Prozess gegen Narkosearzt Tod der kleinen Emilia: Warnsignale blieben bei Behörden lange folgenlos

Bevor die vierjährige Emilia 2021 in einer Kronberger Zahnarztpraxis starb, war der zuständige Narkosearzt bereits auffällig. Immer mehr seiner Patienten melden sich zu Wort. Behörden wussten um Probleme, ließen den Arzt aber offenbar lange gewähren.

Ein Mann, dessen Gesicht verpixelt ist, steht neben seinem Rechtsanwalt vor einem Tisch im Gerichtssaal.
Der Angeklagte soll der verstorbenen Vierjährigen ein verschmutztes Narkosemittel verabreicht haben. Bild © Imago Images
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Im Oktober 2019 suchte Jessica Steinbacher eine Zahnarztpraxis in Bensheim (Bergstraße) auf. Eine Kiefer-OP stand an. Und der Anästhesist, unter dessen Händen zwei Jahre später in Kronberg (Hochtaunus) die kleine Emilia sterben sollte, war für die Narkose zuständig.

Das alles stand der 25-Jährigen plötzlich wieder vor Augen, als sie ihn Mitte August in der Hessenschau als Angeklagten wiedersah: "Als ich den Bericht gesehen habe, kam meine Geschichte mit ihm sofort wieder hoch."

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Die junge Frau aus Lindenfels (Bergstraße) erinnert sich nicht an jedes Detail. Sie habe seit der Narkose Kopfschmerzen und große Gedächtnislücken. Ihre Mutter und ihr Freund erinnern sich dagegen gut. Sie schildern dem hr die dramatischen Stunden und Tage.

Erst Kiefer-OP, dann Organversagen

Jessica sei aus der Praxis entlassen worden, ohne richtig bei Bewusstsein zu sein, sagt Lebensgefährte Andy Knapp. Auf dem Weg nach Hause habe sie Blut erbrochen "Als sie hier die Treppe raufkam, sah sie aus wie der leibhaftige Tod", erinnert sich Steinbachers Mutter Gabriele.

Noch in der Nacht rief sie den Rettungswagen. Doch die Ärzte der Klinik in Heppenheim konnten gegen die schwere Blutvergiftung ihrer Tochter nichts tun. Jessica Steinbacher kam mit Multiorganversagen in die Heidelberger Uniklinik. Dort retteten ihr die Ärzte das Leben.

Am Frankfurter Landgericht geht es um die Geschehnisse in einer Zahnarztpraxis in Kronberg im September 2021 – als die vierjährige Emilia starb und fünf andere narkotisierte Patienten, vier Kinder und eine junge Erwachsene, schwer krank wurden.

Seit Beginn des Prozesses melden sich immer mehr Patienten bei Gericht und Medien. Sie berichten über gesundheitliche Probleme nach Narkosen des angeklagten Anästhesisten. Auch Behörden wussten um Anschuldigungen gegen den Mediziner - und zwar schon vor Emilias Tod.

Anzeige, Vernehmung, Freispruch

Der Fall von Jessica Steinbacher kam im Prozess in Frankfurt bislang nicht vor. Sie hat inzwischen mit der Vorsitzenden Richterin Anke Wagner gesprochen. Ob das fürs Verfahren noch relevant wird, ist offen.

Mutter und Tochter Steinbacher gingen Ende 2019 zur Polizei und erstatteten Strafanzeige gegen den Narkosearzt und den Betreiber der Praxis. Unter Leitung der Staatsanwaltschaft Darmstadt vernahm die Polizei Zeugen.

Es wurden medizinische Gutachten in Auftrag gegeben, um herauszufinden, was damals geschehen war. Ende 2022 wurden die Ermittlungen eingestellt. Belastendes wurde nicht gefunden. Die Ärzte gelten als unschuldig.

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Hätten sie damals meine Tochter ernst genommen, könnte das Kind noch leben. Zitat von Gabriele Steinbacher, Mutter von Narkosepatientin Jessica
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Einer der Gründe das Verfahren einzustellen: Laut Staatsanwaltschaft war nicht auszuschließen, dass Steinbacher ihre Sepsis selbst verursacht habe, indem sie sich "mit verunreinigten Händen in oder an den Mund fasste".

Jessicas Mutter geht seitdem ein Gedanke nicht mehr als dem Kopf: "Hätten die damals meine Tochter ernst genommen, könnte das Kind noch leben."

Geldstrafe nach Tod einer Patientin

Bekannt ist, dass der Narkosearzt ein halbes Jahr vor Emilias Tod im September 2021 vom Amtsgericht Mannheim wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt worden war. In diesem Fall ging es um den Tod einer Frau in Mannheim, die er 2019 für eine Zahn-OP narkotisiert hatte.

Laut Urteil hatte der Narkosearzt damals eine fehlerhafte Blutdrucksenkung durchgeführt, was zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand führte. Wie im Fall Emilia hatte er zu spät den Notarzt gerufen. Die Patientin konnte reanimiert werden. Aber wegen des irreparablen Hirnschadens wurden nach kurzer Zeit die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet.

Der Strafbefehl wegen Fahrlässiger Tötung wurde Ende 2021 rechtskräftig – nur ein paar Wochen nach dem Tod der kleinen Emilia in Kronberg.

Durch den Frankfurter Prozess kamen zwei weitere Fälle ans Licht. Ein Mann und eine Frau erfuhren von dem Strafverfahren und meldeten sich beim Landgericht. Das Darmstädter Echo berichtete über ihre Zeugenaussagen. 

