Reporter berichtet vom Erdbebengebiet "Wohnhäuser liegen wie Pfannkuchen aufeinander"
Über mehrere Tage haben Menschen aus Hessen nach dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien Hilfe geleistet. ARD-Reporter Christian Buttkereit hat den Einsatz begleitet. Hier schildert er die Eindrücke seiner Reise durch die zerstörten Gebiete in der Türkei.
50 Helferinnen und Helfer aus Hessen sind nach sechstägigem Hilfseinsatz im türkisch-syrischen Grenzgebiet wieder Zuhause. Vor Ort war auch ARD-Reporter Christian Buttkereit. Hier schildert er seine Eindrücke von den Folgen des verheerenden Erdbebens, das bisher mehr als 40.000 Tote gefordert hat – und von dem Tag, der die Helfer des Technischen Hilfswerks (THW) und der Hilfsorganisation I.S.A.R. dazu bewegt hat, den Einsatz vorerst zu beenden.
Die Annäherung ans Erdbebengebiet verläuft schrittweise. Mein türkischer Kameramann Fikret und ich sind in der 2,2-Millionen-Einwohner-Metropole Adana gelandet. Dort können wir keine Schäden sehen, aber eine Reihe von Sammelstellen für Hilfsgüter. Die gibt es auch auf den Autobahnraststätten in Richtung Süden, dort, wo das Erdbeben gewütet hat, ebenso wie zahlreiche Lkw mit Hilfsgütern.
Mit dem Ende der Autobahn beginnen wir zu ahnen, was uns erwartet. Schon die erste Kleinstadt ist erheblich zerstört. Einige Gebäude sind gänzlich eingestürzt, andere zur Seite gekippt, viele Autos unter Trümmern begraben. Die Landstraße führt zunächst bergauf, dann in Serpentinen in eine weite, fruchtbare Ebene. Immer wieder muss ich wegen der Risse im Fahrbahnbelag auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen. Linker Hand schneebedeckte Berge. An deren Fuß liegt die 130.000-Einwohner-Stadt Kirikhan, unser Ziel.
Bulldozer räumen Korridore frei
Der Name der Stadt setzt sich aus den Wörtern Kirik für "zerbrochen" und Han für "Rasthaus" zusammen, wie mir Fikret erklärt. Bereits am Orteingang ein Bild der Erschütterung, zahlreiche fünf-, sechs- und siebenstöckige Wohnhäuser liegen am Boden, Betondecke auf Betondecke, wie ein Pfannkuchen.
Andere Häuser sehen auf den ersten Blick unversehrt aus, doch meistens fehlen auch hier Teile der Fassade. Die Straßen hat ein Bulldozer freigeräumt, gerade so breit, dass ein Lkw hindurchpasst, überall liegen Trümmer. Erst abends fällt uns auf, dass es in der ganzen Stadt keinen Strom gibt, außer an den Verteilstellen für Hilfsgüter, wo es Generatoren gibt. Einige Menschen wärmen sich an Feuern aus Müll und Möbeln, ansonsten ist es stockfinster. Es ist um die null Grad kalt an diesem Tag, aber immerhin trocken.
Berichte über Tumulte bei der Verteilung von Hilfsgütern
Das gemeinsame Camp des Technischen Hilfswerks Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und der Hilfsorganisation I.S.A.R Germany erreichen wir auf einem Hügel oberhalb der Stadt. Hier laufen Generatoren, hier gibt es Licht, große weiße Zelte, Outdoor-Toiletten und Kaffee.
Überhaupt erscheint alles bestens organisiert. Etwa 100 Einsatzkräfte und elf Suchhunde sind hier untergebracht. Wir werden freundlich empfangen, dürfen uns in einem der Zelte aufwärmen und am Rande des Camps in unserem Mietwagen übernachten.
Von Pressesprecherin Katharina Garrecht und dem stellvertretenden Teamleiter Peter Benz vom THW-Ortsverband Hofheim erfahren wir, dass es nach 100 Stunden eigentlich kaum noch die Hoffnung gibt, Menschen lebend aus den Schuttbergen retten zu können. Es habe auch schon seit geraumer Zeit keine Hinweise mehr auf Überlebende gegeben.
Ohnehin haben die deutschen Kräfte entschieden, an diesem Tag nach Möglichkeit im Camp zu bleiben. Grund sind Berichte von Tumulten in der Stadt, wohl bei der Verteilung von Hilfsgütern. Es sollen auch Schüsse gefallen sein.
Rettung für eine 88-Jährige
Plötzlich herrscht Betriebsamkeit im Camp. Eine kurze Ansprache, dann greift sich eine Gruppe von Einsatzkräften ihre Schutzhelme, lädt noch einige Alu-Boxen in einen bereitstehenden Kleinbus und steigt ein. Grund für den Einsatzbefehl ist ein Hinweis aus der Bevölkerung. Aus den Trümmern eines siebenstöckigen Wohnhauses sei eine Stimme zu hören.
Zunächst hieß es, es handele sich um ein junges Mädchen, letztendlich war es eine 88-jährige Frau. Wir springen bei einem deutschen Zeitungsreporter ins Auto und fahren hinterher. Zunächst verlieren wir das Einsatzfahrzeug. Als wir an der Unglücksstelle ankommen, halten uns etwa zwei Dutzend türkische Soldaten mit Maschinengewehren auf Distanz. Filmen verboten.
Auch hier ist alles stockdunkel. Nur die Einsatzstelle ist erleuchtet. Einige Einheimische stehen am Rand. Ein Mann, wohl Angehöriger der Vermissten, fleht die Rettungskräfte an, sich zu beeilen. Die Nerven liegen blank. Immer wieder werden die Arbeiten mit Kettensäge und Betonspreizer unterbrochen, um in völliger Stille Geräusche der Verschütteten wahrzunehmen. Die Stimmung ist angespannt und gespenstisch, Verwesungsgeruch strömt in die Nase.
Letzte Hoffnung: Gewissheit für Angehörige der Opfer
Verhältnismäßig schnell gelingt es den Rettern, die Frau nach zwei Stunden lebend aus den Trümmern zu befreien. Allerdings erst, nachdem mehrere Leichen, zwischen denen sie lag, geborgen wurden. Die 88-Jährige hat sich einige Knochenbrüche zugezogen, als das Haus vor rund 140 Stunden über ihr einstürzte. Dass sie nun in ein Krankenhaus gebracht werden kann, ist ein Glücksmoment für alle Beteiligten.
Es sollte die zweite und letzte Lebendrettung des THW bei diesem Einsatz sein. I.S.A.R war an vier Rettungen beteiligt. Doch auch die Ortung von Verstorbenen und die damit verbundene Gewissheit sei für die Angehörigen wichtig, sagt der stellvertretende Teamleiter Peter Benz. Am nächsten Tag gibt es keine weiteren Hinweise auf Lebenszeichen.
Gemeinsam mit THW und I.S.A.R beenden auch wir am darauffolgenden Morgen unseren Einsatz im Krisengebiet. Wir fahren einen anderen Weg zurück, durch eine weitere der Städte, die so gut wie nur noch aus Trümmern bestehen. Hier und da schieben Bagger Betonplatten zur Seite. Immer in der Hoffnung, noch auf Überlebende zu stoßen, die so tief verschüttet sind, dass die Rettungshunde sie nicht erschnüffeln konnten.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau extra, 15.2.2023, 20.15 Uhr
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