Kindesentziehung in Wolfhagen "Ich fürchte, dass ich meine Kinder niemals wiedersehe"

Eine Mutter aus Nordhessen sucht ihre beiden Söhne. Ihr Ex-Mann hat sie nach einem Treffen nicht mehr zurückgebracht. Inzwischen fahndet die Polizei nach ihm wegen Kindesentziehung. Der Fall ist einer unter vielen - mit ungewissem Ausgang.

Hyam Alnaeem (in arabischen Schrift: هيام النعيم), die Mutter von den verschwundenen Zwillingen aus Wolfhagen, sitzt auf dem Hochbett im Kinderzimmer ihrer Söhne. In der Hand hält sie einen Stoffhund.
Hyam Alnaeem im Kinderzimmer ihrer Söhne: Seit dem 31. August sind die Zwillinge verschwunden. Bild © hr/Isabell Kramer
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Vermisst: Mutter sucht verzweifelt nach ihren Kindern | hessenschau DAS THEMA
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Die ganze Welt soll die Geschichte ihrer beiden Söhne Mostafa und Yosof erfahren. Deshalb hat Hyam Alnaeem aus Wolfhagen (Kassel) ein Foto ihrer Zwillinge überall gepostet: bei TikTok, Instagram und Facebook. Seit dem Verschwinden ihrer Kinder schlafe sie nur noch wenig. Sie fühle sich hilflos und traurig, sagt sie. "Mein Herz ist zerbrochen".

Die 29 Jahre alte Mutter hat nach ihren Angaben die beiden Söhne zuletzt am 31. August gesehen. An dem Tag hatte der Vater die Kinder abgeholt, aber nicht wie vereinbart zurückgebracht. Ihre größte Angst ist seitdem allgegenwärtig: "Ich fürchte, dass ich meine Kinder niemals wiedersehe".

Inzwischen ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft Kassel wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger gegen Alnaeems Ex-Mann und dessen Mutter. Ein Richter ordnete eine Öffentlichkeitsfahndung an. Die Ermittler vermuten, dass sich die Kinder bereits im Ausland aufhalten könnten.

Gemeinsames Sorgerecht, alleiniges Recht auf Aufenthaltsbestimmung

Alnaeem glaubt, dass Ex-Mann und Oma mit den Kindern nach Syrien wollen, auf dem Landweg. Denn Fliegen ist unmöglich: die syrischen Pässe der beiden Jungs liegen noch in ihrer Wohnung. Mehrfach hat die 29-Jährige versucht, ihren Ex-Mann zu erreichen: Doch sein Handy ist ausgeschaltet.

Um ihren Kindern die Kontaktaufnahme zu erleichtern, publiziert sie auch unter ihrem Namen in arabischen Schriftzeichen: هيام النعيم

Schon einmal habe der Vater die Zwillinge mit nach Syrien genommen, berichtet die Mutter - ohne ihre Zustimmung. Das war 2020. Damals habe sie es geschafft, ihre Söhne wieder nach Deutschland zu bringen.

Es folgte ein Sorgerechtsstreit. Erst Anfang dieses Jahres hatte sie einem gemeinsamen Sorgerecht zugestimmt, das Aufenthaltsbestimmungsrecht liegt aber weiter alleine bei ihr.

Das Aufenthaltsbestimmungsrecht ist eine Unterform des Sorgerechts. Es regelt, bei welchem Elternteil das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat. Es berechtigt das entsprechende Elternteil auch, Alltagsentscheidungen allein zu treffen. Entscheidung wie Kindergarten, Schulwahl oder eine anstehende Operation müssen bei gemeinsamem Sorgerecht beide Elternteile gemeinsam entscheiden.

437 Kinder 2023 deutschlandweit betroffen

Der Fall in Wolfhagen ist kein Einzelfall. Bundesweit unterstützt das Bundesamt für Justiz (BfJ) als zentrale Behörde Betroffene bei mutmaßlichen internationalen Kindesentführungen. Erst im März hatte die Behörde aktuelle Zahlen für das Jahr 2023 veröffentlicht.

Demnach wurden 527 neue Vorgänge nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) verzeichnet, bei mehr als 80 Prozent hatte es sich um Verfahren auf Rückführung eines Kindes gehandelt. Bei den verbliebenen 17 Prozent ging es um Umgangsverfahren.

Das HKÜ regelt, dass ein Elternteil nicht ohne eine gerichtliche Entscheidung den Wohnort des Kindes gegen den Willen des anderen Elternteils ändern darf. Es soll Kinder davor schützen, von einem Elternteil über Grenzen hinweg ins Ausland gebracht zu werden.

Dem Haager Kindesentführungsabkommen sind mehr als 100 Länder weltweit beigetreten. Es regelt, dass ein Elternteil nicht ohne eine gerichtliche Entscheidung den Wohnort des Kindes gegen den Willen des anderen Elternteils ändern darf. Es soll Kinder davor schützen, von einem Elternteil über Grenzen hinweg ins Ausland gebracht zu werden. Entscheidend sind dabei die Sorgerechtsverhältnisse vor der Kindesentziehung.

Die Länder haben sich verpflichtet, im Fall einer internationalen Kindesentziehung innerhalb von sechs Wochen ein Rückführungsverfahren anzuordnen. Dafür muss innerhalb eines Jahres ein Antrag gestellt werden. Dabei entscheide das Land, ob die Vorraussetzungen gegeben sind, dass das Kind nach Deutschland zurückgeführt wird, so Rechtsanwalt Harald Weisker. Es sage aber nichts darüber aus, "wer der bessere Elternteil ist". Darüber habe dann ein deutsches Familiengericht im Rahmen eines Sorgerechtsverfahrens zu entscheiden.