Weitere Fälle kommen ans Licht

Der Mann von der Bergstraße erlitt demnach 2011 nach einer Narkose durch den Arzt eine schwere Blutvergiftung und musste eine Woche ins Künstliche Koma versetzt werden. Eine Frau aus Worms wäre 2020 nach einer Narkose des Arztes beinahe gestorben.

Im Prozess vor dem Landgericht Frankfurt sagte die Frau aus, sie habe von einer Anzeige abgesehen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass der Anästhesist noch einmal so fahrlässig handeln würde. Wie die Kronberger Fälle zeigen, hat sie sich damit offenbar getäuscht.

Nach Informationen des hr hat auch die Staatsanwaltschaft Mainz gegen den Narkosearzt ermittelt. Der Vorwurf: Er habe dort im September 2021 beim Zahnarzt ein Kind fixiert und gewürgt, das sich gegen die Narkose gewehrt haben soll – im selben Monat also, in dem Emilia starb.

Elf Patienten klagen über Folgeschäden

Die Staatsanwaltschaft Mainz erklärt auf hr-Anfrage, die Vorwürfe hätten sich nicht erhärten lassen. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Damit gilt der Arzt in diesem Fall als unschuldig.

Insgesamt haben in den letzten Jahren elf seiner Patientinnen und Patienten über Folgeschäden geklagt. Neun Fälle bekamen ein juristisches Aktenzeichen. Über sechs davon verhandelt das Frankfurter Landgericht.

Emilia und drei weitere Kinder narkotisierte der Bensheimer Anästhesist am 28. September 2021, zwei weitere Fälle davor und danach werden mitverhandelt. Auch das, was in Mannheim, Bensheim und Mainz passiert war, hatte ein juristisches Nachspiel.

Hätten Behörden Emilias Tod verhindern können?

Nach Angaben von Staatsanwältin Stella König wurde die Approbation des Narkosearztes im Frühjahr 2021 widerrufen. Laut Bundesärzteordnung geschieht das, wenn sich jemand als unwürdig erwiesen hat, den Arztberuf auszuüben, oder wenn er als zu unzuverlässig eingeschätzt wird, dies in Zukunft angemessen zu tun. So sollen Patienten vor Gefahren geschützt werden.

In Hessen ist für den Widerruf der ärztlichen Zulassung das Landesamt für Gesundheit und Pflege (HLfGP) zuständig. Wer dort zum Fall des Bensheimer Narkosearztes nachfragt, braucht Geduld. Wann genau und warum seine Approbation widerrufen wurde, erfährt man nicht.

"Unser Verwaltungshandeln ist Bestandteil des gesamten Ermittlungsverfahrens gegen den Beschuldigten, sowohl des abgeschlossenen als auch des noch laufenden", schreibt die Landesbehörde. Man sei daher nicht auskunftspflichtig.

Approbation widerrufen, aber nicht kassiert

Ob der Behörde neben dem Mannheimer Todesfall noch weitere Erkenntnisse über Fehlverhalten vorlagen, bleibt unklar. Mindestens der Fall Jessica Steinbacher aus Bensheim hätte dem Landesamt lange vor Emilias Tod bekannt sein können. Dafür hätte eine schlichte polizeiliche Abfrage genügt.

Dass die Approbation des Anästhesisten von der Bergstraße allein wegen des Mannheimer Todesfalls widerrufen wurde, hält Tim Neelmeier, Richter für Medizinrecht in Schleswig-Holstein, für so gut wie ausgeschlossen: "Da sind wir immer noch im Bereich des ärztlichen Kunstfehlers und dafür bekommt kein Arzt verboten, in seinem Beruf weiterarbeiten zu dürfen."

Wenn Menschenleben gefährdet werden, kann die Behörde ein Arbeitsverbot aussprechen, das auf der Stelle gültig ist. Dieser Sofortvollzug ist an hohe Hürden geknüpft. Ein halbes Jahr vor Emilias Tod sah das Landesamt keine Notwendigkeit, die Zulassung sofort zu kassieren.

Zwei Ermittlungsbehörden, kein Austausch

Was den Fall Steinbacher angeht, wirft auch der fehlende Austausch beteiligter Behörden Fragen auf. Die Staatsanwaltschaften in Darmstadt und Frankfurt ermittelten zeitgleich gegen den Narkosearzt aus Bensheim, tauschten sich aber nicht aus.

Auf hr-Nachfrage erklärte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt, der damals zuständige Dezernent habe keine Erinnerung mehr daran, ob die Ermittlungen gegen den Arzt in Frankfurt bekannt gewesen seien. Das spiele auch keine Rolle, denn jeder Fall müsse für sich betrachtet werden.

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Patientenschutz funktioniert nicht ausreichend. Zitat von Tim Neelmeier, Richter für Medizinrecht
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Bei Richter Neelmeier sorgt das für Kopfschütteln: "Wenn noch im Nachhinein unzureichende Ermittlungsmaßnahmen und ein mangelnder Informationsaustausch mit einer angeblich gebotenen Einzelfallbetrachtung gerechtfertigt werden, zeigt das, warum Patientenschutz nicht ausreichend funktioniert."

Es fehle der Strafjustiz noch immer an Bewusstsein, dass Ärzte aus wirtschaftlichen Gründen systematisch Patientengefährdungen in Kauf nähmen, so Neelmeier.

Verteidiger schweigt zu neuen Fällen

Der Strafverteidiger des Narkosearztes, Olaf Langhanki, will zu den neuen Fällen nichts sagen. Er werde "Stellungnahmen und Erklärungen ausschließlich gegenüber dem Gericht in dem dafür vorgesehenen prozessualen Rahmen abgeben."

Redaktion: Malena Menke

Sendung: hr1,

Quelle: hessenschau.de