Mordprozess um getötete 14-Jährige "Irgendwas war los" - Mutter sorgte sich schon Wochen vor der Tat um Ayleen
Im Prozess um den gewaltsamen Tod der Schülerin Ayleen hat die Mutter der 14-Jährigen vor dem Gießener Landgericht ausgesagt. Sie berichtet: Schon Wochen vor der Tat habe sie Wesensveränderungen an ihrer Tochter bemerkt.
Sie müsste das nicht tun. Ziemlich am Anfang des Prozesses war sie schon mal als Zeugin erwartet worden, hatte aber abgesagt und ein ärztliches Attest vorgelegt. Auch dieses Mal hat sie ein Attest dabei. Aber sie will an diesem Mittwochmorgen vor dem Gießener Landgericht aussagen, im Mordprozess um ihre eigene Tochter.
Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass Ayleens Mutter ihre Tochter das letzte Mal sah. Sie gilt als letzter "Lebendkontakt", wie es vor Gericht heißt.
Ihre Aussage ist wichtig: Einerseits für die Tatrekonstruktion, andererseits aber auch, um mehr darüber zu verstehen, was in dieser 14-Jährigen möglicherweise vorging. Warum sie sich auf die Chats mit einem mehr als doppelt so alten Mann einließ, der sie schrittweise immer mehr unter Druck setzte und schließlich sogar zu einem persönlichen Treffen brachte.
Mutter hat sich auf Zeugenaussage vorbereitet
Als die Mutter, eine zierliche blonde Frau ganz in schwarz, den Saal betritt, wird es noch stiller im Raum, als es ohnehin schon in der oft gedrückten Stimmung bei Gericht ist.
Die Mutter hat sich auf diesen Tag vorbereitet. Sie hat sich Bilder zeigen lassen vom großen Saal im Gießener Landgericht, in dem der Mordprozess stattfindet. Wo wird die Richterin sitzen? Wo die Anwälte? Wo sie selbst?
Und natürlich hat sie sich auch auf ihn vorbereitet: den Angeklagten Jan P. Den Mann, der ihre 14-jährige Tochter Ayleen vor einem Jahr aus ihrem Heimatdorf Gottenheim (Baden-Württemberg) nach Mittelhessen gebracht und hier getötet haben soll.
Die Mutter hat sich von ihrer Anwältin genau beschreiben lassen, wie P. sich bisher im Prozess verhalten hat: weitgehend regungslos, fast als wäre er unbeteiligt. Sie hat auch die Anklageschrift gelesen und weiß, was P. über die Tat und ihre eigene Familie behauptet. Und sie hat sich Videos aus der Ermittlung angeschaut, auf denen P. zu sehen ist.
Nun begegnet sie ihm aber das erste Mal persönlich.
Ruhig und gefasst während der Aussage
Die Mutter setzt sich neben ihre Anwältin, die sie im Prozess als Nebenklägerin vertritt. Auf ihrer anderen Seite nimmt ein Begleiter Platz. Er wird als Vertreter der Opferberatungsstelle Weißer Ring vorgestellt.
Schon am Anfang kommen der Mutter die Tränen. Doch dann fasst sie sich. Es ist, als würde sie für diese 50 Minuten Zeugenaussage eine Art Schalter umlegen - und einfach durchziehen. Mit ruhiger Stimme beschreibt sie schließlich, wie sie ihr Kind und den 21. Juli 2022 in Erinnerung hat.
"Irgendwas ist los"
Ayleen sei es an diesem Tag nicht gut gegangen, berichtet die Mutter. "Als wir mittags telefoniert haben, war sie ganz weinerlich", erzählt sie. Ayleen habe das Mittagessen nicht gemocht, sie habe Döner holen wollen.
Irgendwas ist los - das habe sie damals schon gedacht, berichtet die Mutter. "Aber ich dachte, es wäre was in der Schule, vielleicht mit einem Lehrer."
Dass es ihrer Tochter nicht gut geht, das habe sie in den Wochen davor öfter gedacht. Die ohnehin schon schüchterne und zurückhaltende Ayleen habe sich in dieser Zeit immer mehr in sich zurückgezogen: Antriebslos habe sie gewirkt, kaum noch gelacht und gesprochen.
"Sie saß immer so zusammengesunken am Tisch", macht die Mutter vor. "Das kam mir komisch vor." Beim Spazierengehen habe sie nicht mehr geredet und sich am Badesee nicht mehr in Badekleidung zeigen wollen.
