Erste Auswilderung vor 90 Jahren Wie der Waschbär in Nordhessen zu einer Plage wurde
Vor 90 Jahren wurden vier Waschbären in der Nähe des Edersees ausgewildert. Es waren hierzulande wohl die ersten ihrer Art in freier Wildbahn. Eine Erfolgsgeschichte - zumindest aus der Sicht der Kleinbären.
Es ist der 12. April 1934, gegen neun Uhr am Morgen. Drei Mitarbeiter des Forstamts Frankenberg-Vöhl (Waldeck-Frankenberg) laden in einem Waldgebiet nahe des Edersees zwei große Holzkisten ab. Darin: vier Waschbären, darunter trächtige Weibchen.
Die eigentlich aus Nordamerika stammenden Tiere kommen aus einem Zuchtbetrieb für Pelztiere in der Nähe von Wolfhagen (Kassel) und sind wohl die ersten ihrer Art, die in Deutschland in die Freiheit entlassen werden. Zuvor - und auch im Anschluss an die Auswilderung - mussten sich die Verantwortlichen aber erst einmal mit Bürokratie herumschlagen.
Auswilderung noch vor Genehmigung
Der Besitzer der Zuchtfarm, Rudolf Haagk, habe die Waschbären dem Forstamt Vöhl angeboten - "aus reiner Freude, die Natur zu bereichern", habe es damals gehießen, sagt der Forstbeamte Eberhard Leicht. Er leitete zwischen 1990 und 2012 das nordhessische Forstamt, das 1934 zum preußischen Forstfiskus gehörte. Die Umsiedlung der Waschbären musste sich der damalige Leiter - Leichts Vorvorvorgänger - in Berlin von höchster Stelle genehmigen lassen.
In Nordhessen wollte man aber nicht so lange warten. Dokumenten zufolge seien die Waschbären noch vor der Zustimmung aus Berlin freigelassen worden, sagt Leicht. "Man hatte Angst, dass die trächtigen Waschbärinnen ihre Jungtiere in Gefangenschaft bekommen würden, wenn man noch länger wartet. Man wollte unbedingt, dass diese junge Generation schon in Freiheit aufwächst."
Krieg bringt Waschbär in Vergessenheit
Tatsächlich sei die Genehmigung aus Berlin erst am 28. April erfolgt, also gut zwei Wochen nach der Freilassung der Tiere - und das, obwohl Fachleute wie ein renommierter Zoologe aus Berlin und der Betreiber des Hamburger Tierparks Hagenbeck sich gegen eine Ansiedlung der Waschbären ausgesprochen hatten.
Das Forstamt Vöhl bekam den Auftrag, das Verhalten der Waschbären und mögliche durch die Tiere verursachte Schäden zu beobachten und zu dokumentieren. "Die Berichte sind im Forstamt gesammelt und auch weitergegeben worden", sagt Leicht. "Aber dann begann der Zweite Weltkrieg und mit den ganzen Kriegswirren ist die Waschbär-Geschichte erst mal in Vergessenheit geraten."
Keine natürlichen Fressfeinde
Erst als sich Anfang der 1950er Jahre Berichte über Schäden in Hausgärten, an Obstbeständen und Haferschlägen in der Landwirtschaft häuften, seien die Tiere wieder in den Fokus geraten, sagt der Forstbeamte. 1954 sei der Waschbär schließlich zum jagdbaren Wild erklärt worden. Da sei die Population aber schon außer Kontrolle geraten - wohl auch, weil der Lebensraum dem natürlichen Habitat in Nordamerika so ähnlich sei.
In Deutschland gebe es zudem keine natürlichen Fressfeinde für den Waschbären. Dadurch habe er sich ungehindert ausbreiten können. "Und er fühlt sich ausgesprochen wohl im Umfeld des Menschen, wo er jahreszeitlich unabhängig ein hervorragendes Nahrungsangebot aus Abfällen beziehen kann", sagt Leicht.
Von Hessen in die Welt?
90 Jahre nach der Auswilderung der vier Waschbären sei der Bestand in Hessen mindestens sechsstellig. Die Schäden beschränken sich längst nicht mehr auf Gärten und die Landwirtschaft. Im Jahr 2015 etwa seien am Edersee rund 50 Kormoran-Nester geplündert worden. Auch Verluste bei Amphibien und Reptilien seien auf die Kleinbären zurückzuführen, sagt Eberhard Leicht.
Das Waschbär-Problem ist aber nicht allein ein nordhessisches, sondern ein europäisches. Seit 2016 wird er auf der sogenannten Unionsliste geführt, die invasive Arten in der EU enthält. Leicht hält es aber für unwahrscheinlich, dass die vier nordhessischen Waschbären allein für die ungehinderte Ausbreitung der Art auf dem Kontinent verantwortlich sind.
Es habe andere dokumentierte Auswilderungen gegeben, etwa in der Eifel. Nach einem Bombentreffer auf eine Pelztierfarm bei Strausberg in Brandenburg seien 1945 zudem einige Waschbären geflohen. "Und da hätten sich sicher auch genetische Defekte bemerkbar gemacht, wenn sich letztlich alles über Inzucht aus den zwei Elterntieren hier entwickelt hätte."
"Mahnendes Beispiel"
"Letztlich war das 1934 ein riesengroßer Feldversuch, der aus der Sicht des Waschbären erfolgreich war, aber auch zu einer Reihe von Problemen geführt hat", sagt der ehemalige Forstamtsleiter. Die Auswilderung der vier Waschbären sei heute ein mahnendes Beispiel für den Umgang mit gebietsfremden Tier- oder Pflanzenarten.
Den Waschbär werde man nun aber nicht mehr los, sagt Leicht. "Alle Fachleute sind sich einig, dass man ihn über Bejagung hier nicht wieder wegbekommt, er wird immer bleiben."
Tierschutzbeauftragte: Fokus auf Lebensräume statt Jagd
Dieser Meinung ist auch die hessische Tierschutzbeauftragte Madeleine Martin. "Hätten 70 Jahre Jagdausübung auf Waschbären zu einer effektiven Verringerung des Bestandes beigetragen, müssten wir heutzutage doch kaum mehr darüber reden", sagte sie am Donnerstag anlässlich des 90. Jahrestags der Aussetzung der Waschbärpaare am Edersee.
Die Bären könnten Verluste ausgleichen, indem sie die Fortpflanzungsrate erhöhten. Deswegen sollte vielmehr der Schutz der Lebensräume im Vordergrund stehen und nicht eine Bejagung des Waschbären, so Martin.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 11.04.2024, 19.30 Uhr
Redaktion: Anna Lisa Lüft