Ein Jahr nach Jahrhundert-Unwetter in Nordhessen Schäden beseitigt, doch der Schock sitzt tief
Am 22. Juni 2023 ist in Teilen Nordhessens die Welt untergegangen: Starkregen, Hagel und Sturm sorgten für einen Ausnahmezustand. Betroffene berichten von massiven Schäden, traumatisierten Menschen und der Angst vor jeder neuen Unwetterwarnung.
Wer an diesem Dienstag rund um Kassel unterwegs war, konnte teils skurrile Szenen beobachten: Unter einer Autobahnbrücke bei Niestetal parkten Wohnmobile und Autos in Fünferreihen. In einer Straße in der Kasseler Nordstadt standen Fahrzeuge mit Teppichen, Matten oder Pappe auf dem Dach. Im Stadtteil Vorderer Westen stellten Anwohner Gartenstühle auf Gullys, damit niemand darauf parkt. Und manche Hofeinfahrt war mit Sandsäcken gesichert.
Der Grund für die Vorkehrungen lag in einer Unwetterwarnung: Der Deutsche Wetterdienst hatte auf mögliche Gewitter, Starkregen und Hagel in Teilen Hessens hingewiesen. Fast genau ein Jahr nach dem Jahrhundert-Regen vom 22. Juni 2023 waren die Menschen in Alarmbereitschaft.
"Ich bin panisch ins Kaufhof-Parkhaus gefahren", berichtet Julien Tedja. 14 Euro habe er insgesamt für mehrere Stunden bezahlt. Der Espenauer erlebt das Parkhaus voller als sonst und ist sich sicher: Auch andere haben ihre Autos hier zum Schutz geparkt. Das drohende Unwetter habe "bei vielen Leuten schwere Traumata ausgelöst", meint Tedja.
50 Millimeter Regen pro Quadratmeter: ein Jahrhundert-Ereignis
Doch diesmal ging alles glimpflich aus, Anders als vor zwölf Monaten blieb Nordhessen von der Gewitterfront verschont. Damals hatte Tief "Lambert" für einen Ausnahmezustand gesorgt und die Stadt Kassel innnerhalb von Sekunden in eine Wasserlandschaft verwandelt. Autos wurden weggespült, Gullydeckel hochgedrückt, die Kanalisation konnte den Wassermassen nicht mehr standhalten. Der Bahnhof Wilhelmshöhe wurde überflutet und unzählige Keller waren vollgelaufen.
Innerhalb von einer halben Stunde waren an verschiedenen Messstellen in Kassel 50 Millimeter Regen pro Quadratmeter gefallen: ein Jahrhundert-Ereignis. In den ersten beiden Stunden waren über 800 Notrufe eingegangen, 400 Einsatzkräfte waren mit etwa 90, teils auf Hochwasserlagen spezialisierten Fahrzeugen im Einsatz. Neben Kassel hatten die Gewitter auch andernorts gewütet.
Schulen, Kindergärten oder auch Theater mussten teils monatelang geschlossen werden. Betriebe hatten mit massiven Schäden, Landwirte mit Ernteausfällen zu kämpfen. Ein Jahr später berichten Betroffene, wie es ihnen heute geht:
300 verdellte Fahrzeuge: ein Wohnmobil-Händler aus Fuldatal
Seit dem Unwetter arbeitet Sarah Becker in einem provisorischen Container. Die Geschäftsführerin eines Wohnmobil-Händlers in Fuldatal denkt noch oft an den Tag, an dem ihr komplettes Verkaufsgebäude zerstört wurde - rund 300 durch Hagelkörner beschädigte Fahrzeuge und Wohnwagen von heute auf morgen an Wert verloren. "In unseren Büros lief das Wasser aus den Steckdosen, die aufgeweichte Zwischendecke klatschte auf die Schreibtische”, erzählt sie. Innerhalb von vier Tagen sei alles verschimmelt gewesen, man habe das Gebäude komplett entkernen müssen.
Die Schäden an Gebäude und den Fahrzeugen hätten sich auf fünf Millionen Euro belaufen. Auch heute stehen noch vier Fahrzeuge mit Dellen auf dem Hof. Bei jeder Gewitterwarnung bekomme sie Gänsehaut, sagt Becker: "Uns geht allen die Düse." Als sich nun die neuerlichen Gewitter ankündigten, habe sie schlecht geschlafen und sei angespannt gewesen. Vorsichtshalber stellten sie und ihr Team die Wohnwagen sicher auf und hängten alle Fahnen auf dem Hof ab.