Natürlich habe sie gefragt, was denn los sei, erzählt die Mutter. Aber Ayleen habe nichts erzählen wollen.
Soziale Medien zu Hause Thema
Dass die 14-Jährige in dieser Zeit bereits mit dem Angeklagten intensiv über verschiedene Apps in Kontakt stand und ihm fast täglich Nachrichten und Bilder mit sexuellem Inhalt schickte - davon habe weder sie noch irgendjemand sonst in der Familie etwas geahnt.
Soziale Medien seien zu Hause durchaus thematisiert worden, erzählt die Mutter. Sie habe gewusst, dass Ayleen auf TikTok und Instagram Follower hatte und Menschen, die sie nicht persönlich kannte, plötzlich "Freunde" nannte. "Nur weil du mit so jemandem Kontakt hast, kennst du die Person doch nicht", habe die Mutter dazu gesagt.
Erst wenige Wochen vor ihrem Verschwinden habe sie mit Ayleen noch über mögliche Gefahren des Internets gesprochen. Denn: Ayleen hatte einen jungen Mann aus Kassel kennengelernt, der sie im Juli besuchen wollte. "Aber das wollten wir nicht", erzählt die Mutter. "Nachher ist das ein Krimineller, hab ich zu ihr gesagt." Heute wisse sie, dass der Mann wohl harmlos war. Aber Ayleen sei wütend über das Verbot gewesen.
Ayleen war wenig selbstständig
Insgesamt beschreibt die Mutter das Leben ihrer Tochter als behütet und dörflich. Die Patchworkfamilie hat insgesamt zehn Kinder, manche Geschwister sind schon ausgezogen, haben zum Teil eigene Kinder und leben in der Umgebung.
Ayleen war aus Sicht ihrer Mutter weniger selbstständig als viele Altersgenossen: Die 14-Jährige wäre niemals allein mit dem Zug in die Stadt oder mit dem Fahrrad ins Nachbardorf gefahren, berichtet sie. Freundinnen hätten eher bei ihr übernachtet als sie bei ihnen. Zum Zeitungaustragen im Dorf sei immer sie selbst mitgegangen, zum Dönerladen oder zum Bäcker der jüngere Bruder.
Verschwinden war untypisch
Als Ayleen dann am Nachmittag des 21. Juli einem Nachbarsjungen einen in der Schule vergessenen Pulli rüberbringen wollte, habe die Mutter sie sogar ermutigt. "Ayleen, du schaffst das", habe sie gesagt. Danach wollten sie eigentlich gemeinsam Schuhe kaufen gehen.
Als ihre Tochter dann nicht wie abgemacht direkt zurückkam, sei das von Anfang an äußerst untypisch gewesen. Die bruchstückhaften, zusammenhangslosen Nachrichten, die sie in den kommenden Stunden noch an ihre Mutter und ihren Bruder schickte, seien ihr direkt merkwürdig vorgekommen. Heute frage sie sich, ob Ayleen diese Nachrichten womöglich nicht freiwillig oder gar nicht selbst verfasst habe.
Als die Aussage vorbei ist, kommen auch die Tränen zurück. Den Angeklagten blickt die Mutter erst ganz am Ende direkt an, als ihm wieder die Handschellen angelegt werden und er abgeführt wird. Jan P. selbst wirkt auch an diesem Prozesstag mehr wie ein Beobachter als ein Beteiligter.
Mutter will mit Aussage auch aufklären
Die Anwältin der Mutter berichtet danach: Insgesamt setze das Verfahren der Familie sehr zu. Es sei ihrer Mandantin äußerst schwer gefallen, zum Prozess zu erscheinen. Aber: Sie habe sich ganz bewusst dafür entscheiden, ihre Aussage zu machen. Sie wolle alles tun, was sie noch für ihre Tochter tun könne - und um dafür zu sorgen, dass Jan P. zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe mit Sicherungsverfahrung verurteilt werde, wie es Staatsanwaltschaft und Nebenklage fordern.
Aber sie wolle auch aufklären. Über die Gefahren, die es im Internet für junge Menschen gibt. Und darüber, dass das, was Ayleen passiert ist, nicht nur dann passieren kann, wenn Kinder vernachlässigt werden - sondern auch in ganz anderen Familien.
Sendung: hr-iNFO, 19.7.23, 13 Uhr
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