Die Urteile im Lübcke-Prozess sind gefallen. Nach 45 Prozesstagen steht fest: Stephan Ernst muss lebenslang ins Gefängnis, Markus H. hingegen wird nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Zurück bleiben offene Fragen und viele unzufriedene Prozessbeteiligte.

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    Tag 45: Das Urteil und das Schweigen

    Zeichnung des Zitats "Die Würde des Menschen ist unantastbar" an der Außenwand des Gerichts.

    Bevor er zur Urteilsbegründung schreitet, ist es Thomas Sagebiel wichtig, noch ein paar Sachen grundsätzlich richtig zu stellen. "Ein paar Vorbemerkungen sind angesagt", erklärt der Vorsitzende des 5. Strafsenats am Frankfurter Oberlandesgericht. Chronologisch stimmt das nicht ganz, denn die Urteile samt Strafmaß hat Sagebiel zu diesem Zeitpunkt bereits verkündet. So wie es die auf der Zuschauer- und Pressetribüne versammelte Öffentlichkeit in all ihrer Ungeduld erwartet hat. Doch bevor er und sein Kollege Christoph Koller die Genese des Urteils erläutern, will Richter Sagebiel in Erinnerung rufen, wozu Gerichte wie der 5. Strafsenat des OLG da sind. Was sie leisten können - und was nicht.

    "Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass Freisprüche nicht auf der Überzeugung von der Unschuld gründen, sondern auf Zweifeln an der Schuld", ist einer dieser "Richtigstellungen", die Sagebiel der Urteilsbegründung voranstellt. Ebenso erinnert er daran, dass Überzeugungen des Gerichts nicht auf "naturwissenschaftliche Beweise" angewiesen sind. "Ganz entschieden möchte ich betonen, dass der Senat, mag er auch Staatschutzsenat heißen, nicht die Aufgabe hat, den Staat vor missliebigen politischen Einstellungen zu schützen."

    Für Juristen sind all diese "Vorbemerkungen" Selbstverständlichkeiten. Doch an sie wendet sich Sagebiel in diesem Moment nicht. Er spricht zur Öffentlichkeit und wappnet sich damit gegen die Vorwürfe, die bereits vor der Urteilsverkündung absehbar sind.

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    Lebenslange Haftstrafe für Ernst

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    Ende des Videobeitrags

    Erwartbarer Rechtsspruch

    Die Urteile selbst sind wenig überraschend und entsprechen dem, was zahlreiche Prozessbeobachter offen und einige Prozessbeteiligte hinter vorgehaltener Hand prognostiziert hatten. Stephan Ernst, der den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke gestanden hat, wird wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sieht zudem eine besondere Schwere der Schuld als gegeben und behält sich eine anschließende Sicherungsverwahrung vor. Der Mitangeklagte Markus H. hingegen wird vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Er erhält lediglich eine Bewährungsstrafe, weil er eine nicht ordnungsgemäß unbrauchbar gemachte Deko-Maschinenpistole besaß.

    Das Gericht geht in seiner Urteilsbegründung davon aus, dass Ernst in der Nacht auf den 2. Juni 2019 alleine war, als er das Grundstück der Lübckes in Wolfhagen-Istha betrat und den Kasseler Regierungspräsidenten aus einer Entfernung von einem Meter bis 1,5 Metern erschoss. Ernsts letztgültige Tatversion, wonach er die Tat gemeinsam mit Markus H. plante und durchführte, hält der Senat in wesentlichen Teilen für unglaubwürdig. Nicht nur, weil Ernst seit seiner Verhaftung insgesamt drei widersprechende Tatversionen präsentierte. "Die Aussagekonsistenz fehlte auch innerhalb der Einlassungen in der Hauptverhandlung", so Sagebiel.

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    Lübcke-Mord: Der Prozess und das Urteil

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    Insbesondere wenn es um die gemeinsame Tatplanung gegangen sei, seien Ernsts Ausführung wenig detailliert und widersprüchlich gewesen. So habe Ernst zunächst zu Protokoll gegeben, dass zwischen ihm und H. nur eine Einschüchterung Walter Lübckes abgesprochen gewesen sei. Nach eindringlicher Befragung durch den Senat habe er dann behauptet, dass die Tötung Lübckes bereits im Frühjahr 2019 vereinbart worden sei, resümierte Sagebiel. Aus Sicht des Gerichts nur eines von vielen Beispielen dafür, wie Ernst sein Aussageverhalten "situativ angepasst" habe. Das Hauptmotiv, den eigenen Freund zu belasten, sei wohl taktischer Natur. Ernst habe gehofft, dadurch den Vorwurf der Heimtücke aus dem Raum räumen zu können.

    Rechtsradikale Gesinnung als "überlagerndes Motiv"

    Geht man wie das Gericht von einer Alleintäterschaft Ernsts aus, führt quasi kein Weg am Mordmerkmal Heimtücke vorbei. Doch es ist nicht das einzige Mordmerkmal, welches das Gericht verwirklicht sieht. Ebenso habe Ernst aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Seit der Bürgerversammlung in Lohfelden 2015 habe er seinen "Fremdenhass" zunehmend auf Walter Lübcke projiziert.

    Insbesondere Ernsts erste Vernehmung im Juli 2019 lege davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Dort zeichne Ernst von sich selbst das "stimmige Bild eines Hassenden", der nach langem Zögern zur Tat geschritten sei. Sein Antrieb sei in seiner seit frühester Jugend verfestigten "völkisch-nationalistischen" Gesinnung zu suchen. Ein Mord aus diesem Antrieb heraus, stehe auf unterster sittlicher Stufe - und sei somit ein niedriger Beweggrund.

    Die Verwirklichung von gleich zwei Mordmerkmalen führt auch dazu, dass der Strafsenat eine besondere Schwere der Schuld bejaht. Doch das ist nicht der einzige Grund. Ebenso schwer wiege die rechtsradikale und rassistische Gesinnung des Angeklagten, die als "überlagerndes Motiv" handlungsbestimmend gewesen sei und ihn schon in der Vergangenheit zu Gewalttaten getrieben hätte.

    Bewährung für den Mitangeklagten

    Zusätzlich behält sich das Gericht die Sicherungsverwahrung vor. Ernst stelle "infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten" eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Dass die Sicherungsverwahrung nicht direkt angeordnet wurde, hängt allerdings damit zusammen, dass Ernst vom Vorwurf einer weiteren Gewalttat freigesprochen wurde. Der Messerangriff auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I. sei Ernst nicht nachzuweisen, urteilt der Senat. Für die direkte Anordnung hätte Ernst für zwei Straftaten gegen das Leben binnen fünf Jahren verurteilt werden müssen.

    Für Stephan Ernst bedeutet das, dass die Chance, das Gefängnis nach Verbüßung einer Mindestfreiheitsstrafe von 15 Jahren zu verlassen, gering ist. Der Mitangeklagte Markus H., Ernsts alter Freund aus gemeinsamen Nazi-Tagen, muss sich derweil nur mit einer Bewährungszeit von anderthalb Jahren rumärgern. Letztlich, so stellte der Senat fest, habe man weder eine direkte Tatbeteiligung nachweisen können, noch dass Markus H. Ernst "Zuspruch und Sicherheit" vermittelt und ihn so in seinem Tatentschluss bestärkt hätte. Markus H. bleibe nur vorzuwerfen, dass er beim Erwerb einer vermeintlichen Deko-Waffe "gleichgültig" bezüglich der Frage, ob er diese rechtmäßig besitzen dürfe, gewesen sei.

    Ein Urteil, das nur wenig zufrieden stellt

    Was bleibt von einem Prozess, der sich über fast acht Monate und 45 Prozesstage zog? Letztlich bei allen Beteiligten die Ungewissheit, ob in diesem Verfahren tatsächlich die volle Wahrheit über jene Nacht auf den 2. Juni 2019 zum Vorschein kam. Der vermutlich einzige Mensch, der die ganze Wahrheit kennt, hat entgegen seinen Beteuerungen keine vollumfängliche Aufklärung bieten können - vermutlich auch nicht wollen.

    Es bleiben zahlreiche unzufriedene Prozessbeteiligte: Die Familie Lübcke, die auch auf eine Verurteilung von Markus H. gehofft hatte. Der Nebenkläger Ahmed I., der damit leben muss, dass der Angriff auf ihn wohl nie gesühnt wird. Dazu zahlreiche Beobachter, die monieren, dass das neonazistische Umfeld der beiden Angeklagten nicht ausreichend durchleuchtet wurde. Es bleibt ein Urteil, das letzten Endes nur wenige zufriedenstellen dürfte.

    Als Thomas Sagebiel die Verhandlung schließlich am frühen Donnerstagnachmittag schließt, herrscht Schweigen im Gerichtssaal 165C. Weder die Angeklagten noch die Familie Lübcke zeigen eine sichtbare Regung. Stuhlbeine quietschen über den Boden, Schritte hallen im Saal wider. Doch kein einziges Wort ist mehr zu vernehmen. Vielleicht weil aus juristischer Sicht alles gesagt ist, was zum Mord an Walter Lübcke zu sagen ist. Vielleicht aber auch nur, weil niemand mehr weiß, was man dazu noch sagen soll.

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    Tag 44: Rechte Polemik statt eines Plädoyers

    Der Mitangeklagte Markus H. betritt den Sitzungssaal

    Bald acht Monate sind seit Beginn des Lübcke-Prozesses ins Land gegangen. 44 Prozesstage, in denen der Mitangeklagte Markus H. und seine Verteidigung wenig Zweifel daran ließen, dass sie die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft, gelinde gesagt, für absurd halten.

    Am ersten Prozesstag hatte Rechtsanwalt Björn Clemens wortreich die These vertreten, dass seinem von Medien und Öffentlichkeit "vorverurteilten" Mandanten ein politischer Prozess gemacht werden solle. Ein Auftaktlamento, das seinen Höhepunkt in der indirekten Gleichsetzung des Mordfalls Lübcke mit dem Reichstagsbrand von 1933 fand.

    Ein Einstand, wie man ihn von einer Verteidigung erwarten durfte, die tief in die rechte bis rechtsextreme Szene eingebunden ist. Zum einen Clemens, der einst die Republikaner beriet, später NPDler und andere Neonazis verteidigte und seit 2014 im Vorstand der geschichtsrevisionistischen Gesellschaft für freie Publizistik (GfP) tätig ist. Zum anderen Nicole Schneiders, selbst einst Mitglied der NPD mit Kontakten in die freie Kameradschaftsszene und später Verteidigerin von Ralf Wohlleben im NSU-Verfahren.

    Doch je weiter der Prozess fortschritt, je deutlicher wurde, dass sich der Vorwurf der Beihilfe zum Mord gegen ihren Mandanten nicht zweifelsfrei wird belegen lassen, umso zurückhaltender wurden sie. Rechte Polemik und Gepoltere wichen zunehmend sachlichen Stellungnahmen. 43 Prozesstage lang waren Clemens und Schneiders tatsächlich hauptsächlich Juristen.

    Am allerletzten Prozesstag haben sie in ihre alte Rolle zurückgefunden.

    Wenig juristische Argumentation

    Es ist nicht so, dass die Verteidiger von Markus H. in ihren Plädoyers keine Sachargumente präsentieren würden. Vieles davon ist aus ihren Erklärungen während der laufenden Verhandlung bekannt: der Tatschilderung des Hauptangeklagten Stephan Ernst, der Markus H. als Mittäter belastete, könne schon aufgrund von dessen "angepassten Aussageverhalten" nicht geglaubt werden. Seine Angaben zum Kerngeschen auf der Terrasse der Lübckes in der Nacht auf den 2. Juni 2019 seien nicht stimmig. So zeige der von Sachgutachtern ermittelte Einschusswinkel, dass H. nicht dort gestanden haben könne, wo Ernst ihn in seiner Aussage verortete.

    Stephan Ernst habe sich mehrfach selbst "der Lüge überführt", betont Björn Clemens - beispielsweise über seinen vermeintlichen Ausstieg aus der Neonazi-Szene 2009. Der Hauptangeklagte habe eine Tendenz, die Schuld an seinem Fehlverhalten auf anderen abzuwälzen. Eine Radikalisierung durch Markus H. habe nie stattgefunden. Ernst selbst sei es gewesen, der am Arbeitsplatz Mitarbeiter politisch agitiert habe. Seine rechtsextreme Weltsicht sei so eingeschliffen, dass es für Markus H. gar nicht möglich gewesen sei, ihn zu radikalisieren. In jedem Fall habe sein Mandant von der konkreten Tatplanung keine Kenntnis gehabt und diese somit weder mittragen noch unterstützen können.

    Auch in Bezug auf den ihm vorgeworfenen Verstoß gegen das Waffengesetz will die Verteidigung kein strafbares Verhalten von Markus H. erkennen. Wieder einmal soll Markus H. "keine Kenntnis" gehabt haben. In diesem Fall davon, dass das von ihm auf einer Messe erworbene Deko-Maschinengewehr nicht ordnungsgemäß unbrauchbar gemacht worden sei. Ihrem Mandant sei schlimmstenfalls "Fahrlässigkeit" vorzuwerfen, betont Nicole Schneiders. Eigentlich aber handele es sich um einen nicht vermeidbaren Irrtum.

    Kurz gesagt: Die Verteidigung fordert Freispruch in allen Anklagepunkten. Gut fünf Stunden brauchen Schneiders und Clemens, um diese Forderung zu begründen. Die juristische Argumentation nimmt dabei höchstens 45 Minuten ein. Der Rest ist politische Polemik von rechts außen.

    Politische Posaune

    Björn Clemens' Plädoyer klingt wie die späte Fortsetzung seines Lamentos gegen den deutschen Staat vom Beginn des Prozesses: "Ich glaube nicht, dass dieser Staat im Kampf gegen rechts seit Jahren oder Jahrzehnten zurücksteckt."

    Clemens zeichnet ein Bild der Bundesrepublik, in der "Patrioten" vom Staat verfolgt werden, der Linksextremisten derweil unbehelligt gewähren lässt. Der Prozess gegen seinen Mandanten sei nur ein Ausdruck dieser Schieflage, die sich eben "auch in Urteilen" niederschlage.

    So werde seinem Mandanten etwa ein Strick aus der Teilnahme an zwei rechten Demonstrationen gedreht - obwohl er dort nichts weiter getan habe, als ein Grundrecht wahrzunehmen. Ebenso die Tatsache, dass er das Video von der Rede Walter Lübckes bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden 2015 ins Netz gestellt habe - obwohl diese Art der Kontrolle von Mandatsträgern ebenfalls ein demokratisches Recht sei. Sein Mandant jedenfalls habe seit 2009 und dem Ende seiner politischen Aktivitäten das "Musterbeispiel eines legalen Lebens" geführt, sagt Clemens.

    Zu Beginn seines Plädoyers wirft Clemens der Bundesanwaltschaft vor, in ihrem Schlussvortrag ins "politische Horn" geblasen zu haben. Wenn man in diesem Bild bleiben möchte, spielt Clemens an diesem Dienstag die "politische Posaune" - und das nicht besonders elegant.

    Alpträume vom sogenannten Volkstod

    Im Tonfall etwas weniger empört, aber inhaltlich mit ebenso wenig Bezug zur Hauptverhandlung ergeht sich Mitverteidigerin Nicole Schneiders in Ausführungen über den in rechtsextremen Kreisen immer wieder bemühten Begriff des "Volkstods". Gemeint ist die Angst davor, dass künftige Generationen deutscher Bürger in ihrer Mehrheit von Menschen mit Migrationsgeschichte abstammen könnten. Ein Vorgang, der nach Vorstellung der extremen Rechten von den "Eliten" zumindest billigend in Kauf genommen, wenn nicht gar gefördert wird.

    Gegen dieses Phänomen politischen Widerstand zu leisten, sei legitim, so Schneiders: "Der Bürger, der die Identitätswahrung vom Staat einfordert, darf nicht kriminalisiert werden." Schneiders zitiert ein Urteil, das immer wieder von Rechten ins Feld geführt wird, das sogenannte Teso-Urteil von 1987: "Aus dem Wahrungsgebot folgt insbesondere die verfassungsrechtliche Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten."

    Falsche Auslegung eines alten Urteils

    Tatsächlich finden sich diese Worte in dem Urteil. Es ist ein Zitat, das von rechten Autoren und Aktivisten immer wieder ins Feld geführt wird, wenn sie belegen wollen, dass Einwanderung im größeren Umfang gegen das Grundgesetz verstoße. Tatsächlich belegen Autoren wie Juristen von rechts mit dieser Interpretation nur eines: dass sie das Urteil nie in Gänze gelesen haben.

    Keinesfalls hat das Bundesverfassungsgericht 1987 den Begriff "Identität des Staatsvolkes" ethnisch definiert. Eher im Gegenteil. Im konkreten Fall wurde einem ehemaligen DDR-Bürger die Staatsbürgerschaft der BRD zuerkannt, die ihm vorher von bundesdeutschen Behörden mit Verweis auf seinen italienischen Vater verweigert worden war.

    Dass das Teso-Urteil "die fehlende Ausschließlichkeit der ethnischen Herkunft für die Bestimmung der Zugehörigkeit zum deutschen Volk" dokumentiert, stellte das Bundesverfassungsgericht zuletzt 2017 im Rahmen des zweiten Verbotsverfahrens gegen die NPD fest. Ein Urteil, das Szeneanwälten eigentlich bekannt sei sollte.

    Stephan Ernst distanziert sich

    Diese juristische Unzulänglichkeit dürfte für Clemens und Schneiders nicht weiter von Belang sein. Ihre Erklärungen richten sich offenkundig nur beiläufig an das Gericht und hauptsächlich an ein politisch gefestigtes Publikum außerhalb des Gerichtssaals.

    Stephan Ernst jedenfalls nutzt sein letztes Wort, um sich von den politischen Aussagen in den Plädoyers von Schneiders und Clemens zu distanzieren: "Was Frau Schneiders in ihrem teilweise politischen Plädoyer gesagt hat, wäre das, wovon ich mich abwenden möchte." Markus H. hingegen hält sich kurz: "Nicht alles, was hier gesagt wurde, hat zur Aufklärung beigetragen."

    Am kommenden Donnerstag, 28. Januar, soll das Urteil verkündet werden.

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    Tag 43: Eine Frage der Beweggründe

    Stephan Ernst mit seinem Verteidiger Mustafa Kaplan.

    Einen mutmaßlichen Mörder zu verteidigen, ist alles andere als eine dankbare Aufgabe. Zumal wenn der Kern des Tatvorwurfs, die gezielte Tötung eines Menschen, zweifelsfrei feststeht. Im Fall des Anschlags auf Walter Lübcke ist es der mutmaßliche Täter selbst, der diesen Kern bestätigt: Stephan Ernst hat längst zugegeben, Walter Lübcke erschossen zu haben. Von langer Hand vorbereitet, planmäßig ausgeführt. Das Motiv: politisch motivierter Hass.

    Nichts davon können oder wollen Ernsts Verteidiger in Abrede stellen. Aber sie wollen an diesem Donnerstag vor dem Oberlandesgericht Frankfurt erklären, warum das, was ihr Mandant getan hat, kein Mord gewesen sein soll.

    So viel wie möglich herausholen

    Mord oder Totschlag? Für Generationen von Jura-Studierenden eine Standardfrage in Klausuren und Hausarbeiten. Für Stephan Ernst aber geht es nicht um Noten, sondern darum, ob er jemals wieder auf freien Fuß kommen wird.

    Mehr als die Hoffnung, das Gefängnis nach einer langen Haftstrafe noch einmal verlassen zu können, das stand spätestens seit seinem Geständnis im laufenden Prozess fest, können seine Verteidiger für ihn nicht herausholen. Das aber wollen Mustafa Kaplan und Jörg Hardies in jedem Fall. Und so plädieren die beiden Verteidiger tatsächlich auf Totschlag.

    Die absichtliche Tötung eines Menschen ist nach deutschem Recht nur dann als Mord anzusehen, wenn die Tat bestimmte Merkmale aufweist. Die Bundesanwaltschaft und die Nebenklagevertreter der Familie Lübcke sehen beim Anschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten mindestens zwei Merkmale verwirklicht: Heimtücke und niedrige Beweggründe.

    Heimtücke, weil sich Walter Lübcke zum Tatzeitpunkt keines Angriffs versah und daher nicht in der Lage war, sich zu wehren. Aus niederen Beweggründen, weil Lübcke sich Ernsts Hass zuzog, indem er sich klar und offen für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland ausgesprochen hatte.

    Ernsts Verteidigung bestreitet das Vorliegen beider Merkmale. Für die breite Öffentlichkeit mag das absurd klingen, doch tatsächlich sind beide Begriffe seit Jahren Gegenstand juristischer Fachkontroversen und sich teils widersprechender Auslegungen durch Gerichte. Was ist Heimtücke? Was sind niedrige Beweggründe? Eindeutige Antworten hat die deutsche Rechtssprechung nicht.

    Wehrlos, aber nicht arglos

    Beim Mordmerkmal der Heimtücke etwa kommt es entscheidend darauf an, dass die Wehrlosigkeit des Opfers gerade auf dessen Arglosigkeit beruht. Lübcke saß auf seiner eigenen Terrasse, seinem Lieblingsplatz, wie seine Familie zu Protokoll gab, und rechnete nicht mit einem Angriff. Wo hätte sich Lübcke sicherer fühlen, argloser sein können als hier? Wie kann ein Angriff im Schutz der Dunkelheit, im akustischen Schatten eines Volksfests nicht heimtückisch sein? Zumal Stephan Ernst selbst zu Protokoll gegeben hat, dass Lübcke "keine Chance hatte", sich zu wehren.

    Um die Argumentation Kaplans zu verstehen, muss man zunächst bereit sein, Stephan Ernsts Schilderung der Tat zu glauben: Demnach verübten er und der Mitangeklagte Markus H. den Anschlag gemeinsam, traten mitten in der Nacht an Walter Lübcke heran und sprachen ihn an. Ernst richtete die Waffe auf Lübcke, während ihm H. entgegenblaffte: "So Herr Lübcke, Zeit zum Auswandern!"

    Ab diesem Moment, so die Argumentation Kaplans, sei Lübcke sich eines Angriffs bewusst und somit nicht mehr arglos gewesen. An seiner Wehrlosigkeit bestehe kein Zweifel, aber diese habe nicht auf seiner Arglosigkeit beruht. Dies habe auch dem gemeinsamen Tatentschluss von Ernst und H. entsprochen, denen es gerade darauf angekommen sei, Lübcke zu konfrontieren. Daher habe sein Mandant auch eine Kurzwaffe mitgeführt und nicht aus der Distanz geschossen.

    Vermeintliches allgemeines Interesse

    Auch niedrige Beweggründe will Kaplan nicht gelten lassen. Als solche werden nach geltender Rechtsprechung Motive angesehen, die "nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe" stehen. Die vom Bundesgerichtshof in den 1950er Jahren aufgestellte Definition ist im eigentliche Sinne keine. Sie ist ein für die deutsche Rechtsprechung typischer Versuch, einen unklaren Rechtsbegriff durch eine Reihe weiterer unklarer Rechtsbegriffe zu erläutern.

    Bei Stephan Ernst stellt sich die Frage, ob ein politisches Motiv als "niedriger Beweggrund" angesehen werden kann. Auch hier kommen deutsche Gerichte immer wieder zu sich widersprechenden Urteilen.

    Ernsts Verteidiger Kaplan verweist darauf, dass Ernst sich in den Jahren vor der Tat in einer "rechtspopulistischen" Blase bewegt habe, in der die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung als Volksverrat gesehen worden und Politiker wie Lübcke dafür verantwortlich gemacht worden seien. "Herr Ernst ging irrigerweise davon aus, im Allgemeininteresse zu handeln", fasst Kaplan zusammen.

