Kaufnomaden in Groß-Gerau Wenn der Horror ins eigene Haus einzieht
Sie wollte ihr Haus in Groß-Gerau verkaufen und mit ihrem Partner in die Südsee auswandern. Doch Oithip Möller begeht einen folgenschweren Fehler, der ihr das Leben ein halbes Jahr zur Hölle macht.
"Ich bin sehr froh, endlich kann ich in meinem Haus wieder frei leben", sagt Oithip Möller sichtlich angefasst vor dem Saal A 116 im Darmstädter Landgericht. Wenige Minuten zuvor hat die Richterin Möllers fast sechs Monate andauernden Albtraum offiziell für beendet erklärt.
Es ist eine unfassbare Geschichte, die die 54-jährige Thailänderin, ihr französischer Partner Ange Julien Koutenay und Möllers mittlerweile 19-jährige Tochter erleben mussten und die erst mit dem Gerichtsurteil vom Mittwoch ein langersehntes Ende nahm. Fast ein halbes Jahr lebten sie gegen ihren Willen mit einer fremden Familie zusammen in ihrem Haus in Groß-Gerau.
Eigentlich wollte das Paar das Haus verkaufen und in die Südsee auswandern, Koutenay wurde auf der Karibikinsel Martinique geboren. Doch es kam alles anders.
"Ich hatte ein gutes Gefühl"
Ende 2021 inserierte Möller das Haus. Ein großzügiger Bungalow in ruhiger Feldrandlage mit großem Garten und einer Garage – solch eine Immobilie zieht im Rhein-Main-Gebiet schnell Interessierte an.
Etwa 50 Anfragen habe es gegeben. Im August vergangenen Jahres entschieden sich Möller und Koutenay gemeinsam für das Angebot von Frau W., die bereit war, die geforderten 680.000 Euro zu zahlen. Angeblich hatte sie kurz zuvor 2,5 Millionen Euro geerbt. "Sie war sehr nett und freundlich und hat mich mit ihrer guten Sprache beeindruckt. Wir haben auch beide Kinder, da hatte ich ein gutes Gefühl", erklärt Möller ihre Entscheidung.
Weil Frau W. ihre vorherige Wohnung angeblich bereits gekündigt hatte und nicht wüsste, wo sie ihre Sachen unterstellen soll, gewährte Möller ihr und ihrer Familie bereits Zutritt zum Haus - noch bevor das Geld überwiesen war. Das war am 1. September 2022. Schließlich lässt man ja keine Familie mit Kindern vor der Tür stehen, dachte sich Möller damals. In Nachhinein bezeichnet sie diese Entscheidung als größten Fehler ihres Lebens.
Das Geld kam nicht
Der Ärger begann nur wenige Tage später. Nach etwa einer Woche war das Geld immer noch nicht da, es gab angeblich Probleme mit der Bank. Die Überweisung stünde kurz bevor, soll Frau W. gesagt haben. In der Zwischenzeit hatte sie sich mit ihrem Partner, ihren beiden Kindern im Grundschul- und Jugendlichen-Alter und zwei Hunden im Haus regelrecht eingenistet.
Es wurde viel getrunken und geraucht, berichtet Koutenay, ständig hätten W. und ihr Partner Bekannte eingeladen und sich immer weiter ausgebreitet. "Irgendwann haben sie angefangen, Barrikaden mit Umzugskartons zu errichten, damit wir nicht mehr ins Wohnzimmer gehen können", sagt Koutenay.
Das ging etwa einen Monat so, dann drängten Möller und Koutenay die ungebetenen Gäste in den Keller. Dort hauste die Familie mit den Kindern, den Hunden und weiteren Haustieren mehrere Monate. Auch Wochen nach dem Auszug sind die Spuren noch sichtbar: In mehreren Kellerräumen liegt Hausrat zwischen Kleidung und Spielzeugen auf dem Boden verstreut. An den Wänden sind Kratzspuren zu sehen, die wahrscheinlich von den Hunden stammen.