Rückblickend kann Becker dem Jahrhundertunwetter heute sogar etwas Positives abgewinnen: So habe sie die Chance gehabt, alle Räume neu zu machen. "Diese Überlegung hätten wir sonst nicht gehabt."
Vier Monate geschlossen: Die Komödie Kassel
In der Komödie in der Friedrich-Ebert-Straße war das Wasser über die Decke eingedrungen. Theaterleiterin Fiona Schiranksi erinnert sich daran, dass die Sturzbäche vor allem aus den Rauchmeldern und den Lampen herausströmten. Im Foyer hatte das Wasser einen halben Meter hoch gestanden, die erst 2014 renovierte Bar war Schrott, ebenso der Teppich im Saal.
Der reine Schaden am Inventar hatte sich auf 170.000 Euro belaufen. Vier Monate habe man in Folge nicht spielen können, so dass dem Theater Einnahmen aus Vorführungen in Höhe von weiteren 100.000 Euro entgangen seien, so Schiranski.
Die Trocknung habe dabei am meisten Zeit in Anspruch genommen, "die letzten Trocknungsgeräte haben wir erst am Tag der Wiedereröffnung weggeräumt, erzählt sie. Mittlerweile sind alle Schäden beseitig. Ein Streifen an der Wand des Lagerraums zeugt noch von den Wassermassen, die hier am 22. Juni vergangenen Jahres standen.
"Man ist ein bisschen traumatisiert in Kassel": Gärtnerei Fuldaaue
Betroffen und traurig fühlte sich Thomas Eickel beim Anblick der Unwetterschäden an seiner Gärtnerei in der Kasseler Fuldaaue. Die Scheiben des Gewächshauses zerschlagen, Felder verwüstet, die Ernte futsch.
In der Gärtnerei hatten alle gerade Feierabend gemacht, als das Unwetter über der Stadt niederging. Von zu Hause beobachtete Eickel den starken Regen, den Wind und vor allem den Hagel. "Ich müsste jetzt in der Gärtnerei sein", sei ihm durch den Kopf geschossen, doch er habe sich selbst bei diesem Gedanken gebremst: "Besser man steht nicht im Glashaus, wenn es zusammenfällt."
Das Team habe gleich begonnen, Aufgaben zu verteilen und mit den Aufräumarbeiten anzufangen. Die Gärtnerei arbeitet nach dem Grundsatz der solidarischen Landwirtschaft, einem Zusammenschluss zwischen Verbrauchern auf der einen und Produzierenden auf der anderen Seite. Beide teilen sich Verantwortung, die Ernte und auch Risiken.
Rund 180 Mitglieder werden wöchentlich mit frischen Gemüsekisten versorgt - auch nach dem Unwetter. Eine Pause bei der Auslieferung machte das Team der Gärtnerei nicht, zumal das wenige Gemüse, das das Unwetter überlebte, sonst verfault wäre. In den Kisten landeten neben Tomaten und dem "Hagelwirsing" auch Spenden befreundeter Landwirtschaften und Gärtnereien.
Unterstützung gab es nicht nur von Kollegen, auch völlig Fremde, Menschen aus der Nachbarschaft und Mitglieder hatten mit angepackt. Der Tag des Unwetters beschäftigt Eickel noch heute: Man sei ein bisschen traumatisiert und besonders sensibilisiert in Kassel, sagt er. In dieser Woche hätten angesichts der Wetterlage wieder Leute in der Gärtnerei nachgefragt, ob man "was abdecken" solle. Doch im Grunde sei man dem, was da komme, “einfach ausgeliefert”.
"Normalerweise hagelt es hier nicht": Landwirt aus Waldeck-Frankenberg
Auch vor den Landwirten in der Region machte das Unwetter nicht halt. Bei Philipp Höhle aus dem Vöhler Ortsteil Basdorf wurden die Felder vom Hagel zerschossen. Aus dem schon bauchnabelhoch gewachsenen Mais wurden innerhalb von Sekunden mickrige Pflänzchen, berichtet Höhle. Von den angestrebten 50 Tonnen seien lediglich 10 Tonnen übrig geblieben. Doch auch da habe die Qualität gelitten, so dass er den Mais nur noch als Viehfutter einsetzen konnte.