    Ein Satz, der nach Empörung schreit. Und doch gibt es Fälle, in denen sich deutsche Gerichte ein ähnliches Argumentationsmuster zu eigen gemacht haben. Als etwa die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker 2016 von einem Rechtsextremisten mit einem Messer lebensgefährlich verletzt worden war, weil er sie unter anderem für die massenhafte sexualisierte Gewalt in der Neujahrsnacht 2016 verantwortlich gemacht hatte, wollte das Oberlandesgericht Düsseldorf keine "niedrigen Beweggründe" erkennen. Schließlich habe der Täter nicht aus eigennützigen Motiven, sondern in einem "vermeintlichen Allgemeininteresse" gehandelt.

    Lübcke als konkretes Opfer

    Kaplan betont zudem, dass Lübcke für Ernst nicht einfach ein "namenloser Repräsentant des Staates" gewesen sei, sondern eine Person, die er konkret für die aus seiner Sicht gefährliche Flüchtlingspolitik verantwortlich machte. Kaplan spricht es nicht explizit aus, aber an dieser Stelle geht es darum, dass Ernst seinem Opfer gerade nicht das aberkannt haben soll, was Juristen als "personalen Eigenwert" bezeichnen.

    Lübcke war demnach nicht einfach Mittel zum Zweck, sondern ein konkretes Opfer, das durch seine Einstellung Ernsts Hass auf sich gezogen hatte. Ein ihm verhasster Mensch, aber eben doch ein Mensch. Noch ein Argument, das gegen niedrige Beweggründe sprechen könnte.

    Unmengen emotionales Beiwerk

    Gegen die Argumentation der Verteidigung ließen sich zahlreiche Einwände erheben. Etwa, dass der Hass auf Walter Lübcke in Ernsts rassistischem Weltbild begründet liegt - was von deutschen Gerichten in der Regel als niedriger Beweggrund gewertet wird. Dass in Chats von Ernst mit seiner Mutter Walter Lübcke eben doch als Beispiel für "Volksverräter" herhalten musste, nicht mehr Person war, sondern Chiffre.

    Und letztlich muss man glauben, dass sich die Tat so abspielte, wie Ernst es beschrieben hat. Immerhin aber bewegt sich in diesen Punkten der Schlussvortrag der Verteidigung auf juristischem, wenn auch wackligem Boden. Abseits davon droht das Plädoyer sich immer wieder in Vorwürfen gegen andere Prozessparteien, Zeugen oder Ex-Anwälte zu verlieren.

    Die Schuld an dem "Geständniswirrwarr", wie Kaplan die insgesamt drei unterschiedlichen Tatschilderungen seines Mandanten nennt, liege sowohl bei dessen Ex-Verteidigern, Dirk Waldschmidt und Frank Hannig, als auch bei der Bundesanwaltschaft, die diesen "Szeneanwälten" Besuchsscheine ausgestellt und so die Mandatsanbahnung ermöglicht habe. Einem Sachverständigen, dessen DNA-Gutachten Ernst im Tatkomplex Ahmed I. belastet, unterstellt Mitverteidiger Jörg Hardies "unwissenschaftliches" Arbeiten. Im Gegensatz sei Stephan Ernst "konsequent seinen Weg gegangen" und habe umfassend zur Tataufklärung beigetragen.

    Das Plädoyer der Verteidigung enthält eine Unmenge emotionales Beiwerk. Vielleicht weil es von Schwächen der Argumentation ablenken soll. Vielleicht weil sich die Verteidiger nach bald acht Monaten Verhandlung tatsächlich immer noch missverstanden und schlecht behandelt fühlen.

    Folgt man ihrer Schilderung, sind am Ende nur Ernsts Verteidigung, die Vertreter der Familie Lübcke - die Ernsts Schilderung glauben - und das Gericht an einer tatsächlichen Aufklärung interessiert. Alle anderen verfolgen demnach weniger hehre Ziele.

    Keine konkrete Strafforderung

    Am Ende des Tages werden Kaplan und Hardies bei der Strafzumessung keine konkrete Forderung formulieren. Ihr Mandant solle für den "Totschlag" an Walter Lübcke zu einer "verhältnismäßigen, aber auch annehmbaren" Strafe verurteilt werden. Dabei solle das unterschiedliche Verhalten der beiden Angeklagten vor Gericht in die Bewertung einfließen. Im Gegensatz zu Ernst hat Markus H. sich nicht zum Tatvorwurf des Mordes an Walter Lübcke geäußert.

    Sollte das Gericht zum Schluss kommen, dass Ernst sich doch des Mordes schuldig gemacht habe, sei eine besondere Schwere der Schuld abzulehnen, führt Kaplan aus. Die Tat weise kein Abweichen von "erfahrungsgemäß ähnlichen Mordfällen" auf.

    Die Tatsache, dass Lübcke Politiker gewesen sei, begründe an sich noch keine besondere Schwere der Schuld. Da Ernst zudem im Hinblick auf den Messerangriff auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I. freizusprechen sei, lägen auch die Voraussetzung für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung nicht vor.

    Ernsts Verteidigung versucht also rauszuholen, was rauszuholen ist. Ob das Gericht ihrer Sichtweise zumindest teilweise folgt, wird sich am kommenden Donnerstag zeigen. Rechtsanwalt Kaplan jedenfalls scheint großes Vertrauen in den 5. Strafsenat und dessen Vorsitzenden Thomas Sagebiel zu setzen. "Sie sind ein wunderbarer Vorsitzender", ist einer seiner letzten Sätze in diesem Plädoyer.

    Der Prozess geht am Dienstag, 26. Januar, mit dem Plädoyer der Verteidigung von Markus H. weiter.

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    Tag 42: Der kürzeste Tag in einem langen Prozess

    Der 5. Strafsenat am Oberlandesgericht Frankfurt

    Die Überraschung hat einen Vorlauf von gut 45 Minuten. Pünktlich um 10 Uhr haben alle Prozessbeteiligten im Saal 165C des Oberlandesgericht Frankfurt Platz genommen. Nur das Gericht selbst, der 5. Strafsenat, lässt auf sich warten. Je länger sich das Warten hinzieht, umso klarer wird allen Beteiligten, dass noch "Beratungsbedarf" besteht. Soll heißen: Der Senat muss sich in einer Rechtsfrage die Karten noch einmal neu legen.

    Als der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel schließlich die Verhandlung mit Verspätung eröffnet, hat er neben einer Entschuldigung und dem Beschluss zur Ablehnung mehrerer Beweisanträge des Anwalts der Familie Lübcke noch einen Hinweis im Gepäck.

    Juristisch gesehen eine Kleinigkeit, die jedoch am Ende des Tages dafür sorgen wird, dass der restlich verbliebene Zeitplan dieses Prozesses in Mitleidenschaft gezogen wird. Und die möglicherweise schon etwas über das abschließende Urteil des Senats verrät.

    Anordnung oder Vorbehalt

    Es geht um einen rechtlichen Hinweis. Der Angeklagte und seine Verteidigung haben einen Anspruch darauf, vom Gericht auf besondere Umstände aufmerksam gemacht zu werden - etwa, wenn sich während der Hauptverhandlung ergibt, dass auch eine Verurteilung wegen einer Straftat infrage kommt, die ursprünglich nicht in der Anklageschrift angeführt wurde. Im Falle von Stephan Ernst geht es um den Hinweis auf Paragraf 66a des Strafgesetzbuchs - den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung.

    "Wir sind uns nicht ganz sicher, ob wir das hier schon getan haben", erklärt Thomas Sagebiel. Und im Grunde genommen ist sich das Gericht auch nicht sicher, ob es diesen Hinweis geben muss. Denn die Forderung nach einer Sicherungsverwahrung ist durchaus in der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und in ihrem Plädoyer enthalten.

    Allerdings in der Form wie sie in Paragraf 66 geregelt ist. Dort ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung unter anderem bei Mord vorgesehen, wenn der Täter vor der ihm nun vorgeworfenen Tat zwei weitere Straftaten gegen das Leben, die persönliche Freiheit oder sexuelle Selbstbestimmung begangen hat - und wegen einer von ihr zu mindestens drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde.

    Paragraf 66a hingegen regelt die Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung vorzubehalten - also nicht gleicht mit dem Urteil auszusprechen. Hierfür reicht bereits eine schwere Gewalttat. Rechtlich gesehen, ist der Vorbehalt weniger gravierend als die direkte Anordnung. "Es handelt sich also um ein Minus", wie Richter Sagebiel betont.

    Ob das Gericht verpflichtet ist, auf ein solches "Minus" hinzuweisen, ist unter Juristen durchaus umstritten. Aber nach mehr als sieben Monaten Verhandlung will der 5. Strafsenat offensichtlich kein Risiko eingehen.

    Plädoyer verschoben

    Für viele Prozessbeobachter ist der Hinweis auf die mögliche Anwendung von Paragraf 66a ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Senat Stephan Ernst wohl nicht für den Angriff auf den irakischen Geflüchteten Ahmed I. im Januar 2016 verurteilen wird.

    Täte er dies nämlich, lägen eigentlich die Voraussetzungen für den "stärkeren" Paragrafen 66 vor. So könnte es darauf hinauslaufen, dass ein Gutachter nach Ende der Mindesthaftzeit prüfen müsste, ob Stephan Ernst immer noch als Gefahr für die Allgemeinheit anzusehen ist.

    Für die Verteidigung von Stephan Ernst hat der Hinweis - mit dem sie offenkundig auch nicht gerechnet hatte - zunächst einmal die Konsequenz, dass sie ihr Plädoyer umstellen muss. Nach Rücksprache mit seinem Mandanten erklärt Verteidiger Mustafa Kaplan, dass sich sein Schlussvortrag nicht mehr kurzfristig anpassen lässt. Das Plädoyer wird auf den 21. Januar verschoben.

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    Tag 41: Die Glaubwürdigkeit des Täters

    Der Anwalt der Familie Lübcke: Holger Matt

    Plädoyers haben im Strafprozess eine klare Funktion. Am Ende der Beweisaufnahme, wenn das Gericht zur Überzeugung gelangt ist, dass es nichts mehr zu ermitteln, nichts mehr zu fragen, nichts mehr in Augenschein zu nehmen gibt, erhalten die Parteien die Gelegenheit darzustellen, welche Schlüsse sie aus der Beweisaufnahme ziehen. Das was sie für die Wahrheit halten oder das, was ihrer Meinung nach das Gericht für die Wahrheit halten soll. In den wenigsten Fällen weicht es von dem ab, was die Prozessparteien bereits zu Beginn oder während des Prozesses als "Wahrheit" erkannt haben.

    An diesem Dienstag, dem mittlerweile 41. Termin des Prozesses um die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, ist Holger Matt an der Reihe. Der Anwalt der Familie Lübcke hat dabei allerdings eine doppelte Aufgabe. Sein Plädoyer gibt nicht nur wieder, was nach seiner Überzeugung als Jurist das Ergebnis der Hauptverhandlung ist, sondern auch was nach Überzeugung der Hinterbliebenen des Ermordeten der Wahrheit am nächsten kommt. Dass dies im Wesentlichen deckungsgleich mit dem ist, was der Hauptangeklagte Stephan Ernst in seinem dritten "Geständnis" geschildert hat, hat die Nebenklage bereits relativ früh im Prozess klar gemacht. Sie hält Stephan Ernsts Aussagen bezüglich des "Kerngeschehens" für glaubwürdig.

    Das führt zu einer im Strafprozess ungewöhnlichen Konstellation: Der Vertreter der Nebenklage appelliert an das Gericht, dem Hauptangeklagten Glauben zu schenken.

    Aussagen als "knallharter Beweis"

    Holger Matts Schlussvortrag beginnt mit einem fast einstündigen Lob für die Bundesanwaltschaft und das Gericht. Vor allem Letzteres habe durch seine Prozessführung, die detaillierte Befragung des Angeklagten, dazu beigetragen, den Fall aufzuklären. Denn nach Ansicht der Nebenklage Lübcke ist der Fall genau das: aufgeklärt. Demnach haben Stephan Ernst und der Mitangeklagte Markus H. die Tat gemeinsam geplant und ausgeführt. Markus H. war also nicht nur Beihelfer, wie es die Bundesanwaltschaft sieht, sondern Mittäter.

    "Ohne Markus H. hätte es den Mord an Walter Lübcke nicht gegeben." Diese Quintessenz seines Plädoyers wiederholt Matt in seinem gut fünfstündigen Vortrag mehrfach. Markus H. war dabei, als Stephan Ernst den Abzug betätigte, so seine Überzeugung. Er näherte sich Lübcke von vorne, sprach ihn an, sah zu wie Ernst ihn mit der Waffe bedrohte und den CDU-Politiker in den Stuhl zurück drückte, als dieser aufzustehen versuchte. Markus H. hat nicht geschossen und doch war er Mittäter bei diesem Attentat.

    Für Matt gibt es "keine Zweifel, die hier zu einem Freispruch für den Mitangeklagten H. führen könnten". Entscheidend sei die "widerspruchsfreie Darstellung des Kerngeschehens" durch Ernst. Dessen Aussage komme nicht nur indizieller Wert zu. "Wir haben hier einen knallharten Beweis", betont Matt. Nämlich einen Täter, der spricht und der auch schwierige Nachfragen beantwortet habe.

    Schlussendlich eine Frage der Glaubwürdigkeit

    Und dessen Aussagen durch weitere Indizien gestützt würden: Die kurz nach der Tat von Markus H. gelöschten Chats zwischen ihm und Ernst zum Beispiel. Oder die Aussage des ältesten Sohn Walter Lübckes, der zwei Männer, deren Beschreibung auf Ernst und H. passen könnte, knapp ein Jahr vor der Tat am Wohnort der Familie gesehen haben will. Eine Erinnerung, die sich mit der Schilderung einer gemeinsamen Ausspähung durch Ernst deckt. "Stück für Stück, jedes Teilchen für sich", habe die Nebenklage sich so von der Mittäter-Hypothese überzeugen lassen.

    Das Problem von Matts Plädoyer: Es ist schlüssig, aber vor allem deshalb, weil er zahlreiche Details auslässt und auch größere Widersprüche in den Aussagen des Angeklagten Ernst schon beinahe lapidar beiseite wischt. Die Tatsache, dass keine forensischen Beweise für H.s Anwesenheit am Tatort vorliegen, ebenso wie die Schilderung der Tatvorbereitung, bei der die Angeklagten zwar an falsche Nummernschilder gedacht haben wollen, aber nicht an Handschuhe. Matts Hauptargument bleibt, dass er Ernst seine Reue abnimmt und ihn nicht zuletzt deswegen für glaubwürdig hält. Zu diesem Schluss kann man kommen - muss man aber nicht. Und das Gericht hat bereits bei der Entlassung von Markus H. aus der U-Haft deutlich gemacht, dass es eher nicht von einer Mittäterschaft ausgeht.

    Schlussendlich schließt sich die Nebenklage Lübcke der Strafforderung der Bundesanwaltschaft an. Für Ernst also lebenslange Haft wegen Mordes und die Feststellung der besonderen schwere der Schuld. Selbiges fordert sie für Markus H. - sollte er wegen Mittäterschaft verurteilt werden.

    Ein Anwalt rechnet ab

    Deutlich kürzer als Matt fasst sich der zweite Nebenklagevertreter in diesem Prozess. Alexander Hoffmann, der den irakischen Geflüchteten Ahmed I. vertritt, der laut Anklageschrift von Stephan Ernst im Januar 2016 hinterrücks niedergestochen worden sein soll, präsentiert allerdings auch keinen klassischen Schlussvortrag. Es ist viel mehr eine Abrechung: Mit den Ermittlern der Polizei, die den Fall nie aufgeklärt hätten und stattdessen in seinem Mandanten nur einen "Geflüchteten, der Ärger macht" gesehen hätten. Mit der Verteidigung von Stephan Ernst, die versucht habe seinen Mandanten in ein äußerst schlechtes Licht zu rücken. Und auch mit dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt, der bei der Vernahme seines Mandanten alles andere als sensibel vorgegangen sei.

    Auch Hoffmann ist überzeugt, dass sich im Laufe der Hauptverhandlung seine Version der Wahrheit bestätigt hat. Sprich: dass die Täterschaft von Stephan Ernst erwiesen ist. "Der Angeklagte Ernst ist ein Rassist und ein überzeugter Neo-Nazi", erklärt Hoffmann. Eine Abkehr von seiner "rassistischen, biologistischen und gewaltbejahenden Ideologie" habe nie stattgefunden. Dies habe zu dem Mordanschlag auf seinen Mandanten geführt. Ein Freispruch Ernst würde nichts anderes bedeuten, als das Ahmed I. einmal mehr "im Stich gelassen". würde.

    Der Prozess wird am Donnerstag (14. Januar) fortgesetzt. Dann wird eine weitere Version der "Wahrheit" zu hören sein - die der Verteidigung von Stephan Ernst.

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    Tag 40: Die Anklage fordert das Maximum

    Oberstaatsanwalt Dieter Killmer

    Das Markenzeichen von Dieter Killmer ist seine Stimme. Irgendwo zwischen Bass und Bariton angesiedelt, ist jedes Wort des Oberstaatsanwaltes gut zu verstehen, selbst wenn er vergisst, sein Mikrofon einzuschalten. Von der Tonalität her eigentlich nicht sonderlich außergewöhnlich, schafft es der Vertreter der Bundesanwaltschaft zeitgleich eindringlich und nicht nur höflich, sondern tatsächlich freundlich zu klingen - unabhängig vom Inhalt des Gesagten.

    Am Ende eines jener inzwischen berühmten Vernehmungsvideos, in denen der Hauptangeklagte Stephan Ernst seinen Mitangeklagten Markus H. für den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke verantwortlich macht, ist Killmer zu hören, wie er in eben dieser Mischung aus Eindringlichkeit und Freundlichkeit erklärt, dass ihn die Geschichte "nicht überzeugt". Und in genau demselben Ton erklärt Killmer an diesem Dienstag, warum Ernst seiner Meinung nach nie wieder auf freien Fuß kommen sollte.

    Ein Mord als Fanal

    Wenn Plädoyers auch Urteile über den Charakter eines Menschen sind, dann ist das der Bundesanwaltschaft über Ernst vernichtend. Das macht schon die Strafforderung deutlich: lebenslange Haft - Feststellung der besonderen schwere der Schuld - anschließende Sicherungsverwahrung. Es ist die absolute Maximalforderung im deutschen Strafrecht. Dieses ist eigentlich gar nicht darauf ausgerichtet, Menschen bis an ihr Lebensende wegzusperren - hält es aber in speziellen Fällen dann doch für notwendig. Ernst ist nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft so ein Fall.

    Aus Sicht der Bundesanwaltschaft hat der Prozess die Anklage im Wesentlich bestätigt. Ernst ist schuldig des Mordes an Walter Lübcke und des Mordversuchs an dem irakischen Asylbewerber Ahmed I. In beiden Fällen, erläutert Killmer, habe sowohl "heimtückisch" als auch aus "niedrigen Beweggründen" gehandelt. Heimtückisch, weil beide Opfer keinen Angriff erwarten konnten. Ahmed I. nicht, als er im Januar 2016 mutmaßlich von Ernst auf einem Fahrrad überholt und niedergestochen wurde. Lübcke nicht, als sich Ernst im Schutze der Dunkelheit an ihn heranschlich und ihm von der Seite in den Kopf schoss. Aus niedrigen Motiven, weil das Tatmotiv in beiden Fällen in Ernsts "rassistischem" und "menschenverachtendem" Weltbild zu finden sei.

    Ein fünfeinhalbstündiger Abschlussvortrag ist auch der Versuch einer Erzählung. In diesem Fall bettet die Bundesanwaltschaft Ernsts Tat in die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre ein: die zunehmende Polarisierung in der Öffentlichkeit, die aufgeheizte Flüchtlingsdebatte, die zunehmende Hetze im Netz. Ernst ist nicht das Produkt dieser Zeit, aber er ist wie für sie gemacht: Sein Hass auf Flüchtlinge, seine Überzeugung, dass Deutschland ein Bürgerkrieg bevorstehe, seine Wut auf "Volksschädlinge" und "Volksverräter", wie es Walter Lübcke in seinen Augen war, das alles sei in einem "unbedingten Vernichtungswillen" gegipfelt. Der Mord an Lübcke habe schließlich ein "öffentliches Fanal" darstellen sollen.

    Begrenzt aufklärungsbereit

    Dabei handelte Ernst zumindest am Tatabend alleine, davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt. Sie glaubt dem jüngsten Geständnis des Hauptangeklagten nicht, das dieser während der Hauptverhandlung abgelegt hat. Darin hatte er den tödlichen Schuss auf Lübcke zwar eingeräumt, aber daran festgehalten, dem Kasseler Regierungspräsidenten gemeinsam mit Markus H. aufgelauert zu haben. Es war die dritte Tatversion, die Ernst seit seiner Festnahme im Juni zu Protokoll gegeben hatte. Welche davon die glaubwürdigste ist, war die zentrale Frage der Beweisaufnahme.

    Letzlich hätten wohl alle Einlassungen Ernsts Teilwahrheiten und Unwahrheiten enthalten, glaubt die Anklage. Nur eine "Kombination von Fragmenten" der verschiedenen Aussagen ließe wohl so etwas wie eine Annäherung an das reale Geschehen zu. Ernst habe seine Aussagen immer wieder angepasst, dabei aber wesentliche Widersprüche nicht aufklären können. "Die angebliche Aufklärungsbereitschaft des Angeklagten Ernst hat Grenzen", sagt Killmer. So bleibe seine Schilderung des vermeintlichen Tatbeitrags des Mitangeklagten Markus H. unplausibel.

    Und auch im Fall Ahmed I. ist die Bundesanwaltschaft von Ernsts Täterschaft überzeugt. Dafür sprächen die DNA-Fragmente an einem bei Stephan Ernst aufgefundenen Messer, die von einem Experten mit hoher Wahrscheinlich Ahmed I. oder einem Verwandten zugeordnet werden konnten, sowie eine Aussage, in der er selbst davon berichtete, am 6. Januar 2016 einen "Ausländer" beschimpft zu haben - just an dem Tag des Anschlags auf Ahmed I. Den Entlastungsbeweis der Verteidigung - eine Quittung über den Kauf eines Messer desselben Typs, die auf den 30. Januar 2016 datiert ist - will die Anklage nicht gelten lassen. Es gebe keinen Beweis, dass die Quittung und das aufgefundene Messer zusammengehörten.

    Kurz ließe sich die Überzeugung der Bundesanwaltschaft auch in zwei Sätzen zusammenfassen: Ernst ist unglaubwürdig. Und er ist nach wie vor gefährlich. Die Anklage beantragt folglich nicht nur die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, sondern auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung. Beide Taten seien das Ergebnis seiner "persönlichkeitseigenen Haltungen und Überzeugungen". Ernsts Hass auf "Ausländer" sei ein "eingeschliffener innerer Zustand", aus dem ein "Hang zu erheblichen Straftaten" resultiere. Deutlicher kann man im Juristendeutsch nicht formulieren, dass jemand eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt.

    Markus H. soll als Beihelfer verurteilt werden

    Der Mitangeklagte Markus H. indes ist nach Überzeugung der Anklage der Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke schuldig. "Das dem Mord zugrundeliegende menschenverachtende Weltbild teilt der Angeklagte H.", erklärt Killmer. Über Jahre hinweg habe H. Ernst nicht nur "bestärkt" und radikalisiert, sondern ihm beim gemeinsamen Schießtraining überhaupt erst die Fertigkeiten vermittelt, die Tat zu begehen. Spätestens nachdem sie gemeinsam das Wohnumfeld der Lübckes ausgspäht hätten, habe "die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten Ernst in der Luft" gelegen. Markus H. habe dies nicht nur für möglich gehalten, sondern auch billigend in Kauf genommen.

    Da zudem bei Markus H. eine nicht dauerhaft unbrauchbar gemachte Deko-Waffe gefunden wurde, müsse sich H. auch wegen eines Verbrechens nach dem Waffengesetz verantworten. In Gänze plädiert die Bundesanwaltschaft für eine Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten.