Zwei weitere Kellerräume sind verschlossen, an den Türen hängen von Frau W. geschriebene Zettel mit der Aufschrift: "Privaträume. Sollten diese geöffnet werden, wird dies von der Polizei geahndet! Finger weg!"
Gewalt und Polizeieinsätze
Mit der Verdrängung in den Keller war der Ärger nicht vorbei, die Situation eskalierte zunehmend. Es kam regelmäßig zu Auseinandersetzungen und Polizeieinsätzen, im Januar wurde Frau Möller von einem der Hunde zweimal gebissen. Bei einer Begegnung zwischen Frau W. und der Tochter von Frau Möller kam es zu Pfefferspray-Einsatz.
Immer wieder versuchten die Hausbesetzer in die Wohnbereiche vorzudringen. Die gemeinsam genutzte Toilette im Flur des Erdgeschosses war nach wenigen Wochen bereits renovierungsbedürftig. Möller, Koutenay und die Tochter konnten sich nicht mehr frei in ihrem eigenen Zuhause bewegen, jede Bewegung wurde zum Spießrutenlauf. Immer, wenn sie den Raum wechselten, mussten sie auf und abschließen, mehrfach hätten Frau W. und ihre Familie versucht, die Schlösser aufzubrechen. "Es war der Horror", beschreibt Möller die zurückliegenden Monate.
Psychischer Zusammenbruch
Nachdem Möller die Schlösser austauschen ließ, rückte Frau W. sogar mit der Polizei an. Die Beamten bedrängten Möller regelrecht, schrien sie an – wie Videoaufnahmen belegen – und verlangten von ihr, Frau W. und die Kinder wieder ins Haus zu lassen. "Das hat mir große Angst gemacht", erzählt Möller, die daraufhin nach eigenen Angaben einen psychischen Zusammenbruch erlitt. Seitdem könne sie schlecht schlafen, nehme Medikamente und befinde sich immer noch in therapeutischer Behandlung. Auch im Gespräch mit dem hr wirkt sie angefasst, ist mehrfach den Tränen nahe. Der Stress, die Gewalt und die Ungewissheit haben ihr sichtlich zugesetzt.
Die Ausreden bezüglich des fehlenden Geldes seien mit der Zeit immer wilder geworden, erzählt Möller, mal hieß es, Konten wären eingefroren worden, mal, das Geld wäre auf ein falsches Konto überwiesen worden. Sogar gefälschte Kontoauszüge habe Frau W. vorgelegt. Mittlerweile ist klar, was Möller und ihr Partner schon lange geahnt hatten. "Frau W. ist amtsbekannt, gegen sie läuft eine Vielzahl von Vollstreckungsverfahren", erklärt Rechtsanwalt Gerret Höher, der Frau Möller vor Gericht vertritt. Geld sei bei ihr nicht zu holen, sie habe schlicht keines. "Pfandlos" nennt sich das in der Behördensprache.
Im Oktober letzten Jahres übernahm Höher den Fall. Eines Tages habe Frau Möller einfach vor der Tür gestanden und um Hilfe gebeten, sagt der Anwalt. "Ich habe schnell gemerkt, dass wir etwas tun müssen, um sie vor allem psychisch zu entlasten. Sie brauchte Hoffnung."
Behäbige Justiz, untätige Behörden
Aber wie konnte es soweit kommen? Wieso konnte Frau Möller die ungebetenen Gäste nicht einfach vor die Tür setzen und dem "Horror" ein Ende bereiten? "Da eine Kaufabsicht vorlag und Frau Möller die Familie ins Haus gelassen hat, hat sie Frau W. zwar nicht das Eigentum übertragen, aber Besitz eingeräumt", erklärt Rechtsanwalt Höher. Besitz werde per Gesetz zwar nicht ganz so stark geschützt wie Eigentum, aber "wenn Sie jemandem erst einmal Besitz eingeräumt haben, ist es nicht mehr so leicht, der Person den Besitz wieder wegzunehmen. Dann müssen Sie die Gerichte bemühen."
