Obdachlosen-Mordprozess in Darmstadt Vier Minuten Blutrausch
Am dritten Tag des Mordprozesses nach dem Tod eines Obdachlosen in Darmstadt werden im Gerichtssaal die Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Tatnacht gezeigt. Das Ausmaß der Gewalt ist schwer zu ertragen.
Fast regungslos und mit stoischem Blick schaut der 15 Jahre alte Angeklagte auf die Leinwand. Den Kopf hat er auf seine gefalteten Hände gestützt, die seinen Mund verdecken. Was er in Saal 3 des Darmstädter Landgerichts sieht, ist mit Worten kaum zu beschreiben.
Es sind vier Minuten zügelloser Gewalt. Ein Jugendlicher in einer dunklen Jacke mit weißem Fellkragen rennt auf dem Luisenplatz auf einen Mann zu, stößt ihn zu Boden und tritt ihm dann unzählige Male mit ungebremster Wucht gegen den Kopf. Mal trifft er den Kopf von der Seite, mal holt er aus und tritt dem Opfer von oben ins Gesicht – dann schlägt er mit geballten Fäusten auf den Mann ein.
Ungebremste Gewalt
Für wenige Sekunden versucht sich das Opfer noch wegzudrehen, bleibt dann aber regungslos am Boden liegen. Keine Gegenwehr, keine Abwehrbewegungen. Der Täter wirkt wie im Blutrausch. Manchmal hält er für Sekunden inne, nur um sich dann noch wütender auf das Opfer zu stürzen. Als die Polizei eintrifft, schaltet er blitzschnell um und tut so, als würde er sich um den Verletzten kümmern.
Die Aufnahmen stammen aus Überwachungskameras, mitgebracht hat sie ein ermittelnder Polizeibeamter. Bei dem Opfer handelt es sich um den 57-jährigen Obdachlosen Andreas N., der am 16. November 2023, einen Tag nach der Tat, seinen schweren Verletzungen erlag. Der Täter ist mutmaßlich der 15-jährige Angeklagte, der die Tat bei Prozessauftakt bereits gestanden hat. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Jungen Mord aus niederen Beweggründen vor.
Das am Montag gezeigte Video ist eines der zentralen Beweismittel der Anklage. Obwohl die Details der Tat bereits bekannt waren – exakt 87 Mal trat und schlug der Täter auf den Obdachlosen ein – trifft das Ausmaß der gezeigten Brutalität viele der Anwesenden im Gerichtssaal und auf den Zuschauerplätzen mit Wucht. Durch das Fehlen von Ton wirken die Aufnahmen noch intensiver. "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagt ein Zuschauer in einer Pause an diesem dritten Prozesstag. "Heute Nacht werde ich sicher schlecht träumen."
Bruder sichtlich geschockt
Während der 15-Jährige die Aufnahmen der Tat, die er begangen haben soll, ohne sichtbare Reaktion verfolgt, steht seinem Bruder, der zum ersten Mal mit den Bildern konfrontiert wird, der Schock ins Gesicht geschrieben. Mehrmals dreht er sich zum Angeklagten um, sucht den Blickkontakt, schüttelt immer wieder den Kopf. Das hat er so wohl nicht erwartet.
Der 18-Jährige war in der Tatnacht mit seinem kleinen Bruder unterwegs, an der tödlichen Tat war er aber nicht beteiligt. Zu diesem Zeitpunkt lag er sturzbetrunken auf einer Bank, den Angriff hat er nicht mitbekommen. Er sitzt auch im Gerichtssaal, weil ihm vorgeworfen wird, zusammen mit seinem Bruder wenige Minuten vor dem mutmaßlichen Mord den Obdachlosen ausgeraubt zu haben.
Andreas N. starb einen Tag nach der Tat im Krankenhaus. Die Bilder, die die Gerichtsmedizinerin im Anschluss an die Vorführung des Videos zeigt, sind nicht weniger schwer zu ertragen. Das rot und blau verfärbte Gesicht des Opfers ist bis zur Unkenntlichkeit zugeschwollen. Die Medizinerin berichtet von Einblutungen in mehreren Bereichen des Gehirns, von zahlreichen Brüchen, im Magen des Opfers wurde ein Zahn gefunden.
Allein die Ausführung zu allen Verletzungen, die N. bei dem Angriff erlitt, dauert quälend lange zehn Minuten. Tödliche Verletzungen, wie sich herausstellte.
Gerichtsmedizinerin hält Täter für schuldfähig
Da der 15-Jährige die Tat bereits gestanden hat, geht es für Richter Marc Euler im Prozessverlauf vorrangig darum festzustellen, ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt voll schuldfähig war. Alkohol- und Drogenkonsum spielen dabei eine Rolle, zumindest soll er beides laut Bluttests im Vorfeld des Mordes konsumiert haben. Die Gerichtsmedizinerin gab dazu eine klare Einschätzung ab: "Ich sehe keinen Hinweis auf eine Schuldunfähigkeit.
Dem Angeklagten drohen selbst nach Jugendstrafrecht bis zu zehn Jahre Gefängnis. Den 18-Jährigen dürfte eine deutlich mildere Strafe erwarten, hier muss das Gericht aber noch entscheiden, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewandt wird.
Für den Prozess vor der Jugendkammer hat das Gericht noch zwei weitere Verhandlungstage angesetzt, das Urteil wird am 4. Juli erwartet.
Sendung: hr1, 24.06.2024, 14:30 Uhr
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