    Die Bundesanwaltschaft sieht damit alles in allem die Vorwürfe aus der Anklageschrift bestätigt. Ab dem 12. Januar 2021 werden dann die übrigen Prozessparteien ihre Sicht auf die Ergebnisse der Beweisaufnahme darlegen. Dass sie dabei ähnlich freundlich klingen werden wie Oberstaatsanwalt Killmer, darf bezweifelt werden.

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    Tag 39: Am Ende der Beweisaufnahme

    Björn Clemens ist einer von zwei Verteidigern des Mitangeklagten Markus H.

    In einem Strafprozess ist es nicht unüblich, dass die einzelnen Parteien mehr als ein Ziel verfolgen: Aufklärung, Genugtuung, Rehabilitierung, Strafe. Welche davon nach- und welche vorrangig sind, zeichnet sich im Laufe des Prozesses ab.

    Für Holger Matt, den Anwalt der Familie Lübcke, steht im Prozess um die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten nicht zwangsläufig die Bestrafung der beiden Hauptangeklagten im Mittelpunkt. Mehrfach hat er bereits deutlich gemacht, dass es den Hinterbliebenen vor allem darum geht, die ganze Wahrheit über die Nacht vom 1. zum 2. Juni 2019 zu erfahren. Sie wollen Klarheit darüber, wie Walter Lübcke starb und wer an dem Mord beteiligt war. Alles andere muss dahinter zurückstehen.

    Das Problem dabei: Der Weg zur Wahrheit über jene Nacht führt ausschließlich über den Hauptangeklagten Stephan Ernst, der die Glaubwürdigkeit seiner Einlassungen durch sein bis zuletzt widersprüchliches Aussageverhalten untergräbt. "Uns geht es im Wesentlichen darum, die Aussagen des Hauptangeklagten Ernst zu überprüfen", betont Holger Matt, ehe er an diesem 39. Prozesstag vor dem Oberlandesgericht Frankfurt seine möglicherweise letzten Beweisanträge in dieser Hauptverhandlung stellt. Matt ist mit seinem Anliegen nicht allein. Eigentlich dreht sich der Prozess seit seinem Beginn um die Frage nach Ernsts Glaubwürdigkeit.

    Planungstreffen im Frühjahr

    Etwas überraschend scheinen an diesem Donnerstag neue Indizien zumindest einen kleinen Teil von Ernsts Geständnis, das er am achten Prozesstag abgelegt hat, zu bestätigen. Seinerzeit und auch in den anschließenden Befragungen berichtete er, dass er und der Mitangeklagte Markus H. den Anschlag auf Lübcke im April 2019 bei einer Art Planungstreffen beschlossen hätten. Nach einer Vorstandssitzung im Schützenverein Sondershausen hätten sie an einer Tankstelle Bier gekauft und vereinbart, Lübcke am Wochenende der Kirmes in Wolfhagen-Istha (Kassel) zu überfallen.

    Bislang gab es darüber hinaus keinerlei Hinweise auf dieses Planungstreffen. Ernst hatte gesagt, an welcher Tankstelle er das Bier gekauft habe und dass er mit seiner EC-Karte bezahlt habe. Nachforschungen der Polizei blieben allerdings ergebnislos. Doch die Ermittler fanden heraus, dass Anfang Mai 2019 eine Jahreshauptversammlung im Schützenverein stattfand. Ernst schloss daraufhin nicht aus, sich im Datum vertan zu haben. Und er brachte eine andere Tankstelle ins Spiel.

    Als der Vorsitzende Richter an diesem Verhandlungstag Unterlagen verteilen lässt und weitere Fragen an Ernst ankündigt, ist allen Beobachtern klar, dass neue Erkenntnisse vorliegen müssen. Überraschend detailliert sind die Erinnerungen, die Ernst kurz darauf zu Tage fördert. Zwei Flaschen habe er an diesem Abend gekauft, irgendwann zwischen 17 und 19 Uhr: Radler für sich, ein normales Bier für Markus H. Ein junger Mann habe ihn abkassiert und einen Witz gerissen, an den er sich nicht mehr erinnern können. Er sei sich nicht sicher, aber er habe vielleicht mit Münzgeld bezahlt.

    Tatsächlich ermittelte die Polizei, dass am 4. Mai - dem Tag der Jahreshauptversammlung - um 18.57 Uhr in der betreffenden Tankstelle ein Kunde ein Bier und ein Radler gekauft und mit einem 50-Euro-Schein bezahlt hatte.

    Markus H. spricht

    Es ist immerhin ein Indiz, das zu Ernsts Erzählung passt. Auch wenn es nur belegt, dass an jenem Abend eben ein Bier und ein Radler über den Tresen gingen. Der Verkäufer von damals, vom Gericht als Zeuge geladen, kann sich weder an Ernst noch an H. erinnern. Und selbst wenn er es könnte: Es würde nichts darüber aussagen, ob die beiden an diesem Abend etwas besprachen.

    Markus H. zieht es vor, sich über diesen Abend auszuschweigen. Über etwas anderes möchte er aber doch noch sprechen: seinen möglichen Verstoß gegen das Waffengesetz. Die zweite Überraschung des Tages. Zu Beginn des Prozesses hatte Markus H. angekündigt, sich überhaupt nicht einlassen zu wollen - er hielt dies bis zu diesem Prozesstag konsequent durch.

    Im Kern geht es um eine Deko-Waffe aus seinem Besitz, die nach Ansicht eines Gutachters nicht ordnungsgemäß unbrauchbar gemacht worden war. Er habe die Waffe irgendwann in den Jahren 2011 bis 2014 auf der Waffenmesse in Kassel von einem zertifizierten Händler erworben. "Ich bin daher davon ausgegangen, dass es sich um eine ordnungsgemäß abgeänderte Deko-Waffe handelt", sagt Markus H.

    Bundesanwaltschaft soll am Dienstag plädieren

    Aus Sicht des 5. Strafsenats ist damit ausreichend Material gesammelt, um die Glaubwürdigkeit von Stephan Ernst und Markus H. zu bewerten. Holger Matts Beweisanträge, die auf zusätzliche Sachverständigengutachten zur Verteilung von Schmauchspuren und den möglichen Standort des Todesschützen auf der Terrasse des Wohnhauses der Lübckes abzielen, lehnt das Gericht am Nachmittag ab. Die Beweisaufnahme ist geschlossen. Jetzt folgen die Plädoyers.

    Den Anfang soll am Dienstag, 22. Dezember, die Bundesanwaltschaft machen. Nach einer Weihnachtspause wird der Prozess Mitte Januar fortgesetzt.

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    Tag 38: Punkte sammeln auf der Zielgeraden

    Illustrationen zum Blog über Lübcke-Prozess

    Der Auftritt von Ulrike K. vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt ist kurz. Knapp eine Viertelstunde gibt die Fraktionsassistentin der Grünen im Kasseler Rathaus Auskunft über den Wahlkampf der Partei im Januar 2016. Ab wann und in welchem Umfang für die damals anstehende Kommunalwahl plakatiert wurde, ob in größerem Umfang Plakate zerstört wurden.

    Ulrike K. weiß von keinen größeren Vorkommnissen, die "über den normalen Vandalismus" hinausgingen, zu berichten. Insbesondere sei ihr nicht bekannt, dass Plakate in größerem Umfang kaputt getreten worden seien. Nach 15 Minuten kann die Zeugin wieder gehen. Die Anfahrt nach Frankfurt war deutlich länger als ihre Vernehmung.

    Ulrike K. ist die einzige "neue" Zeugin an diesem 38. Verhandlungstag eines Prozesses, der sich seinem Ende entgegen schleppt. Ihre Aussage gehört zum Fallkomplex Ahmed I. Der irakische Flüchtling soll im Januar 2016 nach Überzeugung der Anklage von Stephan Ernst niedergestochen worden sein. Ernst bestreitet die Tat, will aber just am Tatabend Wahlplakate von SPD und Grünen in der Nähe des Tatorts zertreten haben. Sollte er das tatsächlich getan haben, haben zumindest die Grünen nichts davon mitbekommen.

    Die kurze Vernehmung von Ulrike K. deutet an, dass die Zeit der ausführlichen Beweisaufnahme im Prozess um den Lübcke-Mord zu Ende geht. Große Überraschungen erwartet wohl kaum ein Prozessbeteiligter mehr. Jetzt geht es vorrangig darum, die letzten Punkte für die Schlussplädoyers einzusammeln.

    Schmauchspuren und Standpunkte

    Die Vertreter der Familie Lübcke etwa wollen nach wie vor Indizien dafür sammeln, dass der Mitangeklagte Markus H. an dem Mordanschlag direkt beteiligt war. Dass Walter Lübcke in den letzten Augenblicken seines Lebens nicht in das Gesicht des geständigen Todesschützen, Stephan Ernst, blickte, sondern in das des mutmaßlichen Mittäters.

    Die Nebenklage Lübcke hat sich überraschend früh im Verfahren darauf festgelegt, dass sie der aktuellen Tatschilderung von Stephan Ernst glauben will. Und sie scheint allen Ungereimtheiten zum Trotz davon nicht abrücken zu wollen.

    So beantragt der Anwalt der Familie Lübcke, Holger Matt, einen neuen Sachverständigenbeweis, der sich unter anderem mit Schmauchspuren an der Wand des Wohnhauses der Lübckes befassen soll. Besser gesagt: mit dem Nichtvorhandensein selbiger. Die Nebenklage schließt daraus, dass die Tatwaffe beim Abfeuern gut 80 Zentimeter von der Hauswand entfernt gewesen sei - was in Verbindung mit dem Eintrittswinkel der Kugel Rückschlüsse auf den Standpunkt des Schützen und die Kopfhaltung Lübckes erlaube.

    Lübcke blickte geradeaus auf H., rechts von Lübcke stand Ernst und schoss. Das soll belegt werden. Auch die Bundesanwaltschaft sieht hier noch Klärungsbedarf und stimmt dem Antrag zu.

    Tatsächlich hat der Senat für Donnerstag, 17. Dezember, einen Gutachter zu dieser Frage geladen. Dass dessen Vernehmung eine Wende im Prozess bringen könnte, bezweifelt der Vorsitzende des 5. Strafsenats allerdings: "Ich glaube, dass das Fernziel des Antrags, nämlich zu belegen, dass Herr H. am Tatort war, nicht erreichbar ist", erklärt Thomas Sagebiel.

    Passende Belege

    Auch die Vertretung des Nebenklägers Ahmed I. sieht im Gegensatz zum Senat die Beweisaufnahme noch nicht an ihrem Ende angekommen. Eine Verurteilung Stephan Ernsts für den Messerangriff im Januar 2016 schien lange wahrscheinlich. Hauptindiz waren DNA-Fragmente, die auf einem Messer in seinem Haus gefunden wurden. Inzwischen aber hat seine Verteidigung eine Quittung für den Kauf eines Messers eben dieses Typs vorgelegt, die auf den 30. Januar 2016 datiert ist - 24 Tage nach der Tat. Die Echtheit der Quittung wurde von den Inhabern des ausstellenden Geschäfts und einer ehemaligen Mitarbeiterin bestätigt.

    Rechtsanwalt Alexander Hoffmann ist indes überzeugt, dass Ernst hier bewusst ein entlastendes Indiz produziert hat. Einige Tage nach dem Angriff nämlich wurde die Polizei bei Ernst, der in Tatortnähe lebt, vorstellig. "Der Kauf des Messers und der Scan der Quittung erfolgten zu einem Zeitpunkt, an dem der Angeklagte jederzeit mit einer Hausdurchsuchung rechnen musste", sagt Hoffmann.

    Auffällig sei zudem, dass auf dem USB-Stick, auf dem sich der Scan der Quittung befand, zwar zahlreiche Dokumente aus den Jahren 2004 bis 2019 gespeichert seien. Darunter seien jedoch nur wenige Kaufbelege - obwohl Ernst in dieser Zeit Anschaffung getätigt habe, bei denen es eher nachvollziehbar gewesen wäre, Kaufbelege zu speichern. Hoffmann fordert daher eine datenforensische Analyse des Datenträgers.

    Ernsts Verteidiger, Mustafa Kaplan, bescheinigt Hoffmann immerhin, sich "viel Mühe mit dem Antrag" gegeben zu haben. Doch die Schlussfolgerungen aus der Inaugenscheinnahme des USB-Sticks seien "nicht plausibel und nicht nachvollziehbar". Denn warum, fragt Kaplan, sollte Ernst sich die Mühe machen, eine Quittung für die mutmaßliche Tatwaffe zu besorgen, anstatt diese einfach verschwinden zu lassen?

    Urteil Ende Januar angestrebt

    Für die Verteidigung von Markus H. schwinden derweil die Chancen, den Vorwurf des Verstoßes gegen das Waffengesetz zu entkräften. Im Mittelpunkt steht eine bei Markus H. aufgefundene unbrauchbar gemachte Maschinenpistole. Ein Gutachter des Landeskriminalamtes (LKA) kam zu dem Schluss, dass diese sich mit handelsüblichen Werkzeugen wieder schussfähig machen lasse - er hatte die entsprechenden Umbauten im Auftrag des Gerichts vorgenommen und dokumentiert.

    Die Anträge der Verteidigung H.s, ein von ihr beauftragtes Gegengutachten zu verlesen beziehungsweise den Privatgutachter, der es erstellte, zu vernehmen, lehnt das Gericht ab. Der Privatgutachter habe im Gegensatz zum Sachverständigen des LKA die Waffe nicht in Augenschein nehmen können. Auch sonst sei nicht erkenntlich, dass der Privatgutachter über eine größere Expertise verfüge. Die Verteidigung von Markus H. behält sich eine Gegenrede vor.

    Für das Gericht macht derweil der Vorsitzende Sagebiel klar, dass die Beweisaufnahme auf ihr Ende zusteuere: "Wir sind mit unserem Programm durch."

    Am Nachmittag bestätigt die Pressestelle des OLG, dass die Bundesanwaltschaft am Dienstag, 22. Dezember, ihr Schlussplädoyer halten soll. Ein Urteil wird für den 26. Januar 2021 angestrebt.

    Der Prozess wird am Donnerstag, 17. Dezember, fortgesetzt.

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    Tag 37: Puzzle mit fehlenden Teilen

    Der Mitangeklagte Markus H. betritt den Gerichtssaal

    Bevor er seinen Mandanten zu Wort kommen lässt, muss Rechtsanwalt Mustafa Kaplan noch eine Erklärung abgeben. Stephan Ernst stehe weiterhin zu seinem Versprechen, Fragen des Gerichts und der Familie Lübcke beantworten zu wollen. Ihm als Anwalt sei bewusst, so Kaplan, dass dies "mit einem Risiko verbunden sei". Je mehr nachgefragt werde, je öfter sich sein Mandant äußere, desto mehr "Widersprüche und Ungereimtheiten" gebe es. Das liege nun einmal in der Natur der Sache.

    Mustafa Kaplans "Vorwort" klingt ein wenig wie eine vorweggenommene Entschuldigung. Angesichts des bisherigen Prozessverlaufs allerdings ist es wohl eher eine nicht allzu gewagte Prognose. Die Fragen, die das Gericht an diesem Donnerstag stellen will, sind größtenteils erst dadurch entstanden, dass Ernst vor zwei Prozesstagen versucht hat, offene Fragen der Familie Lübcke zu beantworten. "Widersprüche und Ungereimtheiten" sind ein Markenzeichen von Ernsts Aussagen - und das bleibt auch an diesem 37. Prozesstag so.

    Indiz oder Scheinerinnerung

    Zunächst allerdings geht es an diesem Donnerstag um die Glaubwürdigkeit einer anderen Aussage. Christoph Lübcke, der älteste Sohn des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten, hatte am Dienstag im Zeugenstand von einer Begebenheit aus dem Frühjahr 2018 berichtet. Damals hätte er mit seinem Vater vor seinem Haus gestanden, als ihnen zwei unbekannte Männer aufgefallen seien, von denen er sich angestarrt gefühlt habe. Insbesondere das Grinsen des kleineren, rundlichen Mannes sei ihm in Erinnerung geblieben. Ein auffälliges Grinsen zeigte Markus H. fast den ganzen Prozess über.

    Christoph Lübckes Erinnerungen würden zu den Schilderungen Stephan Ernsts passen, der Markus H. weiterhin bezichtigt, an der Planung und Ausführung des Anschlags auf Walter Lübcke direkt beteiligt gewesen zu sein. Dazu zählten auch gemeinsame Fahrten nach Wolfhagen-Istha, um das Wohnumfeld Lübckes auszuspähen. Bei einer davon, wollen sie Lübcke im Gespräch mit einem anderen Mann - einem Nachbarn vermuteten sie damals - gesehen haben.

    Für die Verteidigung von Markus H. ist die Aussage des Lübcke-Sohns von geringem Beweiswert. Schließlich sei diese erst erfolgt, nachdem dieser bereits die Aussagen Ernsts in allen Details gekannt und sich die Anwälte der Familie darauf festgelegt hätten, Ernsts Tatschilderung zu glauben. "Es besteht die Gefahr, dass der Zeuge sogenannten Scheinerinnerungen erliegt", erklärt H.s Anwältin Nicole Schneiders.

    Stephan Ernst muss also zunächst einmal bestätigen, was ein anderer zu Protokoll gegeben hat. Der Senat lässt 13 Bilder von Wohnhäusern aus Wolfhagen-Istha auf eine Leinwand projizieren. Ernst soll das Gebäude identifizieren, vor dem er im Frühjahr 2018 Lübcke und den vermeintlichen Nachbarn gesehen haben will. Nach mehrfacher Sichtung deutet Ernst zwei Fotos aus - eines zeigt tatsächlich das Wohnhaus von Christoph Lübcke.

    Fragwürdige Waffenübergabe

    Über den Wert dieser Identifizierung lässt sich vortrefflich streiten. Immerhin aber erzeugt sie keine neue Ungereimtheiten - was sich von den restlichen Einlassungen Ernsts nicht behaupten lässt.

    Da ist zum Beispiel die Sache mit der Langwaffe K98. Ernst hatte behauptet, dass Markus H. diese für ihn erworben und auf seine Waffenbesitzkarte habe eintragen lassen. Dennoch hätte sich das Gewehr des Öfteren in Ernsts Besitz gefunden - auch am Abend als Walter Lübcke erschossen wurde. Nach der Tat seien er und Markus H. daher noch einmal zu Ernsts Haus gefahren, damit H. die Waffe wieder an sich nehmen könne. In seiner Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs im Januar 2020 hatte Ernst behauptet, dass sich die Waffe die meiste Zeit bei ihm befunden habe.

    Die Behauptung will nicht ganz zu dem passen, was man über H.s. Umgang mit seinen Waffen weiß. Bei mehreren Kontrollen durch die zuständige Ordnungsbehörde hatte diese nichts zu beanstanden - was bedeutet, dass H. seine eingetragenen Waffen ordnungsgemäß gelagert hatte. Auch H.s ehemalige Lebensgefährtin berichtete, dass H. penibel auf seine Waffen geachtet hätte. Schließlich hatte er lange für die Erteilung der Waffenbesitzkarte gestritten - auch juristisch. Ausgerechnet vor der angeblich gemeinsam geplanten Ermordung Lübckes nun soll derselbe H. eine auf ihn eingetragene Waffe rund vier Wochen bei Ernst gelagert und so den Verlust seiner Waffenbesitzkarte riskiert haben.

    "Das kommt uns sehr zielgerichtet vor"

    Für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Ernsts aktueller Schilderung des Tatabends ist dieses Detail durchaus relevant. Seine Ehefrau hatte berichtet, am Tatabend gehört zu haben, wie zwei Autos vor dem gemeinsamen Wohnhaus gehalten hätten. Gemeinsam mit der Erklärung von Ernst würde dies auf eine Tatbeteiligung von Markus H. hindeuten.

    Das Gericht indes hat seine Zweifel. Die Aussage von Ernsts Ehefrau wurde nämlich erst am 18. Dezember 2019 zu den Akten genommen. Vorher finden sich in Ernsts Einlassungen keine Hinweise auf die Übergabe der Waffe oder auch nur darauf, dass er und H. mit zwei Autos unterwegs gewesen seien. Erst bei der anschließenden Vernehmung im Januar 2020 berichtete Ernst davon. "Das kommt uns sehr zielgerichtet vor", erklärt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel.

    Auch die Bundesanwaltschaft kann Ernsts Schilderung nicht folgen. Wenn der Anschlag auf Lübcke von Ernst und H. so genau geplant gewesen sei, warum habe man die Waffe nicht bereits vorher wieder zurück zu H. gebracht? Ernsts Erklärung verblüfft: "Es war nicht abzusehen, wie der Abend ausgehen wird", sagt er. Bei der Befragung durch das Gericht im August 2020 hatte er erklärt, dass der Schuss auf Lübcke zwischen ihm und H. verabredet gewesen sei. Ernst rudert zurück. Er könne nur sagen, dass man die Waffe schlicht vergessen habe.

    Kein komplettes Bild

    Auch weitere Widersprüche kann Ernst nur unzulänglich aufklären. Unklar ist, wann er nach seinem so genannten Ausstieg aus der rechtsextremen Szene wieder Kontakt zu Markus H. hatte. Anmerkungen in den Protokollen seiner ehemaligen Psychotherapeutin deuten daraufhin, dass dies bereits 2011 war - keine zwei Jahre nachdem er sich von der rechtsextremen Szene abgewendet haben will. Im selben Jahr besuchte er eine vom führenden Neonazi-Aktivisten Thorsten Heise organisierte Sonnenwendfeier - auf Einladung von Mike Sawalich, einem weiteren "ehemaligen" Kameraden. Ernsts Aussagen bleiben in fast allen Belangen ein Puzzle, bei dem wichtige Teile fehlen - und das daher kein komplettes Bild liefern kann.

    Der Prozess wird am kommenden Dienstag, 15. Dezember fortgesetzt.

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    Tag 36: Der Fremde mit dem Guy-Fawkes-Grinsen

    Zeichnung von Lübckes Sohn Portrait im Gerichtssaal

    Vor genau einer Woche, am 34. Verhandlungstag im Lübcke-Prozess, warf die Nebenklage dem Richter Thomas Sagebiel Befangenheit vor. Unter anderem monierten die Anwälte der Familie des erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Vorsitzende des 5. Strafsenats begegne dem Mitangeklagten Markus H. "mit auffallender Freundlichkeit und Geduld". An diesem Dienstag fliegen die Pfeile gegen den altgedienten Richter am Oberlandesgericht Frankfurt aus der anderen Richtung.

    H.s Verteidigung stellt gleich mehrere Befangenheitsanträge. Sagebiel begegne ihr "mit verbaler Respektlosigkeit", indem er auf einen ihrer Einwände bei einer früheren Zeugenvernehmung geantwortet habe: "Wollen Sie das Verfahren torpedieren?" Damit stelle er ihre Glaubwürdigkeit, ihre Verpflichtung zur Wahrheit öffentlich in Frage, dies sei ehrenrührig, erfülle womöglich den Straftatbestand der Beleidigung.

    Außerdem habe Sagebiel einen weiteren Verhandlungstag für den 19. Januar anberaumt, dabei habe er doch für diesen Tag hinterlegt, bei einem Prozess in Wuppertal zugegen sein zu müssen, moniert Strafverteidiger Björn Clemens. Das diene ja wohl dazu, dass er einen der beiden Verteidiger H.s abziehen wolle - und das in der womöglich finalen Phase des Prozesses. Als er das hört, schüttelt Sagebiel den Kopf, lächelt ungläubig, sagt: "Sie stellen hier Ihre Anträge. Das ist, was Sie tun. Bitte." Zur Terminfrage sagt er: "Vorerst ist keine Verlegung des Prozesstages am 19. Januar geplant", aber wer wisse schon, wie sich der Prozess entwickle, und der Senat lasse mit sich reden.

