Reichsbürger-Prozess gegen Gruppe Reuß: Der lange Weg zur Wahrheit
Seit einem halben Jahr läuft der Reichsbürger-Prozess um Prinz Reuß und seine Mitangeklagten - ein Ende ist nicht in Sicht. Zwischen akribischer Beweisaufnahme und langwierigen Aussagen zieht sich das Verfahren, während zentrale Fragen weiter offen bleiben.
Einer der größten Prozesse der deutschen Justizgeschichte findet am Stadtrand von Frankfurt statt. Der für die Hauptverhandlung errichtete provisorische Gerichtsbau erinnert an eine Lagerhalle, hochgezogen auf einer Brachfläche zwischen einer Druckerei und einem fensterlosen Rechenzentrum im Sossenheimer Gewerbegebiet. Vom einen Ende der Straße dröhnt die Autobahn herüber, am anderen Ende beginnt die Nachbarstadt Eschborn (Main-Taunus).
Hinter der provisorischen Gerichtshalle befinden sich spezielle Container. Hier kommen die Angeklagten an, warten auf den Beginn der Verhandlung. Wenn es soweit ist, wird jeder von ihnen von zwei Polizisten in den Sitzungssaal geführt. Erst wenn sie sitzen, weichen die Beamten von ihrer Seite.
Seit gut einem halben Jahr geht das so, mal einmal, meistens zweimal die Woche. Es dauert eine Weile, bis alle neun Angeklagten und alle ihre Verteidigerinnen und Verteidiger Platz genommen haben. Dass es nur langsam vorangeht, ist Standard im Frankfurter Reichsbürger-Prozess.
Drei Prozesse, 26 Angeklagte
Am 21. Mai begann die Hauptverhandlung gegen neun Mitglieder der sogenannten Patriotischen Union, die in den meisten Medienberichten und selbst in den Verlautbarungen der Anklage meist nur als Gruppe Reuß firmiert. Zwei weitere Prozesse laufen parallel in München und Stuttgart. Insgesamt sind nicht weniger als 26 Personen der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung sowie der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens angeklagt.
Im Sossenheimer Gerichtsprovisorium sitzt jener Teil der mutmaßlichen Verschwörer, die nach Ansicht des Generalbundesanwalts die Spitze des geplanten hochverräterischen Unternehmens bildeten. Der Prominenteste unter ihnen: Heinrich XIII. Prinz Reuß. Den Angeklagten wird vorgeworfen, ab Mitte 2021 den Sturz der bestehenden staatlichen Ordnung in Deutschland geplant zu haben.
Ziel sei es gewesen, an einem nicht näher definierten Tag X mit einer bewaffneten Truppe den Bundestag zu stürmen und Parlamentarier zumindest festzunehmen. Dass dabei Menschen getötet werden könnten, sei von der Gruppe bewusst in Kauf genommen worden, so die Anklage.
Parallel zu den militärischen Planungen habe die Führungsspitze um Prinz Reuß - der sogenannte Rat - Grundzüge einer neuen politischen Ordnung für die Zeit nach dem Umsturz erarbeitet. Prinz Reuß wäre dabei die Rolle eines provisorischen Staatsoberhaupts zugekommen.
Vermeintlich harmlose "Rollator-Terroristen"
Unmittelbar nachdem am 7. Dezember 2022 fast alle Angeklagten - teils im Beisein der Presse - festgenommen worden waren, machte in Teilen der rechts-konservativen Publizistik ein Verharmlosungsnarrativ die Runde. Darin werden die mutmaßlichen Umstürzler zur "Rentner-Gang" und zu "Rollator-Terroristen" degradiert. Der Staat reagiere "hysterisch" und wolle in einem "Schauprozess" Systemkritiker einschüchtern.
Gleichzeitig sickerten bereits vor Prozessbeginn immer wieder neue Details aus den Ermittlungsakten durch, die den Investigativ-Teams verschiedener Medien vorliegen. Darin ist von Schießtrainings, Waffenfunden und der Anwerbung weiterer Bundeswehrangehöriger durch die Angeklagten die Rede. Die Verteidiger in Frankfurt skandalisieren inzwischen fast täglich eine "mediale Vorverurteilung" ihrer Mandanten.
Der Vorwurf gegen "die Medien" gehört inzwischen zum Standardrepertoire von Verteidigern in jedem größeren Strafprozesses. Tatsächlich lässt sich nach einem halben Jahr festhalten: Über die konkreten Umsturzpläne ließ in der Presse mehr erfahren als in den bisher mehr als 30 Prozesstagen vor dem Frankfurter Oberlandesgericht.
Zeitraubende Aussagen
Denn einer der größten Terrorprozesse der bundesdeutschen Geschichte geht schleppend voran. Das ist zum einen auf die große Zahl der Angeklagten zurückzuführen, was es an sich schon schwierig macht, zügig voranzukommen. Zum anderen liegt es daran, dass der Staatschutzsenat bei der Einführung von Beweismitteln äußerst penibel vorgeht. Dokumente werden in Gänze verlesen - inklusive aller Aktenzeichen und Anmerkungen. Dem Vorwurf, etwas absichtlich oder unabsichtlich unter den Tisch fallen zu lassen, will sich das Gericht offenkundig nicht aussetzen.
Nicht zuletzt sind es einige Angeklagte, die mit ihrem Aussageverhalten den Prozess in die Länge ziehen. Maximilian E. nahm sich zwei Prozesstage lang Zeit, um über seinen Lebensweg und seine privaten Verhältnisse zu sprechen - mit wenig Bezug zum Prozess. Auch die Aussage von Prinz Reuß zog sich über zwei Tage, was allerdings vor allem seiner emotionalen Aufgewühltheit geschuldet war.
