Nach knapp vier Jahren am Landgericht Gießen Lebenslänglich im Prozess um Mord ohne Leiche gefordert
Nach 120 Verhandlungstagen nähert sich in Gießen ein Mammutprozess dem Ende. Zwei Männer sollen 2016 in Hungen einen Bekannten ermordet haben. Sie beschuldigen sich gegenseitig. Die Leiche fehlt bis heute.
Endlich. Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen, die Plädoyers von Anklage und Nebenklage sind gehalten. Der wohl längste Prozess, der je vor dem Landgericht Gießen verhandelt wurde, steht vor dem Abschluss. Auch hessenweit sucht das außergewöhnliche Verfahren seinesgleichen.
Vor Gericht stehen der 48 Jahre alte Mathelehrer Olaf C. aus dem Main-Kinzig-Kreis und der 44 Jahre alte IT-Spezialist Robert S. aus dem Main-Taunus-Kreis. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, gemeinschaftlich einen Mord in Hungen (Gießen) begangen zu haben.
Das mutmaßliche Opfer, der damals 39 Jahre alte Daniel M., wird seit 2016 vermisst. Im Plädoyer forderte die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld für beide. Am Freitag wird die Verteidigung ihre Plädoyers halten. Ein Urteil wird Mitte Februar erwartet.
Zwei Männer, keine Leiche und gegenseitige Schuldzuweisungen
Das Besondere an dem Fall: Die Staatsanwaltschaft ist sich sicher, dass Daniel M. per Kopfschuss getötet wurde. Auch die Angeklagten räumen das ein. Allerdings beschuldigen sie sich gegenseitig. Wer geschossen hat und wo die Leiche ist, bleibt bis heute ungeklärt - auch nach fast vier Jahren Prozess.
Seinen Anfang nahm der Fall am 17. November 2016: Die Studienfreunde Olaf C. und Robert S. fuhren gemeinsam Richtung Hungen. Mit dabei war Daniel M. aus Hanau (Main-Kinzig), ein Jugendfreund von Olaf C.
Ziel war eine Hofreite, die Robert S. gehört. Was die drei Männer genau dort wollten, ist bis heute ungeklärt. Fest steht aber, dass sie gemeinsam dorthin fuhren. Und, dass Daniel M. seitdem verschwunden ist.
Vom Vermisstenfall zur Mordermittlung
Zunächst galt der Fall als normaler Vermisstenfall. Jahrelang suchten die Eltern von Daniel M. nach ihm, auch Olaf C. beteiligte sich an der Suche. Fast vier Jahre lang fehlte jede Spur, bis sich Olaf C. im Sommer 2020 an die Polizei wandte.
Er gab an, Daniel M. sei damals auf der Hofreite erschossen worden - und zwar von Robert S. Dieser habe ihn selbst bedroht und gezwungen, bei der Tatortreinigung zu helfen. Aus Angst vor Robert S. habe er jahrelang geschwiegen.
Leiche im Starnberger See?
Robert S. räumte schließlich ein: Ja, Daniel M. sei tot. Er gab zu, die Leiche zerstückelt und im Starnberger See versenkt zu haben. Aber: Geschossen habe er nicht.
Taucher suchten den See in Bayern monatelang ab, auch mit den Angeklagten waren die Ermittler vor Ort. 180 Tauchgänge wurden durchgeführt, doch gefunden wurde nichts - nur ein leerer Eimer.
Später wurde auf Antrag der Nebenklage auch der Sachsensee in Hungen-Bellersheim durchsucht. Aber auch hier blieb die Suche ohne Ergebnis. Bis heute fehlt von der Leiche jede Spur, genauso wie von der Tatwaffe.
Motiv unklar
Auch Motiv und Hintergründe bleiben weiterhin undurchsichtig. Im Prozess war die Rede von einem möglichen Swingerclub, den man auf der Hofreite gründen wollte, von der Idee einer Cannabisplantage in der Scheune und von Verstrickungen in kriminelle Milieus. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist das alles unglaubwürdig.
Die Angeklagten hatten aber wohl gemeinsame "Hobbys": Schießen, ins Bordell gehen und Immobilien verkaufen. Ein verurteilter Drogenhändler sagte im Prozess aus, er habe Olaf C. ein knappes Jahr vor der Tat eine Waffe mit Schalldämpfer verkauft. Der Mathelehrer wiederum habe ihm zehn Kilo Kokain verkauft, behauptete er.
Reiner Indizienprozess
Im Laufe der fast vierjährigen Verhandlung ging es unter anderem um blutbefleckte Klamotten, Tagebucheinträge und Internetsuchverläufe. Es war ein reiner Indizienprozess.
Auch schwarze Handschuhe mit DNA-Spuren wurden analysiert. Aber passten sie den Angeklagten überhaupt? Sogar Handabdrücke nahmen die Ermittler.
Über hundert Anträge hatte die Verteidigung gestellt. Mehr als 70 Zeugen sagten aus. Und auch die Angeklagten selbst hatten viel zu erzählen. Zunächst ließ sich nur Olaf C. zu den Vorwürfen ein. Zwei Jahre nach Prozessauftakt begann dann auch Robert S. zu reden, und zwar äußerst ausführlich.
Vor Gericht führte er etwa detailliert aus, wie man die Leiche zerlegt, teilweise in Plastikeimer einbetoniert und schließlich versenkt habe. Aber beide blieben bei ihrer Version: Der jeweils andere habe geschossen.
"Vor Widersprüchen nur so trotzend"
"Filmreif", nannte der Oberstaatsanwalt die Schilderungen im Plädoyer. Aber auch: vor Widersprüchen nur so trotzend.
Die Staatsanwaltschaft geht mittlerweile davon aus, dass das Ganze wohl eine Entführung mit Lösegeldforderung werden sollte. Denn das Opfer kam aus einem wohlhabenden Elternhaus und hatte 380.000 Euro auf dem Konto.
Laut Oberstaatsanwalt sollen beide die Tötung vorab geplant und sie heimtückisch begangen haben. Im Plädoyer heißt es: Olaf C., der vom Gutachter im Prozess als empathielos mit psychopathischen Zügen beschrieben wurde, habe dem Opfer schließlich von hinten in den Kopf geschossen. Ob auch Robert S. geschossen habe, darauf komme es nicht an. "Beide sind Mittäter."
"Wir wollen unseren Sohn endlich beerdigen"
Die Eltern des mutmaßlichen Opfers schlossen sich als Nebenkläger der Forderung der Staatsanwaltschaft an. Der Vater von Daniel M., der fast den ganzen Prozess lang anwesend war, plädierte erneut an die Angeklagten, den Fundort der Leiche zu nennen.
"Wir wollen unseren Sohn endlich beerdigen", teilte er über seinen Anwalt mit. "Wir brauchen einen Ort zum Trauern."
Robert S. grinste während der Plädoyers immer wieder. Olaf C. schrieb eifrig mit.