    Gutachter: H.s Maschinenpistole war illegal

    Nach diesen strafprozessualen Finten, die immer mögliche Revisionsgründe andeuten, um ein Urteil womöglich anzufechten, tritt ein Waffensachverständiger vom Landeskriminalamt in den Zeugenstand - zum dritten Mal bereits.

    Stephan Welkerling bekam vorige Woche den Auftrag, eine Maschinenpistole Madsen M50 rückzuverändern. Diese Maschinenpistole fanden die Ermittler bei Markus H. - Verstoß gegen das Waffengesetz ist derzeit der Anklagepunkt, für den er belangt werden könnte, nachdem der Strafsenat für eine Beteiligung am Lübcke-Mord keine hinreichenden Belege sieht. Die M50, wie H. sie besaß, war so verbaut, dass man mit ihr nicht schießen konnte. Doch war sie im Sinne des Gesetzes "dauerhaft funktionsunfähig gemacht worden"? Das würde voraussetzen, dass sie nur "mit nicht allgemein gebräuchlichen Mitteln rückbaubar" wäre.

    Welkerling nahm also das allergebräuchlichste Werkzeug und machte sich an einer Werkbank im LKA ans Bohren, Feilen, Sägen. In weniger als zwei Stunden hatte er die Bolzen aus der Dekowaffe so weit entfernt, dass er damit wieder einzelne Schüsse abgeben konnte. Welkerlings Fazit: Hier liegt ein Verstoß gegen das Waffengesetz vor, eben weil das Griffstück nicht konsequent unbrauchbar gemacht wurde.

    Der Experte bestätigt mit dem Experiment damit seine bei seinen früheren Auftritten im OLG getroffene Einschätzung. Ein anderslautendes Gutachten, das H.S Verteidigung in Auftrag gab, lässt er nicht gelten: "Der Kollege hat die Waffe doch gar nicht gesehen." Bei Schusswaffen entscheide stets die Einzelfallprüfung.

    Lübcke-Sohn berichtet von auffälliger Begegnung

    Um Markus H. und seine von Bundesanwaltschaft und Nebenklage vermutete Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke geht es bei der anschließenden Zeugenaussage. Christoph Lübcke, einer der beiden Söhne des Getöteten, schildert mit erstickter Stimme, wie er und die anderen Familienmitglieder in der Nacht vom 1. auf 2. Juni 2019 in der Notaufnahme im Krankenhaus hofften, sein Vater möge wieder auf die Beine kommen. Sie gingen zu dem Zeitpunkt noch von einem Herzinfarkt aus, wunderten sich allerdings über die Blutlache auf der Terrasse, wo sie den Großvater von Christoph Lübckes kleinem Sohn gefunden hatten. Unter Tränen erzählt der 36-Jährige, wie er seinem Jungen nun immer öfter erklären muss, warum der Opa im Himmel ist.

    Dann berichtet er von einem Samstagnachmittag rund um oder kurz nach Ostern 2018: Sein Vater und er hätten sich vor seinem, Christophs Lübckes, Haus unterhalten, als zwei Männer an ihnen vorübergegangen seien. Als Fremde seien sie gleich aufgefallen. Besonders auffällig sei"der kleinere, beleibtere von ihnen gewesen. "Wir fühlten uns angestarrt von ihm", sagt Lübcke, deshalb habe er etwa länger hingesehen. Der Unbekannte habe "markant, nicht freundlich gegrinst". Zusammen mit seinem Bart habe er das sogleich mit einer Guy-Fawkes-Maske assoziiert, bekannt von den Occupy-Protesten gegen den Finanzkapitalismus und benannt nach einem rebellischen englischen Offizier, der 1606 hingerichtet wurde. Der andere Fremde sei größer und schlanker gewesen. Auch seinem Vater seien die "skurrilen Typen", wie er gesagt habe, aufgefallen.

    Nun trägt Markus H. einen Bart rund um Kinn und Mund und mit einem schmalen Streifen unterhalb der Unterlippe - wie Guy Fawkes. Sein Grinsen fiel auch im Gerichtssaal des OLG schon unangenehm auf. Untersetzt ist er auch, während Stephan Ernst eher lang ist. Kundschafteten die beiden im April 2018 Lübckes Wohnort Wolfhagen-Istha aus, so wie es der Hauptangeklagte ausgesagt hat?

    Als Ernst diese Szene in seiner zweiten Vernehmung erwähnte, deren Videoaufzeichnung an einem der ersten Verhandlungstage zu sehen war, habe er dem Familienanwalt Holger Matt gleich erzählt, dass er die Szene vermutlich aus der anderen Perspektive erlebt habe, sagt Lübcke. Warum sie es dann erst jetzt ins Verfahren einbrächten, nachdem Ernst es vergangene Woche noch einmal erwähnte, will H.s Verteidiger Clemens wissen. "Wir hätten es sicher noch eingebracht", sagt Christoph Lübcke und schaut ratsuchend zu Matt.

    Ob er Markus H. damals wiedererkannte, als er sich an die Szene angesichts des Videos mit Ernsts Aussage erinnerte, danach fragt ein halbes Jahr nach Prozessbeginn niemand.

    Der Prozess wird am Donnerstag, 10. Dezember, mit einer Vernehmung des Hauptangeklagten Stephan Ernst fortgesetzt.

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    Tag 35: Fragen, Antworten, noch mehr Fragen

    Zeichnung von Frau Lübcke und ihrem Sohn im Gerichtssaal.

    Wenn man Stephan Ernst etwas nicht zum Vorwurf machen kann, dann dass er sich in dem bald sechs Monate andauernden Verfahren um den Mord an Walter Lübcke geweigert hätte, auf Fragen zu antworten. Seit er am achten Prozesstag den tödlichen Schuss auf den Kasseler Regierungspräsidenten (wohl endgültig) gestanden hat, war Ernst immer bereit, zumindest auf die Fragen des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und den Vertretern der Familie Lübcke einzugehen. Oft zögernd, oft erst nach Rücksprache mit seinen Anwälten, oft nicht wirklich überzeugend. Ernsts Antworten generieren nicht selten neue Fragen - einer der Gründe, warum sich der Prozess so lange hinzieht.

    Für diesen 35. Prozesstag hatte Ernst nun über seine Anwälte ankündigen lassen, weitere Fragen persönlich beantworten zu wollen. Jene Fragen, welche die Witwe des Ermordeten, Irmgard Braun-Lübcke am 16. November nach ihrer Zeugenaussage direkt an ihn gestellt hatte. Seine Verteidigung hatte immer wieder betont, dass dem Hauptangeklagten ein Anliegen sei, die Familie des von ihm getöteten CDU-Politikers zumindest in dieser Hinsicht zu entlasten. Dass ihm dies an diesem Prozesstag gelungen ist, darf bezweifelt werden.

    Gefühle aber keine Blöße

    Die Fragen, die Irmgard Braun-Lübcke vor fünf Prozesstagen formuliert hatte, betrafen die letzten Momente im Leben ihres Ehemannes. Gab es zwischen ihm, Ernst und dem Mitangeklagten Markus H. - von dem Ernst weiterhin behauptet, er sei direkt an der Tat beteiligt gewesen - noch so etwas wie ein Gespräch? Hat Ernst Lübcke noch einmal berührt? Wie? Warum hat sich ihr Mann nicht gewehrt? Was war das Letzte, das Walter Lübcke sah, bevor er starb? Fragen, die nur Hinterbliebene stellen und nur Täter beantworten können.

    Für Stephan Ernst sind die Fragen indes eine Vorlage, um noch einmal seine Tatversion zu bekräftigen. Seine Antworten hat er vorbereitet und liest sie ab. Regelmäßig werden sie von Schniefen unterbrochen. Neue Details verraten sie nicht. Sie beginnen bei "als ich auf die Terrasse kam und die Waffe auf ihn richtete, sah Herr Lübcke mich an" und enden mit dem angeblichen Ausruf des Mitangeklagten H.: "Los, abhauen!". Dazwischen bleibt alles wie gehabt: Ernst und H. näherten sich der Terrasse aus unterschiedlichen Richtungen. Ernst bedroht Lübcke mit der Waffe und drückt ihn, als er sich aufrichten will, zurück in den Stuhl. H. lässt einige sarkastische Bemerkungen fallen. Lübcke schreit beide Männer an. Ernst schießt.

    Ernst betont, dass Lübcke keine Chance hatte, sich zur Wehr zu setzen. "Herr Lübcke war in sitzender Position. Aus dieser Position heraus hat er sich nicht wehren können." Auch das ist keine neue Erkenntnis. Aber immerhin spricht Ernst dies zum ersten Mal in diesem Prozess in dieser Deutlichkeit aus. Wieder Schniefen. Ernst zeigt Gefühle, aber er gibt sich keine Blöße. Seine Einlassung ist konsistent mit allem, was er zuvor berichtet hat. Zumindest solange keine Nachfragen kommen - auch das kennt man schon.

    Ernst produziert neue Widersprüche

    "Ist es wahr, dass mein Mann in den letzten Momenten seines Lebens in das Gesicht von H. gesehen hat?"
    "Ja", antwortet Ernst.
    "Wirklich?"
    "Ja"

    Ob Irmgard Braun-Lübcke den Beteuerungen des Hauptangeklagten glaubt, lässt sich schwer beurteilen. Sie hakt nur einmal nach. Diesen Gefallen wird das Gericht Ernst nicht tun. Ernsts Verteidiger Kaplan hatte noch angeregt, die Fragen zunächst zu sammeln, damit Ernst sie nicht einzeln beantworten muss. Ernst frei sprechen zu lassen, bleibt für die Verteidigung ein Risiko. Doch darauf nimmt der Senat keine Rücksicht: "Wenn er hier schonungslose Ehrlichkeit angekündigt, gibt es keine Notwendigkeit, die Fragen erst zu sammeln und sich dann zu beraten", beharrt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel.

    So kommt es, wie es in diesem Prozess schon öfter gekommen ist. Auf dezidierte Nachfragen der Nebenklage und des Gerichts produziert Ernst Widersprüche, die vorher nicht vorhanden waren. Eine Waffe, von der er behauptet hatte, dass sie zwar auf H. registriert aber durchgängig in seinem Besitz gewesen sei, will er nun nur zeitweise verwahrt haben. Bei einem Treffen mit H. im April 2019, bei dem der Mord an Lübcke beschlossen worden sein soll, will er an einer Tankstelle Bier für beide gekauft haben - nun aber an einer anderen Tankstelle, als er ursprünglich behauptete. Und mit der EC-Karte - wie er zunächst behauptet hatte - will er nun doch nicht mit Sicherheit bezahlt haben.

    "Wir haben noch sehr viele Fragen an Herrn Ernst", erklärt schließlich Thomas Sagebiel nach Ende der "Fragestunde". Ernst präsentiere immer wieder "situativ angepasste neue Erinnerungsfetzen". Und diese will der Senat offenkundig weiter nach ihrem Wahrheitsgehalt abklopfen. Sagebiel kündigt an, dass sich der Prozess bis in den Januar ziehen wird. Welche neuen Erkenntnisse über die Glaubwürdigkeit eines Hauptangeklagten, der "situativ angepasst" antwortet, dann noch zu erwarten sind, weiß allerdings wohl nur der Senat selbst.

    Handakte mit geringem Beweiswert

    Neue Erkenntnisse über die Genese der sich widersprechenden Tatversionen, die der Angeklagte zunächst den Ermittlern im Mordfall Lübcke und dann dem 5. Strafsenat präsentiert hat, lassen sich an diesem Donnerstag auch nicht aus der beschlagnahmten Akte seines Ex-Verteidigers Frank Hannig gewinnen. Der Senat hatte nach anfänglichem Zögern die Handakte gesichtet und jene Teile beschlagnahmt, die von der partiellen Schweigepflichtsentbindung, die Ernst seinem ehemaligen Anwalt erteilt hat, gedeckt sind. Verlesen wurden Gesprächsnotizen zwischen Ernst und Hannig. Verteidigung, Nebenklage und Bundesanwaltschaft wollten damit überprüfen, ob Ernst von Anfang an gegenüber Hannig den Mitangeklagten H. belastet hat.

    Tatsächlich finden sich in den Notizen Versionen, in denen H. als Mittäter vorkommt und solche, in denen Ernst allein handelt. Letztere nur am Anfang. Eine Notiz, in der Hannig festgehalten haben will, dass Ernst den tödlichen Schuss Markus H. anlastete, trägt die handschriftliche Anmerkung: "Der verarscht uns". Aus den nur teilweise datierten Dokumenten scheint hervorzugehen, dass Ernst selbst jene Version erfand, in der Markus H. Lübcke "versehentlich" erschoss. Ernst behauptet hingegen, diese Tatschilderung sei ihm von Hannig souffliert worden, um Markus H. zu einer Aussage zu provozieren.

    "Eine Handakte kann man frisieren", bringt Richter Sagebiel sein Misstrauen gegenüber der Authentizität der beschlagnahmten Aktenteile zum Ausdruck. Schließlich wird gegen Hannig inzwischen selbst ermittelt - Anstiftung zur falschen Verdächtigung lautet der Vorwurf. "Insofern hat die Handakte einen sehr geringen Beweiswert", hält Sagebiel fest.

    Kälte und Abgeklärtheit

    Zumal nach wie vor wenig auf eine direkte Tatbeteiligung von Markus H. hindeutet. Eines der immer wieder vorgebrachten Indizien ist eine Äußerung, die er gegenüber Marc Wenske, Richter am Bundesgerichtshof machte, als dieser im Juni 2019 über den Haftbefehl gegen H. zu entscheiden hatte. "Die Kälte und Abgeklärtheit", mit der der Beschuldigte auf den Tatvorwurf reagiert habe, habe ihn nachhaltig beschäftigt, erinnert sich Wenske. Der Tatvorwurf lautete auf "Beihilfe zum Mord". "Nur Beihilfe zum Mord?", soll H. erwidert haben, "was ist mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung?"

    Die Reaktion des Mitangeklagten hielt Wenske seinerzeit in einem Vermerk fest. Für Anklage und Nebenkläger deutet die Verwunderung von Markus H. darauf hin, dass dieser sich seiner Mittäterschaft bewusst war. Und dass es möglicherweise weitere Mitwisser gab. Allerdings verweist die Verteidigung von Markus H. darauf, dass dem Mitangeklagten zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass auch gegen den Waffenhändler Elmar J., ermittelt wird - die Frage nach der terroristischen Vereinigung, sei daher alles andere als abwegig.

    Der Prozess wird am Dienstag, 8. Dezember, fortgesetzt.

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    Tag 34: Handakten und Handarbeit

    Der Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, im Profil. Er fasst sich mit einer Hand ans Kinn und blickt nachdenklich nach links.

    Es ist dem vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel anzumerken, dass etwas in ihm brütet, als er den Gerichtssaal 165 C an diesem Dienstag betritt. Es ist der 1. Dezember - vor etwas mehr als einem Monat hatte der 5. Strafsenat für diesen Tag das Urteil im Prozess um den Mord an Walter Lübcke angekündigt. Dass dieses Datum nicht zu halten sein wird, stand schon länger fest. Doch es ist nicht der obsolet gewordene Zeitplan, der Thomas Sagebiel übel aufstößt, sondern ein Artikel in der Online-Ausgabe des Spiegels vom vergangenen Wochenende.

    Darin übten der Rechtsanwalt der Familie Lübcke, Holger Matt, und ihr Pressesprecher Dirk Metz, scharfe Kritik am Senat. Anlass war die Ablehnung mehrerer Anträge, in denen die Nebenklagevertretung gefordert hatte, die Handakte des Dresdner Rechtsanwalts Frank Hannig - dem ehemaligen Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan Ernst - zu beschlagnahmen.

    Die Nebenklage erhofft sich aus den Akten neue Hinweise auf eine direkte Tatbeteiligung des Mitangeklagten Markus H. - auf die abgesehen von der Aussage von Stephan Ernst wenig hindeutet. "Die Familie Lübcke hat schon seit mehreren Wochen den zunehmenden Eindruck gewonnen, dass weitere Aufklärung zur Tatbeteiligung von H. nicht gewünscht ist, weil dies den Senat in die Gefahr bringen könnte, die eigene Entscheidung zur Haftstrafe von H. von Anfang Oktober revidieren zu müssen", lassen sich Matt und Metz im Spiegel zitieren.

    Weiterhin ist von einer "auffallenden Freundlichkeit und Geduld" gegenüber H., die Rede, die "Zweifel an der Unvoreingenommenheit" des Senats hätten aufkommen lassen.

    "Ungeheuerlicher Vorgang"

    "Freundlichkeit ist uns bisher von niemandem zum Vorwurf gemacht worden", erklärt Sagebiel nicht ohne eine gewisse Selbstironie. Tatsächlich zeichnet den Senatsvorsitzenden eher ein zuweilen gereizter Umgang mit Anwälten und Zeugen aus. Gegenüber den Angeklagten übte er indes immer eine höfliche Zurückhaltung - wohlgemerkt sowohl gegenüber Ernst als auch gegenüber H.

    "Wir halten das für einen ungeheuerlichen Vorgang", sagt Sagebiel. Die Nebenklage versuche den Senat "über die Presse unter Druck zu setzen". Der Senat allerdings, erklärt Sagebiel in einem seltenen Anflug von Pathos, fühle sich dem an der Mauer des Oberlandesgerichts prangenden Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes verpflichtet. Daraus ergebe sich auch der Grundsatz "in dubio pro reo". Und die Zweifel an der Mittäterschaft Markus H.s hätten zu dessen Haftentlassung geführt. "Wir werden uns ergebnisorientierten Forderungen nicht beugen", betont Sagebiel.

    Sichtung und Beschlagnahme

    Holger Matt zeigt sich von der "Standpauke" zu Beginn des Prozesstages indes unbeeindruckt. Ziel der Nebenklage sei die "vollständige Aufklärung" des Mordes an Walter Lübcke. Dass Markus H. daran beteiligt war, steht für Matt schon seit Längerem außer Frage.

    "Das letzte Bild, das Walter Lübcke in den letzten Sekunden seines Lebens sah, war der Blick in das Gesicht des Angeklagten H.", ist sich Matt nach wie vor sicher. Aus der Handakte des ehemaligen Ernst-Verteidigers Hannig soll nun belegt werden, dass Ernst gegenüber seinem ehemaligen Verteidiger von Beginn an, den Mitangeklagten belastet habe.

    Das Problem: Die Akte ist durch die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht geschützt - und von der hat Ernst seinen ehemaligen Verteidiger nur teilweise entbunden. Das Gericht hatte bei der Ablehnung der ursprünglichen Anträge zur Beschlagnahmung argumentiert, dass die Akte mit Sicherheit Anteile enthalte, die nicht von der partiellen Schweigepflichtsentbindung umfasst seien - und daher nicht beschlagnahmt werden dürfen.

    Matt hält diese Begründung für "unvertretbar" und sieht in der Weigerung des Gerichts einen sicheren Revisionsgrund. Dennoch baut er dem Senat mit seiner "Gegenvorstellung" eine Brücke. In einer Reihe von Anträgen schlägt der Nebenklagevertreter vor, die umstrittene Handakte nach beweiserheblichen Inhalten, die von der Entpflichtung abgedeckt sind, sichten zu lasten - und nur diese Teile zu beschlagnahmen. Ein Vorgehen, dem auch die Bundesanwaltschaft zustimmt.

    Der Senat will zumindest nicht ausschließen, dass ein solches Vorgehen möglich ist. Eventuell, schlägt Sagebiel vor, könnte Ernsts aktueller Verteidiger, Mustafa Kaplan, bei der Sichtung zugegen sein, um sicherzustellen, dass nur zulässige Teile der Handakte beschlagnahmt werden. Das Gericht wird über diese Vorgehen noch zu beraten haben. Sollte es der "Gegenvorstellung" zustimmen, würde sich der Prozess mit Sicherheit weiter hinziehen. Sicherheitshalber setzt der Senat daher Verhandlungstermine bis Ende Januar 2021 an.

    Mögliche Wende im Fall Ahmed I.

    Auch in einem anderen Tatkomplex könnte sich das Gericht in Kürze dem Vorwurf der "Befangenheit" ausgesetzt sehen: dem Messerangriff auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I., den die Anklage ebenfalls Stephan Ernst zu Last legt. Für eine Täterschaft Ernsts sprachen bislang mehrere Indizien, unter anderem eine minimale DNA-Spur an einem Messer, das in seinem Haus aufgefunden wurde. Den dort festgestellten DNA-Reste, hatte der Gutachter Harald Schneider am 21. Prozesstag erklärt, hafteten zwei recht seltene genetische Merkmale an, die auf Ahmed I. hindeuteten.

    Ein wissenschaftlicher Beleg sei das nicht, betont er auch an diesem Dienstag, als er zum zweiten Mal in den Zeugenstand tritt. "Wir haben nur gesagt, es ist nicht auszuschließen." Inzwischen entlastet ein weiteres Indiz Stephan Ernst. Auf einem seiner USB-Sticks wurde die gescannte Quittung über den Kauf eines Messers vom selben Typ wie die mutmaßliche Tatwaffe gefunden - datiert auf den 30. Januar 2016, 24 Tage nach dem Angriff auf Ahmed I. Die damalige Verkäuferin war an diesem Prozesstag ebenfalls als Zeugin geladen - und bestätigte die Echtheit der von ihr unterschriebenen Quittung.

    Gutachter muss basteln

    "Im Moment sieht der Senat diesen Anklagepunkt kritisch", erklärt Richter Sagebiel. Der Senat regt an weitere Zeugen in diesem Sachverhalt, die auf Wunsch der Verteidigung Ernst geladen werden sollen, nur noch "hilfsweise" zu laden. Sollte der Senat zum Ergebnis kommen, dass Ernst im Fall Ahmed I. nicht zu verurteilen ist, müssten diese nicht mehr gehört werden.

    Ein klarer Hinweis darauf, wohin die Reise gehen könnte. Für den Anwalt von Ahmed I., Alexander Hoffmann, indes ein Grund mit seinem Mandanten über einen "Befangenheitsantrag" zu sprechen.

    Auch beim Mitangeklagten Markus H. steht ein Anklagepunkt auf der Kippe. Auch hier muss ein Gutachter zum zweiten Mal in den Zeugenstand. Der Sachverständige für Schusswaffen und Schusswaffenspuren hatte bereits vor einigen Prozesstagen erklärt, dass seiner Meinung nach, ein bei Markus H. gefundenes Maschinengewehr, zwar nicht mehr schussfähig sei, aber dennoch gegen das Waffengesetz verstoße.

    Denn die Waffe, so seine Argumentation, lasse sich mit handelsüblichen Werkzeugen wieder insoweit einsatzfähig machen, dass sie zumindest einzelne Schüsse abgeben und automatisch nachgeladen werden könne.

    Dem allerdings widerspricht ein Gegengutachten, das von der Verteidigung von Markus H. in Auftrag gegeben wurde. Für Markus H. geht es um die Frage, ob ihm eine Verurteilung droht oder nicht. Der Gutachter des LKA wird vom Gericht beauftragt, die aus seiner Sicht notwendigen Änderungen an der Waffe vorzunehmen und Schritt für Schritt zu dokumentieren.

    Die Verteidiger von Markus H. sind damit grundsätzlich einverstanden, wollen allerdings am liebsten während der Arbeiten vor Ort sein. Rechtsanwalt Björn Clemens versteigt sich sogar zu der Forderung, im Zweifel eine Werkbank im Gerichtssaal aufzubauen. Oberstaatsanwalt Killmer quittiert dies mit der Frage, ob künftig dann auch Leichen im Gerichtssaal obduziert werden sollen.

    Der Prozess wird am Donnerstag, 3. Dezember fortgesetzt.

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    Tag 33: Das Problem mit der Verschwiegenheit

    Blick in den Saal 165 C des Oberlandesgericht Frankfurt.