Als bislang einzige Angeklagte äußerte sich die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin Birgit Malsack-Winkemann direkt zu den Tatvorwürfen - allerdings ganze sechs Prozesstage lang. Die Nachfragen des Gerichts nahmen drei weitere Prozesstage in Anspruch.
Wenig Handfestes, viel Wirres
Das Zwischenergebnis nach sechs Monaten Prozess fällt daher einerseits ernüchternd aus. Der angeblich geplante Sturm auf den Bundestag etwa konnte in der öffentlichen Verhandlung noch nicht konkret nachgewiesen werden. Zwar gab Ex-Parlamentarierin Malsack-Winkemann zu, mehrere Mitangeklagte durch den Reichstag und dazugehörige Nebengebäude geführt zu haben. Sie betonte jedoch, dass es sich dabei ausschließlich um "touristische Aktionen" gehandelt habe.
Welchen touristischen Mehrwert die Begehung und das Abfotografieren von Tiefgaragen und unterirdischen Zugängen haben sollte, bleibt dabei unklar. Als glasklarer Beweis für die Planung eines bewaffneten Überfalls taugen sie indes ebenso wenig. Ähnliches gilt für die Funde in den Geschäfts- und Privaträumen von Prinz Reuß: verschwörungstheoretische Literatur, Lebensmittelvorräte, ein teures Satellitentelefon, um zu den Mitgliedern des Rates auch am Tag X Kontakt halten zu können.
Andererseits hat die Hauptverhandlung inzwischen belegt, wie tief die Angeklagten in ihre eigenen, von paranoiden Verschwörungserzählungen geprägten Fantasiewelten abgeglitten sind.
Panoptikum an Verschwörungserzählungen
Da ist Maximilian E., der sich während der Corona-Pandemie nicht nur dazu verstieg, die Impfpolitik der Bundesregierung als Genozid zu bezeichnen, sondern auch sehr viel Energie und anderer Leute Geld investierte, um den rituellen Missbrauch von Kindern in geheimen unterirdischen Militäranlagen in der Schweiz nachzuweisen.
Da ist Prinz Reuß, der auf offener Bühne davon schwadronierte, dass Freimaurer und Hochfinanz seit Jahrhunderten Kriege und Revolutionen finanzierten, um den ihnen lästigen Adel loszuwerden und "sogenannte Demokratien" einzusetzen - festgehalten in einem bis heute bei Youtube abrufbaren Video. In anderen - nicht öffentlich abrufbaren - Videos verkündete er die "Wiedererrichtung der Fürstentümer Reuß". Im Anschluss setzte er ein Schreiben an einen prominenten Reichsbürger auf, um zu erfahren, ob damit auch das Deutsche Reich als wiederbegründet angesehen werden kann.
Und da ist Birgit Malsack-Winkemann. Eine Richterin, die über Jahrzehnte im Dienst der Bundesrepublik stand, aber offenkundig keinen Anstoß daran fand, dass im sogenannten Rat um Prinz Reuß darauf spekuliert wurde, dass ein technisch überlegener Geheimbund genau diese Bundesrepublik beseitigen würde.
Der Rat und die Allianz
So viel deutet sich nach sechs Monaten an: Der gemeinsame Nenner im Panoptikum der Verschwörungsfantasien war stets jene übermächtige angebliche Allianz, welche die staatliche Ordnung der Bundesrepublik mit einem Schlag beseitigen sollte. Auf diesen Tag X scheinen sich die Angeklagten vorbereitet zu haben. Die entscheidende Frage für den weiteren Prozess ist: Wer sollte diesen Tag X einleiten? Die Allianz oder die Patriotische Union?
Die Anklage ist deutlich: Sie geht davon aus, dass die Gruppe Reuß plante, mit dem Bundestagssturm ein Zeichen für das Eingreifen der Allianz zu setzen. Malsack-Winkemann hingegen betonte in ihrer von Redundanzen und Wiederholungen geprägten Aussage immer wieder, dass alle im sogenannten Rat auf das Eingreifen der Allianz gewartet hätten. Diese habe "alle notwendigen Gewaltmaßnahmen" durchführen sollen.
Das Bezeichnende bei all diesen Phantasmen: Unabhängig davon, ob sie tatsächlich zum gewaltsamen Umsturz entschlossen waren, wähnten sich alle Angeklagten im Widerstand gegen eine finstere Elite. Dass sie größtenteils selbst zu den Privilegierten eben jenes Systems gehören, das sie gerne beseitigt sehen wollten, scheint ihnen nicht aufgefallen zu sein.
Beschlossene Sachen oder loses Gedankenspiel
So abwegig der Glaube an unterirdische Pädophilen-Bunker und die Hoffnung auf einen übermächtigen Geheimbund erscheinen, so wenig sind sie strafbar. Wie in jedem Staatsschutzverfahren stimmen die Verteidiger regelmäßig das Lamento von der "Gesinnungsjustiz" an und ernten dafür Zustimmung von Anhängern der Angeklagten auf den Zuschauerplätzen. Mit der Realität des Verfahrens hat das indes wenig zu tun.
Dass Gerichte versuchen, in die Gedankenwelt von Angeklagten einzutauchen, ist schlicht Teil der Beweiserhebung. Letztlich muss der Staatsschutzsenat klären, ob der gewaltsame Umsturz bereits beschlossene Sache oder nur ein loses Gedankenspiel war - und zwar für jeden einzelnen Angeklagten.
Das wird dauern. Bis Juli kommenden Jahres sind 50 weitere Verhandlungstage angesetzt. Dass sie für die Wahrheitsfindung ausreichen, ist alles andere als sicher.