luft habe die Altstadt über die Jahrhunderte vielmehr zu einem Armutsviertel werden lassen. Die Nationalsozialisten versuchten sich zwar an einer Sanierung, die allerdings nur bedingt Erfolg gehabt habe, so die Historikerin: "Es ist also sehr interessant, dass viele Menschen sich mit Wehmut an eine sehr kurze Phase der Existenz zurückerinnern, die unter ganz negativen Vorzeichen zu sehen ist."
Es sei vielmehr wichtig zu verstehen, dass Deutschland damals der Aggressor gewesen sei, sagt Kai Füldner, Direktor der städtischen Museen. Zugleich sei es ein ganz gezieltes Anliegen der Briten gewesen, die deutsche Bevölkerung in Form eines Flächenbombardements zu demoralisieren. Deshalb habe der damalige Marschall Harris den Luftkrieg nach Deutschland gebracht. Doch sei die Rüstungsindustrie dadurch nicht eingestellt, sondern gar angeheizt worden: "Noch im April 1945 rollten die letzten Tigerpanzer aus dem Kasseler Henschelwerk. Bis zum letzten Moment hat man hier Krieg geführt – und sich auch dementsprechend verhalten", meint Füldner.
Zuflucht oft nur im hauseigenen Keller
Der einzige Schutz gegen die Luftangriffe seien die Bunker und die vielen Keller unter der Stadt gewesen. Nur 10.000 Menschen fanden in den großen Bunkern Platz. Die restlichen 190.000 Einwohnerinnen und Einwohner Kassels mussten sich in den eigenen Keller fliehen.
Zu ihnen gehörte auch Gisela Heede. Sie ist heute fast 100 Jahre alt und erlebte die Bombennacht als junge Frau. Heede musste mit ansehen, wie ihr Elternhaus abbrannte: "Mein Vater und ich sind rausgegangen, als die Bomben aufhörten. Unser Haus brannte, und wir haben es löschen wollen. Aber wir hatten kein Wasser. Wir konnten nichts machen." Tennisballgroße Funken hätten Löcher in ihre Kleidung gebrannt, als sie den Keller verließ.
Für die Schülerinnen und Schüler des Wilhelmsgymnasiums ist dieses Ausmaß der Zerstörung heute nur noch schwer vorstellbar. "Ich finde es schon krass, dass hier so viele Bomben eingeschlagen sind und die Stadt so stark verwüstet wurde", sagte der 15-jährige Festus Keim nach der Schulstunde. Ihn fasziniere aber auch, dass die Menschen den Mut gefunden hätten, danach alles wieder aufzubauen. Er wird die Kasseler Innenstadt in Zukunft vermutlich mit anderen Augen sehen.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 22.10.2023, 19.30 Uhr
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