    Eigentlich macht der Zeuge Daniel Zabel nicht den Eindruck, als lasse er sich schnell verunsichern. Der Kurzhaarschnitt hält, der Anzug sitzt. Alles an Zabels Auftritt signalisiert Respekt gegenüber der Obrigkeit, der er an diesem Donnerstag gegenübertritt - in diesem Fall dem 5. Strafsenat des Frankfurter Oberlandesgerichts. Diesem Respekt mag es geschuldet sein, dass er den Vorsitzenden Richter immer wieder mit "Euer Ehren" anspricht. Man kennt das aus amerikanischen Fernsehserien. In Deutschland tut es in der Regel ein einfaches "Herr Vorsitzender".

    Und doch ist sich Zabel unsicher, was genau und wie viel er an diesem 33. Verhandlungstag im Lübcke-Prozess preisgeben darf. Der 41-Jährige ist als Zeuge geladen, weil er als eine Art Hilfskraft für Frank Hannig, den ehemaligen Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan Ernst, tätig war. Diesem wirft Ernst vor, ihn dazu überredet zu haben, den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke dem Mitangeklagten Markus H. in die Schuhe zu schieben. Hannig ist das Mandat inzwischen los.

    Zur Verschwiegenheit ist er allerdings noch verpflichtet - das gilt auch für seinen Mitarbeiter Daniel Zabel. Die aktuelle Verteidigung von Stephan Ernst hat Hannig zwar in engen Grenzen von der Verschwiegenheitspflicht entbunden. Doch wo genau diese Grenze verläuft, darüber scheint sich Zabel unsicher zu sein. "Ich möchte darum bitten, dass Herr Ernst mich komplett von meiner Schweigepflicht entbindet", leitet er seine Aussage ein.

    Gespräche bei der Rückfahrt

    So genau hat es Zabel in seiner beruflichen Laufbahn nicht immer genommen. Im Oktober 2019 wurde er wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen vom Amtsgericht Dresden zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten auf Bewährung verurteilt. Ende August 2018 hatte Zabel, damals noch Bediensteter in einer Justizvollzugsanstalt in Dresden, einen Haftbefehl mit den Namen zweier Tatverdächtiger im Fall Daniel H. veröffentlicht. Der Tod des 35-Jährigen durch die Hand eines Asylbewerber hatte zu tagelangen, teils gewalttätigen Protesten in Chemnitz geführt.

    Offiziell ist Zabel noch Justizvollzugsbeamter, wenn auch suspendiert. Auf die Frage, was er gerade mache, entgegnet er: "Mein Leben sortieren." Nebenbei hat er es zum Beisitzer im Vorstand der sächsischen AfD gebracht. Und zu einer Art Recherchehelfer oder Privatermittler im Auftrag des Dresdner Rechtsanwalts Frank Hannig - der auch ihn schon vor Gericht vertreten hat.

    Den Gefallen, ihn vollumfänglich von der Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, tut die Verteidigung von Ernst dem Zeugen Zabel nicht. Und so fallen seine Schilderungen knapp und wenig lebendig aus. Mehrfach habe er Frank Hannig zu den Mandantengesprächen in der JVA Kassel gefahren. Bei der Rückfahrt habe der Anwalt dann über die Gespräche mit Ernst berichtet. "Ich weiß nur, dass im Laufe der Gespräche der Name H. immer mehr in den Fokus geraten ist", sagt Zabel. "Ab einem gewissen Zeitpunkt", etwa ab dem dritten oder vierten Mandantengespräch habe Ernst Vertrauen gefasst und erklärt, dass H. auch am Tatort gewesen sei. Schließlich habe Ernst erklärt, dass H. den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke "versehentlich" abgegeben habe - eine Version, an der Ernst bis zur Trennung von Hannig festhielt. Ob Hannig, wie Ernst es behauptet, diese Tatversion entwickelt habe, entziehe sich seiner Kenntnis.

    Handakte wird nicht beschlagnahmt

    Ein größerer Erkenntnisgewinn lässt sich aus der Vernehmung von Daniel Zabel wohl für keinen Prozessbeteiligten ziehen. Zabel ist ein Zeuge, der wiedergeben soll, was ihm ein anderer über ein Gespräch mit einem Dritten erzählt hat. Wobei bei mindestens zwei Gliedern dieser Gesprächskette erhebliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit bestehen. Für Björn Clemens, Verteidiger von Markus H., belegt sie immerhin, "dass Herr Ernst sein Aussageverhalten anpasst."

    Mehr Auskunft über den Inhalt der Gespräche zwischen Ernst und Hannig hätte womöglich die Handakte des Dresdner Rechtsanwalts geben können. Die Anwälte der Familie Lübcke sowie Ernsts Verteidiger beantragten deren Beschlagnahme bereits vor mehreren Prozesstagen. Dem allerdings erteilt der 5. Strafsenat an diesem Donnerstag eine Absage. Eine Beschlagnahme sei unzulässig, weil die Akte mit großer Wahrscheinlichkeit auch Bestandteile enthalte, die nicht von der Verschwiegensheitsentbindung abgedeckt sind.

    Quittung könnte Ernst entlasten

    Im Tatkomplex um den Messerangriff auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I. könnte indes ein Indiz Stephan Ernst entlasten. Auf dem Computer des Hauptangeklagten war der Scan einer Quittung über den Kauf eines Messers gefunden worden. Die ehemaligen Inhaber eines Fachgeschäfts für Schneidwaren bestätigten an diesem Donnerstag, dass diese Quittung aus ihrem Geschäft stamme und vermutlich von der damaligen Freundin eines ihrer Söhne, die im Laden aushalf, ausgefertigt worden sei. Der Durchschlag vom Original ist sogar noch erhalten.

    Festgehalten ist, dass ein Messer vom Typ MP9 über die Ladentheke ging. Eben so ein Messer wurde bei Stephan Ernst sichergestellt. Daran befanden sich Überreste von DNA-Spuren, die nach Ansicht eines Gutachters mit großer Wahrscheinlichkeit Ahmed I. zuzuordnen sind. Die Quittung allerdings ist auf den 30. Januar 2016 datiert - 24 Tage nach der Attacke. Damit wachsen die Zweifel an Stephan Ernsts Täterschaft in diesem Fall - auch wenn die Quittung nur den Kauf eines - nicht dieses bestimmten - Messers belege, wie Oberstaatsanwalt Dieter Killmer betont.

    Der Prozess wird am kommenden Dienstag, 1. Dezember, fortgesetzt.

  • Top-Thema

    Tag 32: Nötig unnötige Beweise

    Links läuft ein Mann eine Straße entlang. Im Hintergrund sind Pappaufsteller zu sehen. Von hinten nähert sich ein Fahrradfaher, der auf dem Kopf eine Schirmmütze trägt. In der rechten Hand, die seitlich am Körper herabbaumelt, ist ein gezücktes Messer zu erkennen.

    Eines müssen selbst Kritiker seiner Prozessführung Thomas Sagebiel lassen. Der Vorsitzende der 5. Strafsenats am Oberlandesgericht Frankfurt versteht es immer wieder, die Schwächen und Widrigkeiten des von ihm geführten Lübcke-Prozesses mit treffsicherer Polemik zusammenzufassen. "Ihre Einlassung, dass unnötige Beweisanträge unzulässig sind, belustigt mich etwas", lässt er ganz am Ende des Prozesstages den Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, wissen. "Denn dass das Gegenteil der Fall ist, beweisen wir hier jeden Tag."

    Einmal mehr könnte ein Bonmot Sagebiels als Überschrift über dem ganzen Prozesstag stehen. Björn Clemens hat damit allerdings wenig zu tun, denn um den Mitangeklagten Markus H. geht es an diesem Dienstag überhaupt nicht. Es geht auch nicht um den Mord an Walter Lübcke, sondern um die Messerattacke auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I. vom Januar 2016. Diese wird ebenfalls dem Hauptangeklagten Stephan Ernst zur Last gelegt. Doch auch um Stephan Ernst geht es bestenfalls am Rande. Eigentlich geht es um Ahmed I. - genauer gesagt um seine Glaubwürdigkeit.

    Die Glaubwürdigkeit des Nebenklägers

    Dass an dieser aus ihrer Sicht erhebliche Zweifel bestehen, gab die Verteidigung von Ernst bereits in den vergangenen Wochen immer wieder zu erkennen. Als Indiz dafür mussten Widersprüche zwischen der Einlassung Ahmed I.s in der laufenden Hauptverhandlung und den vier Jahre alten Aufzeichnungen seiner Aussagen gegenüber der Polizei, unklare Angaben über mögliche Verwandte in Deutschland sowie Aussagen Dritter über ihn herhalten.

    Die Verteidigung von Stephan Ernst hat darauf bestanden, dass mehrere damals mit dem Fall betraute Polizeibeamte sowie eine Dolmetscherin als Zeuginnen und Zeugen geladen werden. Im Prinzip sollen sie berichten, was längst durch die Verlesung der Protokolle von damals und die Befragung von Ahmed I. belegt ist: dass es teils erhebliche Diskrepanzen zwischen seinen Angaben zum Täter, zu seinen Personalien sowie zu einem weiteren Vorfall in seinen Aussagen bei der Polizei und vor Gericht gibt.

    Ahmed I. begründete dies unter anderem mit Missverständnissen und Übersetzungsschwierigkeiten. Die Verteidigung von Ernst hingegen scheint überzeugt, dass Ahmed I. es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehme, wenn es seinen Interessen diene. Und sie setzt viel daran, diese These zu untermauern.

    Angeblich keine Übersetzungsprobleme

    Der Polizist Ralf P. scheint für dieses Anliegen zunächst der passende Zeuge. Dreimal vernahm er Ahmed I. nach der Messerattacke mit Hilfe einer Dolmetscherin - das erste Mal nur wenige Stunden nachdem dieser operiert worden war. Herauskamen "Ergebnisprotokolle", wie Ralf P. erklärt, die zwar nicht den genauen Wortlaut wiedergäben, aber doch richtig zusammenfassten, was Ahmed I. seinerzeit gesagt habe. Die Aussagen Ahmed I.s seien zunächst von einer Dolmetscherin übersetzt, dann von Ralf P. zusammengefasst und dann wieder ins Arabische übersetzt worden. Anzeichen für Verständigungsschwierigkeiten zwischen Dolmetscherin und Ahmed I. habe es nicht gegeben, sagt Ralf P.: "Sonst hätte ich abgebrochen." Die Vernehmungsfähigkeit habe ein Arzt bestätigt.

    Ralf P. war auch mit den Ermittlungen betraut, als die Caritas im September 2016 der Polizei einen Vorfall an der neuen Unterkunft von Ahmed I. meldete. Zeugen hätten beobachtet, dass drei Personen die Namensschilder an dem Gebäude abgesucht hätten - so berichtete es zumindest Ahmed I. Als P. die vermeintlichen Zeugen befragte, sagten diese, nichts dergleichen beobachtet zu haben - und dass Ahmed I. ein Lügner sei.

    P. legte den Vorfall seinerzeit zu den Akten. "Es ist zu vermuten, dass Ahmed I. versucht, seinen Umzug nach Frankfurt voranzutreiben", mutmaßte er damals. "Das war das Gefühl", erklärt P. vier Jahre später als Zeuge. Ein merkwürdig schneller Schluss - in dem die Möglichkeit eines Missverständnisses oder einer Falschaussage der Zeugen nicht mal in Erwägung gezogen wird. Über Ahmed I., der in den Protokollen konsequent immer nur als "der Ahmed" bezeichnet wird, scheint man sich bei den Ermittlern schon vor vier Jahren ein Urteil gebildet zu haben.

    Unvereidigte Dolmetscherin

    Auch Dolmetscherin Roula R. ist sich vier Jahre nach den Vernehmungen sicher, dass es seinerzeit keine Verständingungsprobleme zwischen ihr und Ahmed I. gegeben habe. "Er hat manchmal die Fragen nicht verstanden oder nicht so ganz verstanden. Dann habe ich sie nochmal etwas anders übersetzt", sagt sie. Müde habe Ahmed I. gewirkt, aber dennoch "ganz normal" geredet.

    Roula R. bestätigt in weiten Teilen die Aussage von Ralf P. Die Art, wie sie dies tut, ist allerdings fast aufschlussreicher als der Inhalt ihrer Einlassung. Roula R. spricht sehr gut Deutsch - aber keinesfalls perfekt. Nicht immer findet sie das passende Verb, bricht Sätze ab, wenn ihr ein bestimmtes Wort nicht einfallen will. Roula R. ist Fremdsprachensekretärin, keine vereidigte Dolmetscherin. Dennoch übersetzt sie seit 2009 für die Polizei und das LKA.

    Vielleicht hat es in der Kommunikation zwischen Roula R. und Ahmed I. gehakt. Vielleicht erst bei der Übersetzung ins Deutsche. Vielleicht hat Ralf P. das Gesagte etwas arg gerafft wieder gegeben. Klar wird, dass die Aussage von Ahmed I. zahlreiche Hürden nehmen musste, ehe sie in das Protokoll der Polizei Einzug fand - und dass dabei die realistische Möglichkeit besteht, dass das eine oder andere Wort verloren gegangen ist oder falsch wiedergegeben wurde. Ob dies dem Nebenkläger anzulasten ist, lässt sich nach vier Jahren nicht mehr sagen.

    Keine Revisionsvorwände bieten

    Natürlich könnte es auch sein, dass Ahmed I. jener windige Charakter ist, als den ihn die Verteidigung von Stephan Ernst gerne darstellen möchte. Doch selbst wenn, bliebe die Frage nach der Relevanz dieser Erkenntnis für den Prozess. Denn dass Ahmed I. mit einer Waffe oder einem gefährlichen Gegenstand niedergestochen wurde, steht außer Frage. Und auf die Spur von Stephan Ernst kamen die Ermittler in diesem Fall nicht durch die Aussagen von Ahmed I., sondern durch den Fund eines Messers im Haus des Hauptangeklagten, an dem mit großer Wahrscheinlichkeit DNA-Spuren des Opfers anhafteten.

    Dass der Senat die Zeugen dennoch auf Antrag der Verteidigung in den Zeugenstand rief, dürfte weniger einer Hoffnung auf Erkenntnisgewinn geschuldet gewesen sein, als dem Bedürfnis, möglichst wenig Vorwände für einen Antrag auf Revision zu bieten. Eine aus Sicht des Gerichts wohl nötige unnötige Beweiserhebung.

    Der Prozess wird am Donnerstag, 26. November, fortgesetzt.

    Hinweis: In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass "der Senat die Zeugen dennoch auf Antrag der Verteidigung in den Zeugenstand rief, dürfte weniger einer Hoffnung auf Erkenntnisgewinn geschuldet gewesen sein, als dem Bedürfnis, möglichst wenig Vorwände für einen Antrag auf Berufung zu bieten." Gegen Urteile des Oberlandesgerichts steht allerdings das Rechtsmittel der Berufung nicht zur Verfügung. Gemeint war eine Revision. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

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    Tag 31: Die Zweispurigkeit eines Lebens

    Illustrationen zum Blog über Lübcke-Prozess

    Viel Zeit haben Stephan Ernst und Norbert Leygraf nicht miteinander verbracht. Zwei Sitzungen Anfang Januar dieses Jahres. Insgesamt neun Stunden in der JVA Kassel. So viel Zeit blieb dem psychiatrischen Gutachter, um sich selbst einen Eindruck vom Hauptangeklagten im Mordfall Walter Lübcke zu verschaffen. Natürlich hat Leygraf auch den Prozess verfolgt, den Großteil der mittlerweile 31 Prozesstage das Gebaren des geständigen Hauptangeklagten im Sitzungssaal beobachten können. Auch Gutachten aus früheren Strafverfahren gegen Ernst standen ihm zur Verfügung. All diese Puzzleteile soll Leygraf nun zu einem Gesamtbild der Psyche des mutmaßlichen Mörders zusammenführen.

    Norbert Leygraf ist kein Richter. Den Urteilsspruch über Ernst werden andere fällen. Und doch wird, was der psychiatrische Gutachter an diesem Donnerstag sagt, mitentscheidend für die Frage sein, ob Ernst jemals wieder auf freien Fuß kommen wird. Im Grunde sind es zwei Fragen, die Leygraf zu beantworten hat: Ist Ernst schuldfähig? Und liegen die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vor?

    Ernst fühlt sich nicht verhandlungsfähig

    Bevor jedoch Gericht und Zuschauer Einblicke in die psychische Verfasstheit des Hauptangeklagten erhalten, steht zunächst dessen körperliche Gesundheit im Mittelpunkt - sofern man beides voneinander trennen kann. Stephan Ernst habe ihm vor Beginn der Verhandlung mitgeteilt, dass er sich nicht verhandlungsfähig fühle, erklärt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel. Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Konzentrationsschwierigkeiten. Es ist das erste Mal, dass Ernst in dem langen Prozess über körperliche Beschwerden klagt. Doch dem Vorsitzenden Richter Sagebiel ist nicht danach zumute, den Prozess allein aufgrund von Ernsts Selbstdiagnose zu unterbrechen.

    "Wir haben im Moment keine Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit", erklärt Sagebiel. Das Angebot sich von Norbert Leygraf - der nicht nur Psychiater, sondern auch Mediziner ist - untersuchen zu lassen, hatten Ernst und seine Verteidiger ausgeschlagen. Mustafa Kaplan insistiert, dass in dem Prozess die Rollen "nicht vermischt" werden sollen. Von einem Amtsarzt hingegen würde Ernst sich untersuchen lassen.

    Damit beginnt ein mehr als einstündiges Duell, zweier Juristen, die unversöhnlich auf ihren Positionen beharren. "Ich lasse mir von ihrem Mandanten nicht vorschreiben, wann ich verhandle", erbost sich Sagebiel. Er sei es müde, "mit solchen Spielereien die Zeit zu verplempern". Kaplan lässt indes nicht locker, verweist auf Corona-Fälle in der JVA-Frankfurt, in der sein Mandant einsitzt, und wirft dem Gericht vor "mit zweierlei Maß zu messen", weil es unlängst wegen eines wagen Corona-Verdachts die Sitzung unterbrochen hat.

    Eine Anordnung Sagebiels, einen Beschluss des Senats, und einen "unaufschiebbaren Antrag" der Verteidigung später, wird Ernst schließlich doch noch von Norbert Leygraf untersucht. Dessen Diagnose: Keine typischen Corona-Symptome. Puls und Körpertemperatur sind normal. "Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Herr Ernst nicht in der Lage ist, der Hauptverhandlung zu folgen." Bis dahin sind bereits fast zwei Stunden vergangen.

    Niederschmetterndes Psychogramm

    Das Gutachten, das Leygraf im Anschluss vorträgt, muss derweil nicht nur Ernst, sondern auch seiner Verteidigung Kopfschmerzen bereiten. Alles in allem ist es ein niederschmetterndes Psychogramm. In den Gesprächen mit ihm habe sich Ernst freundlich, aber zurückhaltend gezeigt. Jedoch sei bei ihm nie der Eindruck eines "offenen Gesprächs" entstanden, so Leygraf. Ernst neige zu "langatmigen und ausschweifenden Antworten", unterbrochen durch längere Pausen und mit Zusätzen wie "irgendwie" oder "sag ich mal" versehen. Alles in allem versuche er, "mit möglichst vielen Worten, möglichst wenig von sich preiszugeben."

    Vieles was Leygraf über die Gespräche mit Ernst berichtet, dürfte Beobachtern des Prozesses bekannt vorkommen. Ernst spreche meist monoton, mit minimaler Gestik und Mimik und vermittle so den Eindruck emotionaler Unbeteiligtheit. Insgesamt zeige er eine "kleine Schwingungsbreite" an Emotionen. Gefühlsausbrüche, wie etwa in den Vernehmungsvideos, erschienen dem Gutachter "wenig glaubwürdig". Alles in allem sei Ernst ein Mensch, "der sich wenig von den Gedanken und Gefühlen anderer Menschen beeinflussen" lasse.

    "Ausländerfeindlichkeit" sei bereits seit der Jugend eine Konstante in Ernsts Leben. Dies zeige sich nicht nur in seinen Straftaten in den 90er-Jahren und seinem Eintauchen in die Rechte Szene, sondern auch nach seiner Abwendung von den offen gewaltbereiten Strukturen, den er auf 2009 datiert. Zwar habe er danach nach außen hin ein bürgerliches Leben geführt, dass eine "innere Abkehr von den seit seiner Jugend bestehenden Überzeugung" stattgefunden habe, sei aber zweifelhaft. Leygraf spricht von der "Zweispurigkeit seines Lebens".

    Lebenslänglich - wortwörtlich

    Der Mord an Walter Lübcke müsse daher im Zusammenhang mit diesem "tief eingeschliffenen inneren Zustand und der entsprechenden Verhaltensdisposition" gesehen werden, erklärt Leygraf. Dass Ernst die Tat über Jahre geplant habe, entspräche einem Charakter, der nach außen hin unbeteiligt wirke, im Inneren aber leicht kränkbar sei und solche Kränkungen nicht vergesse. Zugleich zeigten seine Straftaten in der Vergangenheit und - sollte diese Tat ihm nachgewiesen werden - der Messerangriff auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I., dass er ebenso zu Gewalttaten aus "spontaner Erregung" fähig sei, die sich gegen "Zufallsopfer" richteten.

    Es sei davon auszugehen, dass Ernst ähnliche Straftaten wieder begehen würde, hält Leygraf schließlich fest. Damit sind die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfüllt. Für Stephan Ernst dürfte lebenslänglich damit vermutlich tatsächlich lebenslänglich bedeuten. Denn selbst wenn das Gericht keine Sicherungsverwahrung anordnet, dürfte diese Prognose einem Erlass der Reststrafe nach 15 Jahren entgegenstehen. An der Schuldfähigkeit von Ernst bestehen aus Sicht des Gutachters keine Zweifel. Hinweise auf Psychosen oder eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung zum Tatzeitpunkt seien nicht erkennbar, betont Leygraf.

    Den Zeugen verunsichern

    Dass sich Ernsts Verteidiger mit diesem Gutachten nicht anfreunden können, liegt in der Natur der Sache. Mustafa Kaplan versucht im Anschluss fast eine Stunde lang, mit kleinteiligen Detailfragen Zweifel an der Expertise des Gutachters zu schüren. Ob Leygraf denn tatsächlich gesehen habe, dass Ernst an einer Stelle im Verhör zwar das Taschentuch zum Auge führe, aber nicht wirklich Tränen vergieße? Wie das ginge? Ob er habe heranzoomen können?

    Es ist eine Taktik, die Kaplan im Prozess immer wieder angewandt hat - teilweise mit Erfolg. Einzelne Formulierungen aufgreifen, vorhalten, den Zeugen verunsichern. Bei Leygraf verfängt sie nicht. "Bestimmte Dinge prägen sich im Leben ein und bleiben dann verhaltensbestimmend", sagt der Psychiater mit Blick auf Ernst. Woher er das denn wisse, hakt Kaplan nach. Fast ungläubig antwortet Leygraf: "Ich bin Psychiater."

    Der Prozess wird am kommenden Dienstag, 24. November fortgesetzt. Ein Urteil wird inzwischen nicht mehr vor Ende Dezember erwartet.

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    Tag 30: Unwahrscheinlich schwer, unwahrscheinlich stark

    Zeichnung von Frau Braun-Lübcke im Gerichtssaal.

    Es war mitten in der Nacht, als Irmgard Braun-Lübcke schlagartig klar wurde, dass sich ihr Leben für immer verändern würde. Ihr Sohn Jan-Hendrik hatte sie geweckt. "Mama. Der Papa", mehr habe ihr Sohn nicht sagen müssen. "Da wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste", erinnert sich die ehemalige Berufsschullehrerin. Kurze Zeit später steht sie mit ihrer Familie und mehreren Ersthelfern auf der Terrasse ihres Wohnhauses in Wolfhagen-Istha und blickt auf den leblosen Körper ihres Mannes. Es ist die Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019. "Die Gedanken haben sich überschlagen. Man hat so und so gedacht. Aber doch kein Mord!"