Das tat Höher dann auch. Er kniete sich in den Fall, zog alle Register. Der Kaufvertrag sei schnell rückabgewickelt worden. Aber weder die Hoffnung auf eine schnelle gerichtliche Klärung, noch auf die Hilfe der Behörden erfüllte sich. Die Familie im Keller blieb.
Der Gerichtstermin wurde auf den 15. März terminiert, fünf Monate nach Antragsstellung. "Wie soll das denn noch fünf Monate so weiter gehen, ohne dass irgendjemand ernsthaft zu Schaden kommt?", fragte sich der Anwalt damals. "Da war keine Sensibilität für den Fall und die Situation zu erkennen. Das war tief frustrierend."
Kaufnomadentum wenig bekannt
Wegen der Wohnsituation der Kinder und der offensichtlich nicht artgerechten Haltung der Hunde – eines der Tiere wurde laut Koutenay fast den ganzen Tag in einer engen Transportbox gehalten – versuchte Höher, auch Veterinäramt und Jugendamt auf die Situation aufmerksam zu machen. Aber auch hier vergebens. Jugendamt und Veterinäramt seien zwar irgendwann aufgetaucht, hätten aber keinen Handlungsbedarf festgestellt, so Höher. "Die waren nicht einmal im Haus", sagt Koutenay.
Trotz vermeintlich klarer Rechtslage kamen Möller und ihr Partner monatelang keinen Schritt weiter. Für Höher ein Unding: "Die Mühlen der Justiz und der Behörden mahlen gerade in den letzten Jahren extrem langsam." Das führe in solch einer akuten Drucksituation zu großen Problemen. Eine mögliche Erklärung für die Behäbigkeit der Behörden: Anders als das verbreitete Mietnomadentum ist das Phänomen der "Kaufnomaden" kaum bekannt. Zudem sind Gerichte angehalten, Mietsachen beschleunigt zu behandeln, bei einem Kauf gilt das nicht.
Medienbericht bringt Bewegung in den Fall
Erst nach dem Erscheinen eines Artikels im Nachrichtenmagazin Spiegel Mitte Februar ging alles plötzlich ganz schnell. Veterinäramt und Jugendamt rückten zusammen mit der Polizei an und beendeten vorläufig den Albtraum für Frau Möller. Das Jugendamt brachte die Kinder und Eltern in eine andere Unterkunft, das Veterinäramt nahm die Hunde mit.
"Um die Kinder aus der sich verschärfenden Konfliktlage herauszunehmen und weiteren Eskalationen vorzubeugen, wurde der Familie eine vorübergehende Unterkunft in einer Pension ermöglicht", teilte der zuständige Kreis Groß-Gerau auf Anfrage mit. Dort wohnen Frau W., die Kinder und ihr Partner immer noch, allerdings müssen sie sich möglichst schnell eine eigene Wohnung suchen.
Am 22. Februar zogen die "Kaufnomaden" aus, seitdem ist wieder Frieden eingekehrt im Haus im Groß-Gerauer Norden. Es stehen zwar immer noch Habseligkeiten der einstigen Mitbewohner im Keller, doch spätestens seit dem Urteil vom Mittwoch ist klar: Frau W. und ihre Familie müssen auch die letzten Sachen aus dem Haus räumen und dürfen es danach nicht mehr betreten. Das Haus geht wieder offiziell in den Besitz von Frau Möller über.
Gegen das Urteil kann noch Einspruch eingelegt werden, da aber niemand von der Gegenseite – weder Frau W. noch ihre Anwältin – zum Prozess erschienen sind, geht Höher davon aus: "Das war’s."
Frau Möller und ihr Partner wollen jetzt erst einmal durchatmen und das Erlebte in Ruhe verarbeiten. Dann wollen sie einen neuen Anlauf für den Verkauf des Hauses starten und sich den Traum von der Südsee doch noch erfüllen.
Sendung: hr4, Britta am Vormittag, 15.03.2023, 10.43 Uhr
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