Wegen der Fruchtfolge steht in diesem Jahr Weizen auf dem Feld. Bisher sehe es gut aus, wenn nicht wieder ein Unwetter dazwischen komme, sagt der Landwirt. Denn das hatte im letzten Jahr ein benachbartes Weizenfeld zu zwei Dritteln zerstört.
Auf seinem Schaden blieb Höhle sitzen. Gegen Ernteausfälle sei er nicht versichert gewesen, das habe er mittlerweile nachgeholt. "Normalerwiese hagelt es bei uns nicht", sagt er, aber jetzt sei man eines Besseren belehrt worden. Insgesamt 70 Hektar wurden bei Höhle beschädigt. Die Mindereinnahmen haben ein großes Loch auf seinem Konto hinterlassen: 50.000 Euro an Einnahmen seien ihm entgangen.
Notbeleuchtung erst seit zwei Wochen wieder in Betrieb: Ahnatalschule in Vellmar
Besonders schwer traf das Unwetter die Ahnatal-Schule in Vellmar. Dort lief der Keller mit Wasser voll, die Regenmassen kamen außerdem durch die Dächer des Schulgebäudes und der Sporthalle. Die komplette Einrichtung im Untergeschoss wurde zerstört. Der Schaden belief sich laut Kreis auf über eine Millionen Euro. Vor allem das beschädigte Blockheizkraftwerk schlug dabei mit 750.000 Euro zu Buche.
Schulleiter Manuel Coote erinnert sich an den Moment, als sein Hausmeister anrief. Da stand das Wasser im Keller mehr als einen Meter hoch, die Stahltüren hatten dem Wasserdruck nicht standgehalten. Drei Tage habe kein Unterricht stattfinden können, weil die gesamte Schule ohne Strom dastand.
Auch heute sind noch nicht alle Schäden behoben. Zum Teil behelfe man sich noch mit altem Mobiliar, sagt Coote. Zudem habe man einige Toiletten lange Zeit nicht benutzen können. Der Grund: die Sicherungskästen hatten unter Wasser gestanden, dadurch war das Notbeleuchtungssystem ausgefallen. Erst seit zwei Wochen funktioniere es wieder.
Mit aktuellen Unwetterwarnungen gehe er mittlerweile sensibler um, so habe man erst kürzlich wegen eines drohenden Gewitters alle Nachmittagsangebote abgesagt und die Schülerinnen und Schüler gebeten, sofort nach Hause zu gehen.
Zisternen für das nächste Unwetter gebaut: Kindergarten Niestetal
In Niestetal schlug das Unwetter vor einem Jahr massiv zu. Bereits am Nachmittag habe die Warn-App der Gemeinde angeschlagen und die Alarmkette ausgelöst, so ein Ortssprecher. Zu dem Zeitpunkt waren alle Kinder der Kita 7 zwar schon abgeholt, doch auf Feuerwehr, THW und den eingerichteten Krisenstab kam eine Menge Arbeit zu.
Einen Tag später war klar: Die Kita muss erst mal geschlossen bleiben, die Kinder drei Wochen andere Einrichtungen der Gemeinde besuchen. Betroffen war vor allem der Teil, in dem die unter Dreijährigen untergebracht waren. Der Gesamtschaden belief sich auf 150.000 Euro, berichtet der Sprecher.
Für weitere Unwetter fühlt man sich hier gut gewappnet: Nach dem 22. Juni hat man hier zwei Zisternen gebaut, die künftige Wassermassen aufnehmen sollen.
Die Kita Fasanenhof im gleichnamigen Kasseler Stadtteil kann dagegen bis heute nicht genutzt werden. Mittlerweile entschied sich die Stadt für eine Generalsanierung. Bis Mitte 2026 soll alles fertig sein. So lange werden die Kinder weiterhin zum Teil in einer Grundschule und in der Betriebskita der Lkw-Sparte von Mercedes Benz betreut.
Sendung: hr1, 21.06.2024, 14.30 Uhr
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