    Mehr als 15 Monate nach jener Juni-Nacht steht längst außer Frage, dass es eben doch Mord war. Nur wenige Meter trennen Irmgard Braun-Lübcke an diesem Montag von jenem Mann, der gestanden hat, ihren Mann erschossen zu haben. Einen Großteil der inzwischen 30 Prozesstage hat die Witwe Walter Lübckes dem Hauptangeklagten Stephan Ernst gegenüber gesessen, hat zugehört, als sein Geständnis verlesen wurde, sich die Videos angesehen, in denen Ernst den Ermittlern verschiedene Versionen der Tat auftischte. Das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme bezeichnet sie als "Puzzle mit vielen schwarzen Flecken". Irmgard Braun-Lübcke aber will "ganz genau wissen", was in jener Nacht im Juni 2019, als sie neben ihrem Enkelkind schlief, passierte. Nun hat sie die Gelegenheit, diese Frage direkt an Stephan Ernst zu stellen.

    Ein lebensbejahender Mann

    Prozessbeteiligten wie Beobachtern ist klar, dass die Aussage von Braun-Lübcke selbst wenig zur Rekonstruktion des Geschehens beitragen kann. Darum aber geht es auch nicht. Braun-Lübcke bezeugt - ähnlich wie bereits ihr Sohn Jan-Hendrick am 7. Prozesstag - dass eine Tat wie der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten juristisch gesehen nur einen Geschädigten kennt, tatsächlich aber viele Opfer hat.

    "Wettermäßig war es ein schöner Tag", erinnert sich Braun-Lübcke an den 1. Juni 2019. In Istha strömen die Menschen zur Kirmes, nur wenige hundert Meter vom Haus der Lübckes entfernt. Irmgard Braun-Lübcke und ihr Mann werden nicht hingehen. Sie freuen sich, dass erstmals ihr Enkelkind bei ihnen übernachten soll. Walter Lübcke verbringt viel Zeit auf der Terrasse. Ein befreundeter Pfarrer kommt auf einen Schwatz vorbei, später wird Lübcke in der anbrechenden Dunkelheit noch auf seinem Tablet nach Ausflugszielen und Hotels suchen. Die Terrasse ist sein Lieblingsplatz am Haus der Familie - und der Ort, an dem er sterben wird.

    Irmgard Braun-Lübcke beschreibt ihren Ehemann als "lustigen" und "lebensbejahenden" Menschen, der sich auf die anstehende Pensionierung und seine neue Rolle als Großvater gefreut habe. Als einen durch und durch von einem "christlichen Menschbild" geprägten Politiker, für den es "selbstverständlich" gewesen sei, dass man flüchtenden Menschen helfen müsse. Es ist diese Einstellung, die Walter Lübcke zum Ziel rechten Hasses werden lässt. Insbesondere nach seinem berühmten Auftritt auf einer Bürgerversammlung in Lohfelden im Herbst 2015. Im Publikum sitzen Stephan Ernst und der Mitangeklagte Markus H. Letzterer filmt die Rede und lädt das Video auf Youtube hoch: der Auftakt zu einer Welle von Hassnachrichten und Bedrohungen. Und der Moment, in dem Lübcke in den Fokus seines späteren Mörders rückt.

    Fragen nicht zur Zufriedenheit geklärt

    Als sie der Arzt in dieser Nacht in einen Nebenraum der Klinik Wolfhagen bittet, weiß Irmgard Braun-Lübcke, was das zu bedeuten hat. "Das kannte ich schon von vorherigen Todesfällen." Erst da hätten sie und ihre Söhne die Ärzte gefragt, woher das Blut auf ihrer Terrasse und die Verletzung an Walter Lübckes Kopf stammen könnten. Kurze Zeit später entdecken die Ärzte das Projektil im Kopf des Kasseler Regierungspräsidenten.

    Irmgard Braun-Lübcke ist während ihrer Aussage meist gefasst. Vor dem Senat sitzt eine kleine Frau, an der eigentlich nur die besonders aufrechte Körperhaltung auffällt. Ihre Stimme zittert ab und an, ohne zu brechen. Selbst wenn sie davon spricht, was der "fiese, perfide Mord" in ihr und ihrer Familie zerstört habe. Irmgard Braun-Lübcke scheint kein Mensch zu sein, der um sich selbst weint. Im Gegensatz zu manch anderem Verfahrensbeteiligten. "Es ist unwahrscheinlich schwer", sagt sie. Irmgard Braun-Lübcke aber ist unwahrscheinlich stark.

    Ihr und ihrer Familie bliebe nur die Hoffnung, dass Ernst die Tat in Gänze aufkläre. Hat Walter Lübcke seinen Angreifern noch ins Gesicht gesehen? Gab es noch so etwas wie ein Gespräch? Warum hat sich ein so starker Mensch wie ihr Mann nicht mehr verteidigen können? "Diese Fragen sind von dem Angeklagten Ernst durch seine unterschiedlichen Einlassungen nicht zur Zufriedenheit geklärt", betont sie.

    Appell an den mutmaßlichen Mörder

    Ernst und seine Verteidigung hatten nach dem Geständnis am achten Prozesstag erklärt, alle Fragen der Familie Lübcke beantworten zu wollen. Die Zusage stehe noch immer, versichtert Ernsts Verteidiger Mustafa Kaplan am Montag. Doch statt Antworten hat Ernst nur eine neuerliche Entschuldigung zu bieten: "Es tut mir leid, dass in Ihrem Herzen Kummer ist Tag für Tag. Es tut mir unendlich leid."

    Vergebung wird Ernst an diesem Prozesstag nicht erhalten. Falls er sie überhaupt erwartet hatte. Stattdessen richtet sich Irmgard Braun-Lübcke mit einem emotionalen aber keinesfalls verzweifelten Appell direkt an den mutmaßlichen Mörder ihres Mannes: "Sagen Sie uns die Wahrheit! Sie haben so unterschiedliche Aussagen gemacht."

    Für seine "unterschiedlichen" Aussagen in der Vergangenheit macht Ernst seine ehemaligen Verteidiger verantwortlich. Diese hätten ihm dazu geraten. Ein Vorwurf, der den Senat möglicherweise noch länger beschäftigen wird. Zu Beginn des Prozesstages hatte der Anwalt der Familie Lübcke beantragt, die Handakte des ehemaligen Ernst-Anwalts Frank Hannig zu beschlagnahmen. Aus den Notizen des Ex-Verteidigers ginge eindeutig hervor, dass Ernst von Anfang an Markus H. als Mittäter benannt habe, argumentiert Rechtsanwalt Holger Matt: "Die Nebenklage kämpft hier für die vollständige Aufklärung der Tat."

    Stephan Ernst hat an diesem Prozesstag zur Aufklärung offenkundig nichts mehr beizutragen. Als Irmgard Braun-Lübcke ihn anspricht, blickt er zu Boden und schweigt.

    Verfahren wegen illegaler Waffen eingestellt

    Stattdessen sprechen wieder die Gutachter. Ein Experte für digitale forensische Untersuchungen erläutert, wann der Mitangeklagte Markus H. seinen Computer in der Tatnacht benutzt und wann er bestimmte Dateien gelöscht hat. Ein Mitarbeiter des Ordnungsamts Kassels gibt Auskunft darüber, wann im Jahr 2016 in der Stadt Wahlplakate hängen durften - ein Detail, das für den Tatkomplex Ahmed I. von Belang sein könnte. Und schließlich erklärt ein Sachverständiger des Landeskriminalamts, warum eine bei Markus H. entdeckte Waffe zwar nicht mehr schussfähig war, aber dennoch nicht den gesetzlichen Bestimmungen zur Unbrauchbarmachung entsprochen habe.

    Die zahlreichen waffenrechtlichen Verstöße des Hauptangeklagten Stephan Ernst sind derweil seit diesem Montag nicht mehr Teil des Prozesses. Das Gericht beschließt mit Zustimmung der Verteidigung, das Verfahren in diesen Punkten einzustellen, da die zu erwartende Strafe für diese Verstöße bei der Gesamtstrafe kaum mehr "wesentlich ins Gewicht" fallen dürfte.

    Der Prozess wird am Donnerstag (19. November) fortgesetzt.

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    Tag 29: Prozess und Pandemie

    Mustafa Kaplan (links) im Gespräch mit dem Hauptangeklagten Stephan Ernst (rechts)

    Es ist kurz nach 12 Uhr, als die Realität einer weltweiten Pandemie den Sitzungsaal 165C des Frankfurter Oberlandesgerichts erreicht. Eigentlich hatte sich der Senat nur zu einer fünfminütigen Pause zurückziehen wollen, um das weitere Vorgehen an diesem 29. Prozesstag zu besprechen. Doch als der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel den Raum wieder betritt und sein Mikrofon einschaltet, steht bereits fest, dass an diesem Tag keine Zeugen mehr vernommen werden.

    Ein Senatsmitglied habe soeben die Nachricht erhalten, dass ein Bekannter, zu dem es noch am vergangenen Sonntag Kontakt gehabt habe, positiv auf das Corona-Virus getestet worden sei. Der Kontakt habe zwar im Freien und mit Abstand stattgefunden, dennoch müsse die Sitzung aus "Infektionsschutzgründen" unterbrochen werden. Ob der Prozess um den Mord an Walter Lübcke wie geplant am Montag fortgesetzt werden kann, hängt nun an dem Ergebnis eines Corona-Tests.

    Tatkomplex Ahmed I. im Mittelpunkt

    Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen - Plexiglasscheiben zwischen den Prozessbeteiligten, Maskenpflicht für Zuschauer und Pressevertreter - war es wohl nur eine Frage der Zeit, wann Corona auch diesen Prozess beeinflussen würde. Doch auch ohne die Auswirkungen der Pandemie zeichnet sich ab, dass das vom Senat angestrebte Prozessende am 1. Dezember kaum noch zu halten sein dürfte.

    Die Verteidigung von Stephan Ernst konzentriert sich zunehmend auf den Tatkomplex Ahmed I. Der irakische Asylbewerber war im Januar 2016 in Lohfelden von einem Fahrradfahrer niedergestochen und schwer verletzt worden. Die Anklage legt auch diese Tat Stephan Ernst zu Last. Der bestreitet sie.

    In der öffentlichen Wahrnehmung gerät der Fall Ahmed I. schnell zum Nebenaspekt im Mordprozess Lübcke. Tatsächlich aber könnte er mitentscheidend für die Frage sein, ob Stephan Ernst jemals wieder auf freien Fuß kommt. Dass Ernst zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen des Mordes an Walter Lübcke verurteilt wird, steht für die meisten Beobachter bereits fest. Doch zusätzlich steht eine anschließende Sicherungsverwahrung im Raum. Und an der käme das Gericht schwer vorbei, wenn es Ernsts Täterschaft im Fall Ahmed I. bejaht.

    Zweifel an Glaubwürdigkeit säen

    Die Verteidigung von Stephan Ernst versucht daher schon seit einigen Wochen mit immer neuen Beweisanträgen Zweifel an der Täterschaft ihres Mandanten zu säen. Bislang mit wenig Erfolg. Am 26. Prozesstag etwa hatte sie einen Befangenheitsantrag gegen jenen Gutachter gestellt, der die DNA-Spuren an einem bei Ernst gefundenen Messer untersucht hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit von Ahmed I. oder einem Verwandten stammen.

    Als Beweis der Befangenheit sollte ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2015 herhalten, in dem der Auftritt des Gutachters vor einer Schulklasse beschrieben wird. Darin zitierte Aussagen wie "früher oder später kriegen wir sie alle", wertete Ernsts Verteidiger als Hinweis darauf, dass der Gutachter "geradezu Spaß daran hat, wenn harte Strafen verhängt werden".

    Der Senat erteilt diesem Antrag zu Beginn des 29. Prozesstages eine klare Absage. Weder hätten die Aussagen des Gutachters einen herablassenden Charakter noch sei überhaupt ein Bezug zu den Angeklagten zu erkennen. Kaplan aber gibt sich in dieser Angelegenheit noch nicht geschlagen. Er beantragt die Vernehmung weiterer Zeugen, die bestätigen sollen, dass Ahmed I. widersprüchliche Angaben über in Deutschland lebende Verwandte gemacht und kurz nach der Tat eine Ersthelferin dazu aufgefordert haben soll, nicht die Polizei zu rufen. Die Verteidigung Ernsts betreibt enormen Aufwand, um Ahmed I. unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Dabei war es gar nicht die Aussage von Ahmed I., die Stephan Ernst in diesem Fall zum Verdächtigen werden ließ.

    Treffer in der Datenbank

    Für Ernst als Täter sprechen ganz andere Indizien. Die DNA-Spuren an dem Messer, die Lage des Tatorts, der sich auf seinem Arbeitsweg befindet, die Tatsache, dass Ahmed I. "das perfekte Feindbild" für Stephan Ernst darstellt, wie es Oberstaatsanwalt Dieter Killmer formuliert. Und nicht zuletzt eine merkwürdige Einlassung von Stephan Ernst selbst bei der Polizei. Ernst hatte berichtet, kurz nach den Ereignissen der Neujahrsnacht 2016 am Kölner Bahnhof einen "Ausländer" wüst beschimpft und bedroht zu haben. Als Datum nannte er seinerzeit von sich aus den 6. Januar 2016 - den Tag des Angriffs auf Ahmed I.

    Über die damaligen Ermittlungen gibt an diesem Verhandlungstag Kriminalhauptkomissar Michael M. Auskunft. Bereits zwei Tage nach der Tat sei eine 40-köpfige Sonderkommission gebildet worden, der er angehörte, berichtet M. "Ein auffällig hoher Personaleinsatz", wie er sagt. Denn aufgrund der Gesamtumstände, sei man davon ausgegangen, dass der Tat ein politisches Motiv zugrunde gelegen haben könnte.

    Man habe damals in alle Richtungen ermittelt, betont M. Hinweise auf Konflikte in der Flüchtlingsunterkunft, in der Ahmed I. lebte, hätten sich nicht ergeben. Daraufhin habe man in den polizeilichen Datenbanken nach zwei Kategorien von möglichen Tätern gesucht: Vorbestrafte, die bei ihren Taten bereits Messer verwendet haben und einschlägig bekannte Gewalttäter aus dem rechtsextremen Spektrum. Letztere Abfrage ergab nicht weniger als 31 Treffer - darunter Stephan Ernst.

    Ermittler glaubten Ernsts Alibi

    Theoretisch zumindest hätte Ernst bei beiden Abfragen auftauchen müssen. Denn bereits 1995 war er wegen eines Messerangriffs auf einen türkischen Imam in Wiesbaden verurteilt worden. Der "perfekte Tatverdächtige" als Gegenstück zum "perfekten Feindbild" Ahmed I. Doch zu diesem Schluss scheinen die Ermittler seinerzeit nicht gekommen zu sein. Wohl auch weil in der Soko seinerzeit nicht alle Informationen allen zur Verfügung standen, wie Michael M. schildert. Einige Erkenntnisse des Staatsschutzes etwa, waren ihm nicht zugänglich.

    Stephan Ernst jedenfalls sei damals zwei Mal aufgesucht und einmal angetroffen worden. Dabei habe er ein Alibi für den 6. Januar 2016 präsentiert. Er habe Urlaub gehabt und sei zuhause gewesen. Aus Sicht der Ermittler besteht kein ausreichender Anfangsverdacht, der eine Hausdurchsuchung rechtfertigen würde. Zu der kommt es erst dreieinhalb Jahre später - nach dem Mord an Walter Lübcke.

    Die Ermittlungen zum Fall Ahmed I. werden das Gericht auch am kommenden Prozesstag beschäftigen. Dann sollen weitere Ermittler aussagen, die eigentlich schon für diesen Donnerstag geladen waren.

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    Tag 28: Gesagt, gehört, bezeugt

    Zeichnung Gruppenbild im Gerichtssaal

    Ein Urteil über den Hauptangeklagten Ernst scheint Nicole Schneiders bereits gefällt zu haben. Der Beweiswert seines Geständnisses, in dem ihr Mandant Markus H. zum Mittäter beim Mordanschlag auf Walter Lübcke gemacht wird, gehe gen null, erklärt die Strafverteidigerin. Die belastenden Aussagen bezüglich Markus H. seien objektiv nicht belegbar, die Schilderung seines Ausstiegs aus der rechten Szene unglaubwürdig. Alles in allem gebe es zahlreiche "Anhaltspunkte für eine Falschaussage". Daher, so Schneiders Schlussfolgerung, solle sie am besten gar nicht verwendet werden.

    Der inhaltlichen Begründung des von Schneiders begehrten Beweisverwertungsverbotes, mögen an diesem 28. Prozesstag weder der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel noch der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Dieter Killmer widersprechen. "Die Defizite sehe ich ja genauso", erklärt Killmer. Dennoch müsse die Aussage durch das Gericht bewertet werden.

    Das Gericht muss sich an dieser Stelle mit einer Frage befassen, die Teil einer Klausur im Jura-Studium sein könnte. Keine besonders anspruchsvolle - denn zu einer Einschätzung über die Glaubwürdigkeit von Aussagen zu gelangen, ist gerade Sinn einer mündlichen Hauptverhandlung. Doch der kurze Schlagabtausch zu Beginn des Prozesstages verdeutlicht, dass die Beweisaufnahme im Lübcke-Prozess bereits weit über das Stadium hinaus ist, in dem forensische Beweise im Mittelpunkt stehen. Stattdessen geht es darum, wer was wann gesagt hat - und wie überzeugend.

    Keine Hinweise auf Planungstreffen

    Das Problem mit den Zeugen an diesem Dienstag ist allerdings, dass sie wiedergeben müssen, was andere gesagt haben. Manchmal auch was andere über andere gesagt haben.

    Da ist zunächst der Kriminalhauptkommissar des LKA, der wiedergeben muss, was der ehemalige Verteidiger des Hauptangeklagten, Dirk Waldschmidt, über Stephan Ernst berichtet hat. Ernst hatte Waldschmidt bezichtigt, ihn zu seinem ersten Geständnis angestiftet und ihm finanzielle Hilfe in Aussicht gestellt zu haben, wenn er den Mitangeklagten Markus H. nicht belaste. Mit diesem Vorwurf konfrontiert habe Waldschmidt allerdings eine andere Version der Geschichte erzählt, erinnert sich der Kriminalhauptkommissar.

    Demnach habe Ernst seinen damals bereits geschassten Anwalt erneut kontaktiert und ihn gebeten auszuloten, ob das "Umfeld von H." bereit sei, ihn und seine Familie finanziell zu unterstützten, wenn er seine belastenden Aussagen zurückziehe. Zudem habe Waldschmidt zu Protokoll gegeben, dass Ernst ihm gegenüber im selben Gespräch erklärt habe, dass sein erstes Geständnis den Tatsachen entspreche. Dabei soll er den ermordeten Walter Lübcke als "Volksschädling" bezeichnet haben.

    Immerhin eine Aussage des Hauptangeklagten konnte der LKA-Beamte noch mit eigenen Ermittlungen überprüfen. In seiner jüngsten Schilderung des Anschlags hatte Ernst behauptet, dass er und H. den endgültigen Tatentschluss im April 2019 bei einem Treffen in einem Industriegebiet gefasst hätten. An diesem Abend, nach einer Veranstaltung im Schützenverein, in dem beide Angeklagten aktiv waren, will Ernst an einer Tankstelle Bier gekauft haben. Die Ermittlungen hierzu hätten jedoch nichts ergeben, so dass sich die Aussage "weder bestätigen noch falsifizieren" ließe, erklärt der Ermittler.

    Erinnerungen an Gesprächsfetzen

    Den Wahrheitsgehalt der zweiten Zeugenaussage des Tages zu überprüfen, dürfte sich noch schwieriger gestalten. Habil A., ein enger Freund von Stephan Ernst, muss bereits zum zweiten Mal in den Zeugenstand treten. Ein Privileg, das er sich selbst eingebrockt hat, weil er von sich die Bundesanwaltschaft kontaktierte, nachdem Markus H. aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Im Telefonat mit Oberstaatsanwalt Killmer hatte sich Habil A. überrascht von der Haftentlassung gezeigt. Schließlich sei es H. gewesen, der Ernst die Adresse der Lübckes in Wolfhagen-Istha verschafft habe.

    Ganz so eindeutig klingt das, was Habil A. zu berichten hat, dann allerdings nicht. Lediglich Gesprächsfetzen bei einer Veranstaltung im Schützenverein habe er mitbekommen. "Man weiß ja nicht, wo diese Leute wohnen", soll Ernst seinerzeit beklagt haben. "Das kann ich dir sagen", soll H. darauf geantwortet haben, "da wo dein Meister wohnt." Tatsächlich habe ein Meister aus dem Betrieb von Ernst in Wolfhagen-Istha gelebt - dem Wohnort von Lübcke. Jedoch seien weder der Name "Lübcke" noch der Ortsname in dem Gespräch gefallen, betont Habil A.

    Markus H. will schweigen - und redet trotzdem

    Schließlich berichtet ein Polizeibeamter des Polizeipräsidiums Nordhessen von der Festnahme von Markus H. Nachdem dieser über seine Rechte belehrt worden sei, habe er zunächst angekündigt, nichts zum Tatvorwurf sagen zu wollen. "Wenn der Generalbundesanwalt im Boot ist, will er keine Angaben machen", erinnert sich der Zeuge, "da würden ja neun Jahre im Raum stehen." Worauf diese Einschätzung des vermeintlich drohenden Strafmaßes beruht, verriet H. seinerzeit nicht. Dafür aber, dass er Ernst aus der rechten Szene kenne, dass beide aus dieser ausgestiegen seien und im Schützenverein gemeinsam trainierten.

    Es dürften nicht die letzten Zeugen gewesen sein, die bezeugen müssen, was andere gesagt und sie gehört haben. Die Verteidigung von Stephan Ernst hat beantragt, nicht weniger als sieben Zeugen zu laden, um die Vernehmungen des Nebenklägers Ahmed I. aus dem Jahr 2016 zu rekonstruieren. Ahmed I. war im Januar 2016 von einem Unbekannten hinterrücks niedergestochen worden. Auch diese Tat wird Stephan Ernst vorgeworfen. Einige Widersprüche zwischen seinen damaligen Aussagen und seiner jüngsten Aussage vor Gericht hatte Ahmed I. unter anderem mit Verständigungsproblemen zwischen ihm und der damaligen Dolmetscherin begründet.

    Eine Entscheidung über den Beweisantrag steht noch aus. Der Prozess wird am Donnerstag, 12. November, fortgesetzt.

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    Tag 27: Wer ist Stephan Ernst?

    Zeichnung von S. Ernst, wie er sich im Gericht hinsetzt.

    Es ist nicht mehr all zu viel, was Dieter Jöckel über den jungen Mann zu berichten weiß, mit dem er sich vor 25 Jahren unterhielt. Etwa anderthalb Stunden dauerte das Gespräch seinerzeit. "Er war nicht unnahbar", erinnert sich der forensische Psychiater. Alles in allem sei er "angenehm überrascht" gewesen über den Verlauf der Sitzung. Denn immerhin hatte ihn das Landgericht Wiesbaden um eine Einschätzung gebeten. Gegen den 21-Jährigen, der ihm gegenüber saß, lief damals ein Strafverfahren.

    Im November 1992 soll er auf der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofs einen türkischen Imam niedergestochen, wenige Monate später eine Rohrbombe in einem Pkw vor einer Asylunterkunft deponiert haben. Im Gespräch mit ihm aber habe sich der mutmaßliche Gewalttäter kooperativ und gesprächsbereit gezeigt. "Ich habe ihn als jungen Mann erlebt, der ganz viele Probleme hat", resümiert Jöckel, "ein stilles, aber tiefes Wasser."

    25 Jahre später, im November 2020, sitzt Jöckel mit demselben Mann wieder in einem Raum: Dem Sitzungsaal 165C des Frankfurter Oberlandesgericht. Jöckel ist Zeuge, sein Gesprächspartner von damals Hauptangeklagter im Mordfall Walter Lübcke. An diesem 27. Prozesstag steht der Lebenslauf von Stephan Ernst, dem mutmaßlichen Mörder Walter Lübckes, im Mittelpunkt. Jöckel und ein weiterer Gutachter aus dem Verfahren von 1995 sollen Auskunft darüber geben, wer dieser Stephan Ernst damals war. Und damit vielleicht auch Ansätze einer Erklärung dafür liefern, wie er zu dem Menschen wurde, der er heute ist.

