Aus offenem Vollzug Häftling seilt sich aus Gießener Gefängnis ab, um Alkohol zu kaufen
In Gießen ist ein Häftling aus dem offenen Vollzug geflohen, um Alkohol zu kaufen. Mit zusammengeknoteten Decken seilte er sich aus dem zweiten Stock ab. Sein Fehlen fiel erst am nächsten Tag auf - und hat nun auch Konsequenzen für andere Häftlinge.
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Ein Häftling im offenen Vollzug flieht aus dem Gefängnis in Gießen. Sein Fehlen fällt erst am nächsten Tag auf. Er stellt sich schließlich selbst.
Passiert sein soll das im Dezember 2024. Weder die Polizei noch das Justizministerium informierten über diesen Fall. Der hr erfuhr durch anonyme Hinweise und eigene Recherchen von der Flucht und den Ereignissen.
Plan der Rückkehr scheiterte
Wie das Justizministerium in Wiesbaden dem hr auf Anfrage mitteilte, sollen vier Gefangene der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gießen am Abend des 27. Dezember unerlaubt Alkohol konsumiert haben. Ein Gefangener habe daraufhin weiteren Alkohol besorgen wollen.
Dazu soll er sich mithilfe von aneinandergeknoteten Decken aus dem aufgehebelten Fenster des zweiten Stocks abgeseilt haben. Sein Ziel sei es gewesen, sich später wieder hochziehen zu lassen. Doch beim Abseilen löste sich die Verknotung. Der Plan, den Gefangenen nach Rückkehr wieder hochzuziehen, war somit gescheitert.
Nach Angaben des Justizministeriums verließ der Häftling das Gelände der JVA gegen 23.30 Uhr und kaufte Alkohol, den er selbst konsumierte. Schließlich fuhr er mit dem Zug nach Butzbach (Wetterau).
Flucht fiel erst am nächsten Tag auf
Dass er entflohen war, fiel im Gefängnis erst bei der morgendlichen Zählung auf. Die Polizei informierte die JVA Gießen am Tag nach seiner Flucht (28. Dezember) gegen 11.15 Uhr über die Selbststellung des Gefangenen.
"Sodann wurde er wieder der JVA Gießen - und zwar dem geschlossenen Vollzug - zugeführt", teilte ein Sprecher des Justizministeriums mit.
Strafanzeigen gegen vier Gefangene
Das Fehlverhalten der vier Gefangenen hatte laut Ministerium zur Folge, dass alle aus dem offenen Vollzug genommen und ihre Berechtigungen, etwa für unbegleitete Ausgänge, widerrufen wurden. Zudem hat die JVA Strafanzeige wegen Gefangenenbefreiung gegen die beteiligten Gefangenen gestellt.
Laut Hessischem Strafvollzugsgesetz sehen Einrichtungen des offenen Vollzuges nur verminderte oder gar keine Vorkehrungen gegen sogenannte Entweichungen vor. "Der offene Vollzug der JVA Gießen hat weder eine Mauer, noch einen Entweichung verhindernden Zaun; die Fenster sind nicht vergittert", sagte ein Sprecher.
Drei Flucht-Fälle in zehn Jahren
Die Gefangenen, die dort untergebracht sind, werden auf die Entlassung vorbereitet und gehen in der Regel einer Arbeit außerhalb der JVA nach. "Sie sind also berechtigt, den offenen Vollzug ohne Begleitung täglich für eine individuell bestimmte Zeit zu verlassen."
Im hessischen Justizvollzug werde sehr genau geprüft, ob ein Gefangener für eine Unterbringung im offenen Vollzug geeignet sei. In Hessen komme es daher selten zu Entweichungen aus dem offenen Vollzug. Laut Ministerium gab es in den vergangenen zehn Jahren drei Fälle.
Verstärkte Kontrollen nach Vorfall
Wie genau der verbotene Alkohol in die JVA kommen konnte, ist unklar. Das Ministerium erklärte dazu, dass die Gefangenen bei jedem Einlass auf verbotene Gegenstände kontrolliert werden. Originalverpackte Lebensmittel und Getränke dürfen im offenen Vollzug mitgebracht werden. "Hier achten die Bediensteten besonders auf etwaige Manipulationen."
Nach einer Abwesenheit von mehreren Stunden werden Gefangene nach Rückkehr zudem auf Alkoholkonsum kontrolliert. "In Folge des aktuellen Vorkommnisses hat der Leiter der JVA Gießen angeordnet, dass die Kontrollen im offenen Vollzug verstärkt werden", teilte das Ministerium mit.
Häftling wirft "Kollektivstrafen" vor
Ein Häftling des offenen Vollzugs der JVA berichtete dem hr, seitdem das Justizministerium durch Medienanfragen auf den Vorfall aufmerksam gemacht wurde, seien die Freiheiten der Häftlinge im offenen Vollzug eingeschränkt worden.
"Vorher konnten wir bis 22.30 Uhr miteinander kochen und uns im Aufenthaltsraum aufhalten, über den Alltag austauschen", schilderte der Mann, der zu seinem Schutz anonym bleiben will. Mittlerweile müsse jeder ab 20 Uhr abends in seine Zelle, außerdem müssten die Häftlinge nun am Wochenende drei Stunden früher als zuvor aufstehen.
Für die Regelverstöße der ehemaligen Mithäftlinge, die mittlerweile im geschlossenen Vollzug sind, habe er kein Verständnis. Dennoch bemängelte er, dass es "Kollektivstrafen" für alle gegeben habe, die nichts mit dem Vorfall zu tun gehabt hätten. "Das hat ja nichts mehr mit Resozialisierung zu tun, im Prinzip werden uns da Rechte weggenommen, die wir vorher hatten", so der Mann.
Das Justizministerium bestätigte dem hr auf Anfrage, dass neben zusätzlichen Kontrollen der Häftlinge die Nutzung der Gemeinschafts- und Küchenräume nach dem Vorfall eingeschränkt worden sei.