Allerdings werden in der Statistik des BfJ nur Zahlen erfasst, die HKÜ-Vertragsstaaten betreffen und bei denen das BfJ eingeschaltet wurde. Neben Syrien gehören auch Länder wie der Libanon oder Libyen nicht dazu.

Mostafa und Yosof mit ihrer Mutter im Auto: die Kinder sitzen auf dem Rücksitz und grinsen in die Kamera. Alle drei tragen eine Brille.
Mostafa und Yosof mit ihrer Mutter im Auto. Bild © Privat

Anders als bei Mostafa und Yosof seien überwiegend die Mütter der entziehende Elternteil, heißt es dort. Statistisch erfasst wird neben Kindesentziehung von Deutschland in andere Vertragsstaaten auch die Gegenrichtung.

So waren 236 Kinder aus Deutschland in einen anderen Staat gebracht worden, aber auch 201 Kinder aus einem Vertragsstaat nach Deutschland entzogen worden. Zahlenmäßig seien laut BfJ vor allem die Ukraine, die Türkei und Polen betroffen.

Zahlen von Kindesentziehung für Hessen liegen der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt nicht vor, wie ein Sprecher auf hr-Anfrage mitteilte.

Man könne langfristig mit dem staatsanwaltlichen Verfahrensregister lediglich "die Anzahl der Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Kindesentziehung in den letzten Jahren erheben", heißt es.

Hyam Alnaeem, die Mutter von den verschwundenen Zwillingen aus Wolfhagen
Mostafa und Yosof sind gerade erst eingeschult worden. Bild © hr/Isabell Kramer

Steigende Beratungszahlen bei familiären Auslandskonflikten 

In der Zentralen Anlaufstelle für grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte und Mediation (ZAnK) beobachtet Ursula Rölke steigende Beratungszahlen. Seit 2011 hätten sich die Fälle mehr als verdoppelt, erklärte sie. Die Juristin ist Leiterin des Internationalen Sozialdienstes im Deutschen Verein, der die Beratungsstelle betreibt.  

Die Gründe für die gestiegenen Anfragen führt Rölke zum einen auf die inzwischen größere Bekanntheit der Anlaufstelle zurück. Dazu kämen Familienkonflikte unter Geflüchteten aus verschiedenen Ländern, auch der Ukraine. Oft würden Familienkonflikte gelöst, indem Elternteile "ihre Kinder mitnehmen und gehen". 

Für die Kinder sei das ein "Vertrauensverlust", so Rölke und verweist auf Untersuchungen mit Erwachsenen, die als Kind von einer Entführung betroffen waren. Diese hatten das Erlebte rückblickend als traumatisch beschrieben. Die Studien hätten laut Rölke auch gezeigt, dass es dennoch in der Wahrnehmung einen Unterschied mache, ob Kinder von der Hauptbezugsperson oder von dem anderen Elternteil mitgenommen wurden.  

Weitere Informationen

Hilfe für Betroffene

Die Zentrale Anlaufstelle für grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte und Mediation (ZAnK) hilft bei internationalen Familienkonflikten. Betroffene finden hier Infos und können sich auf der Webseite für eine Beratung anmelden.

Ende der weiteren Informationen

In der Einrichtung finden betroffene Familien Hilfe, wenn Konflikte über Landesgrenzen hinweg ausgetragen werden. ZAnK geht es in der Beratung darum, Eltern zu unterstützen, wenn möglich einvernehmliche Lösungen zu finden. Im Mittelpunkt steht dabei immer das Wohl des betroffenen Kindes. 

Rechtsanwalt hat "wenig Hoffnung"

Rechtsanwalt Harald Weisker aus Rodgau (Offenbach) weiß, wie schwierig es ist, Kinder zurückzuholen - vor allem aus Ländern, die das Haager Übereinkommen nicht unterzeichnet haben. Er begleitet seit 1995 Elternteile, deren Kinder unrechtmäßig ins Ausland gebracht wurden. Mehr als 200 Fälle sind über seinen Schreibtisch gewandert - einige hat er nur beraten, andere in einem Prozess vertreten.  

Im Fall der verschwundenen Zwillinge hat Weisker wenig Hoffnung, sollte der Vater es mit den Kindern bereits bis nach Syrien geschafft haben. Dort habe die Mutter kaum Möglichkeiten, die Kinder wieder nach Deutschland zu holen, so der Rechtsanwalt, da ein Familiengericht aufgrund der dortigen Gesetzeslage entscheide und nicht an das HKÜ gebunden sei.

Kindesentziehung endet meist in einem Deal

Bei einem gesicherten Aufenthalt in einem Vertragsland, müsse man umgehend einen Antrag auf Rückführung beim dortigen Familiengericht stellen und gleichzeitig eine In-Obhutname beantragen, so Weisker.

Wird ein Elternteil an der Grenze festgehalten, kommt es zu einem Strafverfahren. Dies ende meist in einem Deal, erklärt Weisker - und in einer Bewährungs- oder Geldstrafe für das verurteilte Elternteil, wenn es die Kinder zurückbringt.

Darauf hofft auch Hyam Alnaeem aus Wolfhagen. "Bring die Kinder gesund zurück, ich werde juristisch nichts gegen dich unternehmen", appelliert sie an ihren Ex-Mann. Sie wolle eine Lösung und einen gemeinsamen Weg mit dem Vater und ihren Kindern finden.

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Redaktion: Andreas Bauer und Isabell Kramer

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de