    Fragmente einer Lebensgeschichte

    Seine Sicht auf den eigenen Werdegang hatte Ernst bereits am achten Prozesstag von seinem Verteidiger Mustafa Kaplan verlesen lassen - kurz bevor sein drittes Geständnis, in dem er endgültig die Verantwortung für den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke übernahm, ablegte. Sie beginnt mit einem gewalttätigen, ausländerhassenden Vater, führt über schlechte Erfahrungen mit türkischstämmigen Jugendlichen, zahlreiche Gewalttaten und Jahre in der Neonazis-Szene zu einem vermeintlichen Ausstieg und dem späteren Wiedersehen mit dem Mitangeklagten Markus H., den Ernst für seine "Re-Radikalisierung" verantwortlich macht.

    All das gipfelte schließlich in dem gemeinsam erdachten und ausgeführten Mordanschlag auf Lübcke. Eine in sich konsistente Erzählung - so lange man nicht zu dezidiert nachfragt.

    Einige Motive dieser Erzählung tauchen tatsächlich bereits Mitte der 90er in der Exploration durch Dieter Jöckel und zwei weitere Kollegen auf. Das problematische Verhältnis zum Vater und die schlechten Erlebnisse mit türkischstämmigen Jugendlichen, die Ernst schon damals für seine "negative Einstellung" gegenüber "Ausländern" verantwortlich macht. Er habe Ernst seinerzeit "nicht als politisch motivierten Täter, sondern als persönlichkeitsgestörten Täter" wahrgenommen, sagt Jöckel.

    Der zweite Gutachter von damals, Jakob Gutmark, kann sich derweil tatsächlich an gar nichts mehr erinnern. Er betritt den Sitzungssaal an diesem Dienstag nur, um fünf Minuten später wieder unvereidigt entlassen zu werden.

    Nicht alles passt zusammen

    Auch wenn es nur Erinnerungsfragmente sind, die Jöckel wiedergeben kann, sind sie an diesem Verhandlungstag doch von einiger Bedeutung. Denn bei der anschließenden Befragung durch das Gericht, bezieht sich Ernst selbst immer wieder darauf. In seiner Erzählung sind es zunächst persönliche, nicht ideologische Gründe, die ihn in der Vergangenheit zu Gewalttaten motiviert hätten.

    Die Brandstiftung im Keller eines Mehrfamilienhauses 1989 - ein Racheakt, weil ihn ein dort lebender türkischer Bekannter nach einem gemeinsam begangenen Einbruch belastet habe. Der Messerangriff auf den Imam - eine Reaktion darauf, dass dieser ihm sexuelle Avancen gemacht habe. Die schwere Körperverletzung an einem türkischen Mitgefangenen während seiner ersten Haftstrafe - Rache für eine versuchte Erpressung.

    Eine Neigung Verantwortung an andere Personen zu delegieren, liest der Verteidiger von Markus H., Björn Clemens, in Ernsts Aussagen hinein. Eine Interpretation, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Ernst hat sich eine Geschichte seiner selbst zurecht gelegt, in die vieles hineinpasst - aber nicht unbedingt alles zusammen.

    Da ist etwa die Teilnahme an einer von dem führenden Neonazi-Kader Thorsten Heise organisierten Sonnenwendfeier in Thüringen, die nach Erkenntnisse des Landesamts für Verfassungsschutz im Jahr 2011 stattgefunden hat - zwei Jahre nach Ernsts vermeintlichem Ausstieg aus der Neonazi-Szene. Ein Foto der Veranstaltung zeigt Ernst inmitten einer Gruppe einschlägig bekannter Aktivisten der rechten Szene. "Ich kann mich an die Sonnenwendfeier erinnern", gesteht Ernst ein. Ob sie tatsächlich 2011 stattgefunden habe, könne er nicht sagen. Wenn ja, dann habe er allerdings nicht aus ideologischer Überzeugung teilgenommen. Im Grunde habe es sich "um ein großes Trinkgelage" gehandelt.

    Ausbruch aus der Apathie

    Auch bei den heutigen Einlassungen macht Ernst einen oft zurückgenommenen, stellenweise apathischen Eindruck. Als ob er über eine ihm im Grunde fremde Person sprechen würde und nicht über sich selbst. Diesen Schutzschirm durchbrechen Gericht und Staatsanwaltschaft schließlich mit zwei Fragen.

    "Sie hatten interessanterweise immer wieder ausländische Freunde", stellt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel fest. Auch Ernsts Ehefrau, habe mit ihrer Herkunft nicht dem Idealbild seiner Kameraden entsprochen. Ob ihm das nie zu denken gegeben hätte? "Es ist so, dass eigentlich, wenn ich so selbst zurückblicke", stottert Ernst los, "dass eigentlich das Wesentliche, wo ich... also wie ich mein Leben aufgebaut habe, sei es meine Familie, seien es die Freunde, die ich hatte...". Dann bricht seine Stimme. Aus dem Schluchzen schält sich mühsam das Eingeständnis, dass dieses "wirkliche Leben" wie Ernst es nennt, im Widerspruch zu seinen politischen Aktivitäten steht.

    "Ich erlebe, dass Sie betroffen sind, wenn es um Ihre Familie geht, Sie dann aber sehr kontrolliert sind, wenn es um die Straftat geht, nämlich die Ermordung des Doktor Lübcke", wendet sich schließlich auch noch der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Dieter Killmer, an Ernst. Ob er sich schon einmal mit dem Thema Schuld auseinandergesetzt habe. Erneut kann Ernst nur unter Tränen antworten: "Ich empfinde jedes Wort, das ich dazu sage, als heuchlerisch. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll", sagt er.

    Der Prozess wird am kommenden Dienstag, 10. November fortgesetzt.

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    Tag 26: Manövrieren im Minenfeld

    Zeichnung von S.Ernst und seinen Anwälten im Gericht.

    Einen kurzen Augenblick lang sieht es an diesem Dienstag so aus, als könnte für Rechtsanwalt Dirk Waldschmidt sein zweiter Auftritt im Lübcke-Prozess im Gefängnis enden. Nicht weil man ihn einer Straftat überführt hätte, sondern weil es den Anschein macht, als wollte er an diesem 26. Prozesstag die Aussage verweigern.

    "Ich mache sie noch einmal in aller Form darauf aufmerksam, dass wir ihre Weigerung für unberechtigt halten", erklärt der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats am Oberlandesgericht Frankfurt, Thomas Sagebiel, mit ruhiger aber zugleich drohender Stimme.

    Bereits zuvor hatte er klar zu verstehen gegeben, dass der Senat in Erwägung ziehe, Waldschmidt in Beugehaft zu nehmen. Als der Rechtsbeistand des Anwalts erneut zu einer längeren Erklärung ansetzt, unterbricht ihn Sagebiel rüde: "Herr Waldschmidt hat jetzt die Wahl: Will er aussagen oder Beugehaft."

    Drohung mit Beugehaft

    Dass er kein Freund anwaltlicher Taktiererei ist, hat Richter Sagebiel in dem nun schon fast fünf Monate laufenden Prozess bereits mehr als einmal deutlich gemacht. Wortgefechte mit Verteidigern, Nebenklagevertretern oder Zeugenbeiständen waren in den vergangenen 25. Prozesstagen beinahe an der Tagesordnung. An diesem Dienstag lässt sich die Ungeduld Sagebiels nachvollziehen.

    Dirk Waldschmidt - der erster Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan Ernst war, bis dieser ihm das Mandat entzog - stand bereits Anfang September im Zeugenstand. Ernst hatte ihn teilweise von seiner Schweigepflicht entbunden. Seinerzeit wurde die Vernehmung unterbrochen, weil Waldschmidt behauptete, auch von Ernsts Frau mandatiert worden zu sein. Da diese ihn nicht von der Schweigepflicht entbunden hatte, konnte er bestimmte Fragen, die dieses Mandatsverhältnis betreffen, nicht beantworten.

    Inzwischen liegt diese Entbindung durch Ernsts Ehefrau vor. Eine "vorsorgliche Entbindung", denn eigentlich weiß Ernsts Ehefrau nichts von einem Mandatsverhältnis. Waldschmidts Aussage stünde nichts im Wege. Doch er und sein Zeugenbeistand sind sich "unsicher", was die Authentizität dieser Schweigepflichtsentbindung angeht. Ernsts aktueller Verteidiger, Mustafa Kaplan, solle diese "anwaltlich" versichern, fordern sie. "Mir reicht diese Entbindung nicht", erklärt Waldschmidt zunächst. Gut fünf Minuten, und zwei deutliche Drohungen mit Beugehaft später, ist er dann doch bereit auszusagen.

    Dass Ernsts Ex-Anwalt überhaupt als Zeuge aussagen muss, gehört zu jenen kuriosen Wendungen, die inzwischen fast zu einer Art Markenzeichen dieses Verfahrens geworden sind. Ernst hatte ausgesagt, dass ihm Waldschmidt finanzielle Unterstützung aus rechtsextremen Netzwerken in Aussicht gestellt habe. Einzige Bedingung: Er solle den Mitangeklagten Markus H. aus der ganzen Sache raushalten. Daher habe er in seinem ersten Geständnis behauptet, den Mord an Walter Lübcke allein begangen zu haben. Inzwischen behauptet Ernst, die Tat mit Markus H. gemeinsam geplant und ausgeführt zu haben - auch wenn der tödliche Schuss von ihm abgegeben worden sei.

    Keine Unterstützung in Aussicht gestellt

    In seiner ersten Vernehmung hatte Waldschmidt erklärt, von einem anonymen Anrufer über Ernsts Festnahme informiert worden zu sein und daraufhin Kontakt zu diesem aufgenommen zu haben. Im ersten Gespräch mit seinem damaligen Mandanten habe dieser seinen Freund Habil A. als Alibi-Zeugen präsentiert. Ernsts Alibi für den Tatabend habe sich schließlich auch mit den Aussagen seiner Frau gedeckt.

    Damals sei er der Überzeugung gewesen, dass Ernst schon bald wieder auf freien Fuß komme. Der Ehefrau des Hauptangeklagten habe er angeboten, sie nach ihrer Kündigung arbeitsrechtlich zu vertreten. Eine Unterstützung durch "Kameraden" habe er nicht in Aussicht gestellt, betont Waldschmidt.

    Erst nach dem mit ihm nicht abgesprochenen ersten Geständnis hätten er und Ernst über die Möglichkeit einer Unterstützung aus der rechten Szene gesprochen - auf Betreiben des Angeklagten, wie Waldschmidt betont. Dieser habe ihn gebeten, dies zu prüfen. Grundsätzlich sei es nicht so, dass er "ohne Weiteres Kontakt zur Gefangenenhilfe" herstellen könne. Allerdings kenne er Leute, privat wie beruflich, die dies könnten. Ernst allerdings habe er davon abgeraten. "Wie willst du aus der rechten Szene jetzt Unterstützung bekommen, wenn Du Leute verraten hast", habe er ihn gefragt.

    Waldschmidts Aussagen bewegen sich auf einem schmalen Grat. Vieles hält im Vagen, weil er sich nicht sicher ist, ob die jeweilige Aussage noch von den Entpflichtungen seiner ehemaligen Mandanten abgedeckt ist. Vielleicht geht es aber auch um seinen Ruf als Anwalt für "spezielle" Fälle. In den Medien geistere "die Guru-Stellung" seiner Person in der rechten Szene herum, beklagt er in seiner Vernehmung. Für ihn, so viel wird deutlich, stellt diese erneute Vernehmung in mehrfacher Hinsicht eine Art Manövrieren im Minenfeld dar, das er wohl gerne vermieden hätte.

    Schwiegertochter hörte Schuss

    Waldschmidt wird schließlich unvereidigt entlassen. Nach ihm vernimmt der Senat noch zwei weitere Zeuginnen: Claudia R. eine Internetbekanntschaft von Markus H., die nicht viel mehr aussagen kann, als dass sie in der Tatnacht wohl WhatsApp-Nachrichten mit dem Mitangeklagten ausgetauscht hat und Charlotte Lübcke - die Schwiegertochter des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten. Zusammen mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Kind bewohnt sie das Obergeschoss des Wohnhauses der Familie Lübcke in Wolfhagen-Istha. Sie gibt zu Protokoll, in der Tatnacht den tödlichen Schuss auf Lübcke gehört zu haben. Allerdings habe sie ihn für einen explodierenden Böller gehalten.

    Der Prozess wird am Donnerstag, 5. November fortgesetzt.

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    Tag 25: Wie man mit einem Opfer nicht umgehen sollte

    Richter im Gespräch (Format 16zu9)

    Am späten Abend des 6. Januar 2016 sitzt Ahmed I. auf der Fahrbahn einer Straße im Industriegebiet von Lohfelden (Kassel) und ist überzeugt, sterben zu müssen. Mitten auf seinem Rücken klafft eine drei Zentimeter breite und etwa vier Zentimeter tiefe Stichwunde. Auf dem Asphalt vermischt sich sein Blut mit dem Regenwasser. Autos fahren an ihm vorbei. "Vielleicht haben die Leute gedacht, ich bin betrunken", sagt er. Irgendwann hält der Zeuge K. an, zieht ihn auf den Bordstein und bittet einen anderen Autofahrer, Polizei und Rettungswagen zu informieren. Ahmed I. überlebt. Doch die Schmerzen bleiben. Und ebenso die Frage, wer an jenem Januarabend versucht hat, ihn zu ermorden.

    Knapp fünf Jahre später sitzt Ahmed I. dem mutmaßlichen Täter von damals in Gerichtssaal 165C des Frankfurter Oberlandesgerichts gegenüber. Stephan Ernst, den die Öffentlichkeit als geständigen Mörder von Walter Lübcke kennt, ist nach Ansicht der Anwälte des Geschädigten und der Bundesanwaltschaft auch für den Anschlag auf Ahmed I. verantwortlich. Ernst bestreitet diese Tat zwar, doch einige Indizien legen das Gegenteil nahe. "Niemand hat sich für meine Sache interessiert", sagt Ahmed I. An diesem 25. Verhandlungstag nun soll ihm endlich zugehört werden. Er tritt in den Zeugenstand. Doch am Ende wird seine Vernehmung ein Lehrstück darüber, wie ein Gericht mit dem Opfer einer Gewalttat besser nicht umgehen sollte.

    Vorhaltungen in enervierender Ausführlichkeit

    Für seine Aussage ist Ahmed I. auf eine fremde Stimme angewiesen. Ein Dolmetscher muss für ihn übersetzen, auch wenn er Deutsch inzwischen wohl ziemlich gut versteht. Die Stimme des Opfers ist nur als kurzes Geraune zu vernehmen. Quasi eine Einlassung über Bande, was sich im Laufe des Prozesstages noch des Öfteren als Problem erweisen wird.

    Dabei ist die eigentliche Aussage von Ahmed I. knapp und auf das Tatgeschehen beschränkt. Am 6. Januar 2016 macht sich Ahmed I., der in einer Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Gartenbau-Handel in Lohfelden untergebracht ist, auf den Weg zu einer nahegelegenen Tankstelle, um Zigaretten zu kaufen. Auf dem Weg hört er Musik. In seinen Ohren stecken Kopfhörer. Weil es regnet, hat er die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen. Nach drei, vier Minuten bemerkt er, dass sich ihm von hinten ein Fahrradfahrer nähert. Ahmed I. tritt zur Seite. Dann folgt der Schlag. Ahmed I. stürzt zu Boden. "Ich habe zuerst gedacht, ich wäre mit einem Stock geschlagen worden", berichtet er. Doch dann bemerkt er, dass ihm seine Beine nicht mehr gehorchen. Und dann das Blut.

    Zum Angreifer kann Ahmed I. nicht all zu viele Angaben machen. Blonde Haare will er erkannt haben, einen Rucksack. Unmittelbar nach der Tat ist er mehrfach von der Polizei vernommen worden. Auch damals schon war eine Dolmetscherin dabei - die jedoch einen anderen arabischen Akzent sprach als er selbst. Möglicherweise erklärt das, warum in den polizeilichen Vernehmungen teils mehr Details enthalten sind, teils auch widersprüchliche Angaben. Diese Widersprüche werden Ahmed I. vom Gericht und später auch von der Verteidigung von Stephan Ernst in teils enervierender Ausführlichkeit vorgehalten. Was schließlich die Stimmung im Saal beinahe kippen lässt.

    Grinsen über Langzeitfolgen

    "Wir müssen versuchen durch Vorhalte in den Erinnerungen zu graben. Wenn das nicht funktioniert, ist das so. Aber versuchen müssen wir es doch", erklärt der spürbar genervte Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel nach einer zähen Befragung. Die Erläuterung kommt reichlich spät. Ahmed I. hat da bereits den Eindruck, dass die Vorhalte des Gerichts in Wirklichkeit Vorwürfe sind - wozu auch der permanent gereizte Tonfall des Vorsitzenden beiträgt. Frage - Übersetzung - Antwort - Übersetzung. Auf diesem Weg kommt es zwangsläufig zu Missverständnissen. Doch wo das Gericht in der Vergangenheit - etwa bei den stockenden Antworten des Hauptangeklagten Stephan Ernst während seiner Einlassung - große Geduld bewiesen hat, reagiert es an diesem Prozesstag mit Ungeduld und Unverständnis.

    Ahmed I. muss noch einiges mehr an diesem Donnerstag mitmachen. Als er die Langzeitfolgen seiner Verletzungen schildert, quittiert dies der Mitangeklagte Markus H. mit demselben Grinsen, das er seit Prozessbeginn eigentlich durchgängig auflegt. Bundesanwalt Dieter Killmer ermahnt ihn dies zu unterlassen. In einer Prozesspause empört sich auch der Anwalt der Familie Lübcke, Holger Matt, über das "skandalöse" und "ungebührliche" Verhalten von Markus H, der sein Grinsen erst abstellt, als ihm auch sein eigener Anwalt, Björn Clemens, ins Gewissen redet.

    Ahmed I. wird nicht geschont. Als er Auskunft über die körperlichen Langzeitfolgen geben soll, geht es auch um Fragen der Intimsphäre. Das dezidierte Nachfragen stößt seinem Anwalt Alexander Hoffmann übel auf. Am Vormittag noch hatte das Gericht aus Rücksicht auf die Intimsphäre des Mitangeklagten Markus H. auf die öffentliche Verlesung einer von ihm verfassten autobiographischen Schrift verzichtet. Diese Art der Sensibilität werde seinem Mandanten verweigert, beklagt Hoffmann.

    Kein besonderer Belastungseifer

    Gut fünf Stunden dauert die Vernehmung von Ahmed I. Die Verteidigung von Stephan Ernst versteift sich in ihrer Befragung auf Details früherer Vernehmungen durch die Polizei. Warum Ahmed I. in einem Gespräch mit der Polizei statt seine persönlichen Daten zu nennen, nur auf sein Krankenhausarmband gezeigt habe? Ob er der Polizei mitgeteilt habe, dass es Verständigungsschwierigkeiten mit der Dolmetscherin gäbe? Wie er den Fahrradfahrer habe wahrnehmen können, wenn er doch Kopfhörer anhatte? Warum er glaube, als Flüchtling erkennbar gewesen zu sein? Fragen, die teils ein Dutzend mal wiederholt werden und auf die Ahmed I. nur noch widerwillig antwortet. Die Stoßrichtung ist klar: Die Verteidigung Ernst will Zweifel am Wert der Aussagen des Opfers wecken und an einem rechtsextremen Motiv.

    Das Problem dabei: Es waren nicht die Aussagen von Ahmed I., welche die Ermittler auf Ernsts Spur geführt haben. Für seine Täterschaft sprechen vielmehr DNA-Spuren an einem Messer, das bei ihm gefunden wurde sowie seine eigene, merkwürdige Aussage, kurz nach den sexualisierten Übergriffen in der Neujahrsnacht 2016 in Köln, einen Migranten wüst beschimpft zu haben. Ernst hatte sogar noch das Datum dieses Vorfalls im Kopf: 6. Januar 2016. Sein Mandant, betont Rechtsanwalt Hoffmann, habe gegenüber Ernst keinen Belastungseifer an den Tag gelegt.

    Seit sechs Jahren lebt Ahmed I. in Deutschland. Sein Resumée dieser Zeit fällt extrem bitter aus: "Ich habe mein Land verlassen, um Schutz zu suchen. Aber hier ist mein Leben zerstört worden." Der Prozess wird am Dienstag, 3. November fortgesetzt.

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    Tag 24: Auf der langen Zielgeraden

    Zeichnung vom Gerichtssaal mit Richtern, Angeklagtem, Zeugen und Anwälten während des Prozesses zum Lübcke-Mord.

    Wenn es nach der Vorstellung von Thomas Sagebiel geht, dann könnte am 1. Dezember der Prozess um den Mord an Walter Lübcke zu Ende gehen. An diesem Dienstag in fünf Wochen soll nach dem Zeitplan des 5. Strafsenats am Frankfurter Oberlandesgericht das Urteil gegen Stephan Ernst und den Mitangeklagten Markus H. gefällt werden. 33 Prozesstage hätte die Hauptverhandlungen dann in Anspruch genommen.

    "Nur" möchte man als Beobachter hinzufügen, denn oft schien es so, als würde sich die Beweisaufnahme bis zum Jahresende hinziehen. Das Aussageverhalten des Hauptangeklagten, zahlreiche Befangenheitsanträge, Zeugen, die sich jedes Wort aus der Nase ziehen ließen - an Verzögerungen hat es nicht gemangelt. Nun aber zeichnet sich ab, dass der Lübcke-Prozess auf die Zielgerade eingebogen ist. Ein Endspurt dürfte es allerdings nicht werden.

    Lübcke zeigte nur Bedrohungen an

    Der 24. Prozesstag jedenfalls macht noch einmal deutlich, wie zäh sich die Beweisaufnahme in einem Strafprozess gestalten kann. Als einziger Zeuge ist mit Markus P. ein Polizeibeamter des Polizeipräsidiums Nordhessen geladen, der im Rahmen der Ermittlungen Erkenntnisse über Walter Lübcke und die beiden Angeklagten zusammengetragen hat. Es ist wenig Neues dabei. Kleine Details, die ergänzen, was die Öffentlichkeit teilweise schon vor Beginn der Hauptverhandlung wusste.

    Das Mordopfer Walter Lübcke etwa sei von seinen Mitarbeitern als "sehr transparent" und "immer zu einem Scherz aufgelegt" beschrieben worden, berichtet P. "Er galt als beliebter Chef."

    Hass zog Lübcke dann mit jener Rede auf sich, die er 2015 bei der Bürgerversammlung zur Unterbringung von Flüchtlingen in Lohfelden hielt. "Sie haben Deutsche zur Ausreise aufgefordert. Das ist Hochverrat! Die Kugel für Sie liegt schon bereit. Wir wissen wo Sie und Ihre Familie wohnen", lautete der Text einer Mail, die an Lübckes Dienstadresse geschickt wurden. Lübcke habe darauf verzichtet, Beleidigungen anzuzeigen. In sieben Fälle sei jedoch wegen Bedrohung ermittelt worden - ohne Ergebnis.

    NS-Schriften und Filme

    Detailreicher sind hingegen die Informationen, die Markus P. über die Angeklagten zusammengetragen hat. Allerdings beruht ein Großteil der Erkenntnisse über Markus H. auf Aussagen seiner Mutter. Da sie inzwischen von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht, dürfen diese vor Gericht nicht verwendet werden. Die Inhalte diverser Speichermedien, zahlreiche NS-Memorabilia und Schriften, die bei H. gefunden wurden, zeichnen dennoch ein deutliches Bild von seiner Gesinnung. Das meiste allerdings war bereits Gegenstand der Beweisaufnahme.

    Nicht so bei Stephan Ernst. Auch bei ihm fanden die Ermittler rechtsextreme Literatur, Musik und Videos. Einen USB-Stick etwa, auf denen die NS-Filme "Hitlerjunge Quex" und "Jud Süß" gespeichert waren, Schriften wie die "Protokolle der Weisen von Zion" oder "Der Sieg des Judentums über das Germanentum". Eine Chatgruppe, der Ernst, sein Sohn und zwei weitere Jugendliche angehörten, trug den Namen "Ehrenband". Das Gruppenbild zeigte ein Eisernes Kreuz mit der Aufschrift "Vaterland - Ehre - Stärke".

    Zahlreiche weitere Funde deuten an, dass es mit Ernsts Distanzierung von seiner rechtsradikalen Vergangenheit nicht all zu weit hergewesen sein kann. Auch wenn Markus P. zu Protokoll gibt, dass etwa die Datensammlung über politische Gegner im Kreis Kassel, über die bereits berichtet wurde, älteren Datums sei - vermutlich aus den 00er-Jahren stammt. Für jemanden, der sich vom Rechtsradikalismus abgewandt und schon zu aktiven Zeiten "Probleme" mit dem Antisemitismus der Kameraden gehabt haben will, scheinen Ernsts Interessengebiete äußerst eng abgesteckt.

    Verteidigung kündigt weitere Beweisanträge an

    Vielmehr als zu benennen und in einigen Fällen mit äußerst vorsichtigem Vokabular einzuordnen, wie die Asservate aus dem Eigentum von Ernst und H. politisch zu verorten sind, kann Markus P. nicht. Er hat zusammengetragen, was Kolleginnen und Kollegen gesichtet haben. Einige von ihnen werden noch gehört werden. Bis zum avisierten Prozessende am 1. Dezember ist noch mehr als ein Monat Zeit. Und noch steht nicht fest, dass der Termin eingehalten wird. Stephan Ernsts Verteidigung hat bereits weitere Beweisanträge angekündigt.

    Der Prozess wird am Donnerstag, 29. Oktober fortgesetzt.

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    Tag 23: Im Jargon der Verschleierung

    Zeichnung eines mutmaßlichen Tathergangs. Im Auto sitzt Ernst, sein Gesicht ist im Autospiegel zu sehen, und blickt auf Lübckes Wohnhaus.

    Wenn man Alexander S. glauben möchte, dann hat es vor knapp sechs Jahren einen ziemlich krassen Bruch in seinem Leben gegeben. Damals, im Jahr 2014, als er aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen sein will. "Ich kann auch mit der Ideologie von damals nichts mehr anfangen", erklärt der 30-Jährige am Donnerstag vor dem Frankfurter Oberlandesgericht.

    Gemeint sind die Ideologie der NPD und der neonazistischen Freien Kräfte Schwalm-Eder. Sechs Jahre lang war Alexander S. in diesem Umfeld aktiv, war regelmäßig auf Demonstrationen unterwegs und wurde nach einem Angriff auf Besucher eines linken Jugendzentrums verurteilt. Eine prägende Zeit im Leben von Alexander S. - auch wenn er heute nichts mehr davon wissen will. Zwei seiner damaligen Kameraden müssen sich nun wegen des Mordes an Walter Lübcke vor Gericht verantworten: Stephan Ernst und Markus H.

    Gelöschte Kommunikation

    Als Alexander S. in die harte Neonazi-Szene in Nordhessen einstieg, war er fast noch ein Jugendlicher. Auch zwölf Jahre später wirkt der Software-Entwickler noch schlacksig. Ein Eindruck, der durch das legere Outfit, in dem er vor Gericht erscheint, noch verstärkt wird. S. gib sich kleinlaut. Wie ein Schüler, der in das Direktorium zitiert wird und weiß, dass ihm Ungemach droht. Allerdings steht ihm an diesem Donnerstag kein Elternteil oder Vertrauenslehrer bei, sondern ein Anwalt.

    Über die Rolle, die Alexander S. im Vorfeld des Anschlags auf Lübcke gespielt haben könnte, war bereits ausgiebig in den Medien spekuliert worden. hr-Recherchen hatten unter anderem zu Tage gefördert, dass S. mit Markus H. an scharfen Waffen trainiert hatte. Die Aufmerksamkeit der Ermittler erregte zudem ein Telefonat zwischen H. und S. am Nachmittag des 1. Juni 2019 - wenige Stunden vor dem tödlichen Schuss auf Lübcke.

    Dafür immerhin hat Alexander S. eine Erklärung parat. Bei dem Telefonat hätten sich er und H. für den nächsten Tag zu einem gemeinsamen Flohmarktbesuch verabredet. Nicht die einzige gemeinsame Unternehmung. Die Freundschaft, die in der gemeinsamen Zeit als aktive Neonazis geschlossen wurde, hielt auch nach dem vermeintlichen Ausstieg. Und Flohmarktbesuche waren nicht die einzigen gemeinsamen Aktivitäten.

    Aussage bleibt im Vagen

    Mehrfach will Alexander S. auch nach 2014 mit Markus H. politische Veranstaltungen besucht haben. Zum Beispiel Demonstrationen der AfD in Erfurt und Chemnitz. Dabei sei er auch mit Stephan Ernst in Kontakt bekommen. Mit dem geständigen Lübcke-Attentäter hatte er sich unter anderem über den Messenger-Dienst Threema ausgetauscht. Allerdings sei es dabei nur darum gegangen, dass Ernst für ihn ein Bauteil drechseln sollte, das S. für ein Studienprojekt benötigte. Dass er diesen angeblich harmlosen Chat später löschte, erklärt S. mit der emotionalen Belastung, nachdem er erfahren habe, dass Ernst für den Mord an Lübcke verantwortlich sein soll.

    Auch die deutlich ausführlichere Kommunikation mit Markus H. hat S. gelöscht. In diesen Gesprächen sei es durchaus auch um "politische Themen, gesellschaftliche Themen" gegangen, erklärt S. An konkrete Inhalte, kann er sich aber auch auf Nachfrage nicht erinnern. Auch nicht an die politische Einstellung seines Freundes. Oder an seine eigenen Aktivitäten in der Neonazi-Szene.

    S. bleib im Vagen und bedient sich dabei eines Jargons der Verschleierung. Der Nationalsozialismus firmiert bei ihm als "diese frühere Zeit", gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen - Juden etwa - habe es "eine große Ablehnung" gegeben und er selbst habe eigentlich nur an "rechten" nicht an "rechtsextremen" Veranstaltungen teilgenommen.

    Im Raum steht die Frage, wie stark S. wirklich mit seiner Vergangenheit gebrochen hat - und wie glaubhaft seine Aussage ist. Immerhin behauptet auch Stephan Ernst immer noch, sich eigentlich von seiner rechtsradikalen Vergangenheit distanziert zu haben, bevor er Walter Lübcke erschoss. Eine Anekdote ist recht bezeichnend. Als Alexander S. im Herbst 2018 an einer AfD-Demonstration teilnahm, befand er sich in Begleitung seines alten Freundes Jonas S. - einst führendes Mitglied der Freien Kräfte Schwalm-Eder.

    Hinweise auf Ausspähung

    Nachdem S. "nur mitgeteilt hat, was er musste" , wie es der Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann formuliert, wendet sich der Prozess wieder dem Hauptangeklagten Stephan Ernst zu. Genauer gesagt einer Wärmebildkamera aus seinem Besitz. Darauf war eine Aufnahme von Walter Lübckes Wohnhaus gespeichert. Ernst hatte erklärt, diese am Tatabend versehentlich angefertig zu haben.

    Das LKA Hessen war derweil zu dem Schluss gekommen, dass die Aufnahme in der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 2019 entstanden sein muss - also gut 20 Stunden vor der Tat. Demnach hätte Ernst das Wohnhaus der Lübckes bereits am Tag vor dem Anschlag ausgespäht. Dieses Ergebnis bestätigt ein Gutachter an diesem Prozesstag. Zwar war der Zeitstempel der Kamera falsch eingestellt, jedoch sei es möglich gewesen, den realen Zeitpunkt der Aufnahme zurückzuberechnen. Das Ergebnis: 1. Juni 2019, 1.02 Uhr.

    Dazu passen würde auch die Aussage der Zeugin A. Diese will am 31. Mai beobachtet haben, wie ein Kleintransporter gegen 23 Uhr gegenüber ihres Hauses in Wolfhagen-Istha parkte - nur wenige Minuten Fußweg vom Haus der Lübckes entfernt. Ein Mann mit einer Baseball-Mütze sei ausgestiegen und habe einen Rucksack mit sich geführt. Die Beschreibung des Wagens könnte zu Ernsts VW Caddy passen, ebenso die Mütze.

    Der Prozess wird am kommenden Dienstag, 27. Oktober fortgesetzt.

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    Tag 22: Indizien und Beweise

    Richter im Lübcke Prozess

    Seit knapp drei Wochen ist Markus H. wieder ein freier Mann. Am 1. Oktober hat das Oberlandesgericht Frankfurt entschieden, dass der Mitangeklagte im Lübcke-Mordprozess nach mehr als einem Jahr aus der Untersuchungshaft zu entlassen ist. Man sieht Markus H. an, dass ihm die Haftentlassung gut getan hat. Der spärliche Haarwuchs ist ordentlich auf weniger Millimeter zurechtgestutzt. Erstmals trägt er Anzug und Schlips, statt der immergleichen Kombination aus Cordhose und Polo-Hemd.

    Markus H. muss weiter an dem Prozess teilnehmen. Noch ist er vom Verdacht der Mittäterschaft beim Mord am Kasseler Regierungspräsidenten im Juni 2019 nicht freigesprochen. Doch der 5. Strafsenat hat bereits bei der Begründung der Haftaufhebung deutlich zu verstehen gegeben, dass derzeit außer der gegenteiligen Beteuerungen des Hauptangeklagten Stephan Ernst wenig bis gar nichts auf eine Tatbeteiligung von Markus H. hindeutet.

    Wie viele Indizien sind ein Beweis?

    Wenn man die Hauptverhandlung als eine Art juristisches Schauspiel begreifen möchte, dann ist Markus H. in den vergangenen Monaten zumindest aus Sicht des Senats von einer Haupt- in eine kleine Nebenrolle gerutscht. Eine Rolle, bei der er sich für den Rest des Prozesses wohl in Ruhe zurücklehnen und in Ruhe beobachten kann, wie über das Schicksal seines ehemaligen Freundes und "Kameraden" Stephan Ernst verhandelt wird. So wie an diesem 22. Prozesstag.

    Zwei Gutachter sind geladen. Im Mittelpunkt ihrer Aussagen steht derweil nicht der Mord an Walter Lübcke, sondern der mutmaßlich ebenfalls Stephan Ernst anzulastende Messer-Angriff auf den irakischen Asylbewerber Ahmed I. im Januar 2016. Bereits vor der Herbstpause des Gerichts am 1. Oktober war es um eben dieses Verbrechen gegangen. Ein Sachverständiger hatte am 1. Oktober ein ausführliches Gutachten zu DNA-Spuren an einem Messer, das in Stephan Ernsts Wohnhaus in Kassel gefunden wurde, vorgestellt.

    Grob zusammengefasst hatte der Gutachter zu Protokoll gegeben, dass er wissenschaftlich keine valide Einschätzung dazu geben kann, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Spuren von Ahmed I. stammen. Allerdings seien die DNA-Spuren wiederum so spezifisch, dass es ihn sehr wundern würde, wenn sie nicht von Ahmed I. oder einem Verwandten stammen.

    Wie dieses Gutachten zu bewerten ist, ist auch drei Wochen später naturgemäß umstritten. Während Ernsts Verteidiger Mustafa Kaplan den Beweiswert mit einem lakonischen "Wir wissen lediglich, dass wir nichts wissen" in Zweifel sieht, spricht die Generalbundesanwaltschaft davon, dass "qualitativ" der Schluss naheliege, dass die DNA-Spuren von Ahmed I. stammen. Auch Alexander Hoffmann, Anwalt des Nebenklägers Ahmed I., spricht von einem "erheblichen indiziellen Wert", der in Zusammenhang mit weiteren Indizien Beweiskraft entfalte.

    Ernsts Messer kommt in Betracht

    Eindeutigere Beweise können derweil auch die für diesen Dienstag bestellten Sachverständigen nicht liefern. Reinhard Dettmeyer, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin Gießen, hatte Ahmed I. knapp 19 Stunden nach der Tat untersucht - als die Stichwunde bereits versorgt und vernäht worden war. Eine lebensbedrohliche Verletzung habe zwar nicht bestanden, so Dettmeyer, jedoch hätte die Wunde darauf hingedeutet, dass ein bei dem Angriff ein "erheblicher Kraftaufwand" eingesetzt worden sei. Rückschlüsse auf die Art, wie die Tatwaffe geführt worden sei, seien nicht mehr möglich, betont Dettmeyer. Allerdings sprächen die glatten Wundränder für ein Messer. Die bei Stephan Ernst gefundene Stichwaffe komme wegen seiner Beschaffenheit in Betracht.

    Das zweite Gutachten des Tages beschäftigt sich derweil mit gänzlich anderen Gegenständen aus dem Besitz von Stephan Ernst: Seinen Fahrrädern. Ahmed I. hatte ausgesagt, dass ihm sich vor dem Angriff ein Unbekannter auf einem Fahrrad genähert habe. Am selben Abend hielt die Überwachungskamera an einer Gewerbeimmobilie in Tatortnähe einen Fahrradfahrer fest.

    Es sind bestenfalls Schemen, die auf der Infrarot-Aufnahme der Kamera zu erkennen sind. Umrisse, die sich aus dem dunklen Hintergrund ansatzweise herausschälen aber nicht immer erkennen lassen, wo der Fahrer anfängt und das Fahrrad endet. Das hessische Landeskriminalamt hat sich trotzdem die Mühe gemacht, die Aufnahme mit Infrarotbildern von drei Fahrrädern, die bei Ernst sichergestellt wurden, abzugleichen. Das Ergebnis ist angesichts des Aufwands ernüchternd. Bei allen dreien kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um das von der Überwachungskamera eingefangene Modell handelt.

    "Nichts genaues weiß man nicht", fasst der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel zusammen - ohne dass der Gutachter oder ein anderer Prozessbeteiligter widerspricht. Der Prozess wird am Donnerstag, 22. Oktober fortgesetzt.

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    Tag 21: Rückschlag für die Anklage

    Zeichnung von Polizist Hartmann und Justizvollzugsbeamtem im Gerichtssaal.

    Der 21. Verhandlungstag im Lübcke-Prozess begann wie erwartet: Der Strafsenat am Oberlandesgericht Frankfurt hebt den Haftbefehl gegen den Mitangeklagten Markus H. auf. Nach 15 Monaten wird H. aus der Untersuchungshaft entlassen. Während der Beisitzende Richter Christoph Koller die Gründe dafür vorträgt, schaut der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel mürrisch in den Gerichtssaal. Passt ihm die Entscheidung persönlich nicht, fällt sie ihm schwer? Lässt er sie deshalb seinen Beisitzer vortragen?

    Immerhin gilt Markus H. als beinhartes Mitglied der nordhessischen Neonazi-Szene. Mit seinem spöttischen Grinsen und Gesichtsausdruck hat er sich in der Hauptverhandlung sicher auch keine neuen Freunde gemacht. Aus juristischer Sicht muss man seine Entlassung aus der U-Haft freilich folgerichtig nennen.

    Geständnis-Wirrwarr

    Bekanntlich sagte Ernst in seiner ersten polizeilichen Vernehmung im Juni 2019, am Abend des 1. Juni alleine zu Walter Lübckes Haus in Wolfhagen-Istha gefahren zu sein und ihn erschossen zu haben, um ihn für seine liberale Haltung in der Flüchtlingsfrage zu bestrafen. Später zog er dieses Geständnis zurück (wie man weiß, auf Anraten seines zwischenzeitlichen Verteidigers Hannig). Vielmehr sei H. mit ihm gefahren und habe den Kasseler Regierungspräsidenten "versehentlich" erschossen (diese Version war wohl eine Erfindung Hannigs). Vor Gericht ließ Ernst schließlich erklären, es sei doch er selbst gewesen, der geschossen habe - in Anwesenheit des Mitangeklagten. Mit H. habe er den Plan ausgeheckt, Lübcke "eine Abreibung zu verpassen", ihn zu schlagen oder zu erschießen - auch hier gingen die Schilderungen mal in die eine, mal in die andere Richtung. H. habe ihn mindestens bestärkt in seinem Vorhaben, Lübcke anzugreifen, sagte Ernst.

    Von diesen unterschiedlichen Ausführungen, das lässt Richter Koller klar erkennen, glaubt das Gericht am ehesten oder uneingeschränkt der ersten. Hier sei Ernst auch mal emotional geworden, "und die Emotionen passten zum Geschilderten", sagt Koller, "während Ernst vor Gericht stets monoton, kontrolliert und nach Rücksprache mit seinen Verteidigern sprach - als wolle er nur Antworten geben, die für ihn günstig sind". Vor Gericht gilt das gesprochene Wort, das wird hier deutlich.

    Zu wenige Details, zu wenig Plausibilität

    Koller bemängelt, dass Ernst immer dann auffällig wenige Details nannte, wenn es um H.s angebliche Beihilfe zum Mord oder sogar Tatbeteiligung ging. Seine Schilderungen seien auch nicht schlüssig, Belege für angebliche Treffen zur Tatplanung im April und Mai 2019 nicht zu finden, H.s Handy zur Tatzeit ganz woanders eingeloggt gewesen. Dazu komme die grundsätzliche Frage, warum Ernst einen Mord gestehen sollte, den er nicht begangen habe. Unglaubwürdig, befindet das Gericht.

    Das trifft aus seiner Sicht auch auf H.s Ex-Partnerin Lisa Marie D. zu, die zweite Belastungszeugin für H.s Beihilfe - ursprünglich. Sie sagte in ihrer polizeilichen Vernehmung aus: "Markus ist der Denker, Stephan der Macher." Wie sie dann aber vor Gericht bekundete, habe sich das ganz allgemein auf die Lebensführung und den Charakter der beiden Freunde und Gesinnungsgenossen bezogen, nicht auf die Vorbereitung des Mordes an Lübcke.

    Übrig bleibt ein geringerer Vorwurf

    H. muss sich nun für einen weniger gravierenden Verstoß gegen das Waffengesetz verantworten, jedoch weiter der Hauptverhandlung beiwohnen, wie Richter Sagebiel anordnet. Die Nebenklage, die die Familie Lübcke vertritt, reagiert am Donnerstag entsetzt auf den Beschluss. Noch am Mittwoch bekundete ihr Anwalt Holger Matt, dass man Ernst dahingehend glaube, dass H. ihm geholfen und auch an der Tat beteiligt gewesen sei. Darauf deutet allerdings nichts hin.

    Auch nicht die Auswertung der DNA-Spuren am Tatort in Wolfhagen-Istha und im Erddepot in Kassel, wo Ernst unter anderem die Tatwaffe versteckte. "Haben Sie irgendwo eine Spur von H. gefunden?", fragt Sagebiel den Sachverständigen Harald Schneider. "Nein", antwortet dieser, und der Vorsitzende Richter fügt sich der Macht des Faktischen. Zumindest schaut er nicht mehr grimmig.

    Markus H. folgt der weiteren Verhandlung gelöst, entspannt wie ein zufällig hinzugelangter Zuhörer bei einem interessanten Vortrag. Bundesanwaltschaft, deren Anklage gegen H. sich quasi pulverisierte, und Nebenklage können gegen den Entschluss des Gerichts eine Beschwerde vor dem Bundesgerichtshof einlegen.

    Was DNA-Spuren belegen

    Mit gänzlich unbewegter Miene, den Blick starr nach vorne gerichtet, den Oberkörper eisern an die Rückenlehne seines Stuhls gepresst, verfolgt der Hauptangeklagte, wie der DNA-Experte schildert, wie ihm die Ermittler auf die Spur kamen im Juni 2019. Harald Schneider leitet die Abteilung DNA-Analytik im hessischen Landeskriminalamt und hat die CTA-Methode (Contact Trace Analysis) mitentwickelt. Womöglich geht er deswegen ins Detail und erläutert erst mal die Grundlagen seiner Arbeit. Andererseits hat er Recht: Es hilft beim Verstehen seiner Ausführungen, die sich um genetische Merkmalsysteme, Längenmorphysmen, Teilprofile, Minimalspuren und den Verwässerungseffekt dabei drehen.

    An Hemd und Hose des Mordopfers, so führt Schneider aus, hätten er und sein Team jeweils rund 300 Einzelspuren untersucht, indem sie mittels Klebestreifen Partikel davon abzogen. Beim Hemd ergab sich eine Spur, die nicht von Lübcke selbst stammte. Eine mutmaßliche Hautschuppe - hundertprozentig könne man das nicht bestimmen, sagt Schneider, der fortan von einem "hautschuppenähnlichen Partikel" spricht.

    Diesen weniger als einen Millimeter kleinen Partikel untersuchten die Molekularbiologen auf verschiedene genetische Merkmale, sogenannte Allele, hin. Neun von 16 möglichen waren auswertbar, eine Minimalspur, doch groß genug, um beim Abgleich mit einer Datenbank zu strafrechtlich auffällig gewordenen Menschen zu einem Treffer zu führen: Stephan Ernst. Mit ihm gab es Übereinstimmungen in fünf Genmerkmalen - ein Indiz, nicht mehr. Da Ernst eine Speichelprobe abgab, konnten noch mehr Merkmale miteinander verglichen und Zweifel ausgeräumt werden. Nur einer von theoretisch 30 Milliarden Menschen weist diese spezielle Ansammlung von Allelen auf.

    Wie kam der hautschuppenähnliche Partikel auf Lübckes in großen Teilen blutgetränktes Karohemd? Dazu sagt Schneider, der schon im Fall des "Kannibalen von Rotenburg" scheinbar Verborgenes ans Licht brachte: Um sicherzugehen, dass kein Zufallsfund vorliegt, habe sein Team weitere 150 Einzelspuren untersucht und an einer anderen Stelle des Hemds eine weitere Übereinstimmung mit Ernst gefunden. "Dies lässt einen direkten Kontakt vermuten." Der mutmaßliche Mörder hat sein Opfer wohl angefasst.

    Grenzen der DNA-Analytik

    So gewiss die zwei Hautschuppen auf Lübckes Hemd und die Spuren an der mutmaßlichen Mordwaffe auf Ernst hindeuten, so gewiss kann Schneider das bezüglich der Messerattacke auf den irakischen Flüchtling Ahmed E., die in dem Verfahren noch verhandelt werden wird, nicht sagen. Noch nicht mal wahrscheinlich. Einen Wert anzugeben, wie wahrscheinlich Ernst auch hier der Täter war, verbiete sich in seinem Berufsstand angesichts einer derart schwachen DNA-Spur wie auf einem Klappmesser aus dem Keller des Hauptangeklagten. Und es wäre vor Gericht anfechtbar. Darauf beharrt Schneider, so sehr die Richter und der Oberstaatsanwalt auch um eine quantitative Einschätzung bitten.

    An dem Messer hafteten zwei recht seltene genetische Merkmale, die auf einen Iraker hindeuten, führt Schneider aus. Bei allen 16 untersuchten Merkmalssystemen habe er nicht ausschließen können, dass die DNA-Spur von Ahmed E. oder einem sehr nahen Verwandten stammt. Es würde ihn sehr wundern, wenn die DNA von einem anderen stamme, "denn dann wäre zu erwarten gewesen, dass wir ihn bei einem System ausschließen könnten". Aber eine Festlegung auf Ahmed E. erlaube die Spur auch nicht, dazu könne er sie zu wenig auswerten, so Schneider, der sich nach eigener Aussage in den vergangenen sechs Tagen mit nichts anderem beschäftigte als dieser Minimalspur.

    Der Prozess wird nach den hessischen Herbstferien am 20. Oktober fortgesetzt.