Notstand im psychosozialen Hilfesystem Brandbrief von Therapeuten: "Das gesamte System könnte kollabieren"
Immer mehr Menschen in Hessen leiden unter psychischen Erkrankungen. Gleichzeitig ist es gerade besonders schwierig, Behandlungsplätze zu finden. Der steigende Bedarf trifft auf eine massive Unterversorgung, warnen Therapeuten in einem Brandbrief.
"Es fehlen ambulante Therapieplätze, stationäre Unterbringungsmöglichkeiten und Fachkräfte." Das bemängelt der Psychosoziale Beirat des Kreises Darmstadt-Dieburg in einem Brandbrief. Es ist bereits das zweite Mal, dass er den Notstand im psychiatrischen und psychosozialen Hilfesystem ausruft. "Das System ist am Absaufen", schrieben die Verfasserinnen und Verfasser bereits 2023 an die Landesregierung, die Kassenärztliche Vereinigung und den Bundestag. Passiert sei bisher jedoch nichts.
Beteiligt haben sich an dem Brandbrief unter anderem das Gesundheitsamt, Kliniken, der Kinderschutzbund, Psychiater und Therapeuten. "Alle eint die Sorge, dass das gesamte System total kollabiert." Die Verfasserinnen und Verfasser kritisieren zum Beispiel, dass Krankenhäuser teilweise schließen müssten, weil sie kein Personal haben. Zudem würden die Wartezeiten bei niedergelassenen Ärzten, bei Psychiatern oder bei Psychotherapeuten länger und länger.
Große Nachfrage nach Therapieplätzen
Sozialdezernentin Christel Sprößler (SPD) hat den Brief mitverfasst. Sie und ihre Mitstreiterinnen, die Sozialpädagogin Lea Hecker und die Psychiatriekoordinatorin beim Gesundheitsamt, Jutta Schwibinger, tragen einen Schwimmflügel am Arm: ein Symbol für die erforderliche Rettungsmaßnahme, die bisher ausgeblieben ist.
Sprößler verweist auf einen Bericht der Krankenkasse DAK. Fehltage im Job wegen psychischer Erkrankung sind demnach in den vergangenen zehn Jahren in Hessen um 54 Prozent gestiegen. "Die Folgen, die wir als Gesellschaft zu übernehmen haben, sind riesig", so die Sozialdezernentin. Es handele sich um Menschen, die in einer akuten seelischen und psychischen Not seien. Sie würden dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. "Das heißt: Die sozialen Kosten werden steigen."
Noch akuter sei die Lage bei Kindern- und Jugendlichen, erklärt Sprößler. Seit Corona gehe die Zahl der psychischen Erkrankungen stetig nach oben. Die Nachfrage nach Therapieplätzen sei groß.
"Wir merken, dass es verstärkt Suizide gibt. Wir merken, dass es verstärkt verhaltensauffällige Kinder gibt und dass es verstärkt Diagnosen benötigt, Eingliederungshilfen für Schulen und Kitas", sagt Sprößler. Eltern seien oftmals hilflos und machtlos, weil das System nicht funktioniere aufgrund eines eklatanten Fachkräftemangels.
"Gesetzlich Versicherte sind benachteiligt"
Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen, sieht das ähnlich. "Im Bereich Kinder und Jugendlicher sind fehlende Therapieplätze sehr brisant, weil eine psychische Erkrankung, die nicht behandelt wird, dazu führen kann, dass der Bildungsweg behindert wird", sagt sie. Eventuell gingen diese Kinder gar nicht mehr zur Schule und fielen dann irgendwann ins Nichts.
Die Nachfrage nach Therapieplätzen im Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist laut Winter bundesweit in den vergangenen Jahren um 60 Prozent gestiegen.
Winter sagt, es gebe genügend Psychotherapeuten, aber nicht genügend Therapieplätze für gesetzlich Versicherte. "Die Betroffenen können sehr schlecht für die eigenen Bedürfnisse eintreten, das Selbstwertgefühl ist angegriffen, man schämt sich. Das macht die Suche nach einem Therapieplatz umso schwieriger", so die Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen. Es sei eine riesige Gruppe, die Anspruch auf Psychotherapie habe, aber keine bekomme. "Das ist ein totaler Skandal."
Psychotherapeutenkammer: Bedarfsplanung ist veraltet
Schuld daran ist Winters Meinung nach die veraltete Bedarfsplanung, die die Zahl der Plätze festlegt. "Die Bedarfsplanung legt fest, wie viele Therapieplätze wir brauchen. Diese ist 25 Jahre alt, total veraltet und muss erneuert werden", kritisiert sie. Besonders auf dem Land sei der Bedarf groß. Im Main-Kinzig-Kreis gebe es nur neun Therapeuten für Kinder- und Jugendliche, das sei fatal.
Die Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen müssten hier laut Kammer nachbessern. Allerdings müssen sie sich dabei nach gesetzlichen Grundlagen richten. "Gemäß Bedarfsplanung ist Hessen sogar überversorgt, es müssten 700 Plätze abgebaut werden, so steht es offiziell auf dem Papier. Es passiert nicht, aber rein rechnerisch wäre das so", sagt Winter. Das müsse man sich mal vorstellen.
Kosten für die Gesellschaft sind groß
Die Psychiatriekoordinatorin beim Gesundheitsamt, Jutta Schwibinger, die den Brief mitverfasst hat, betont: "Es geht wirklich um psychische Erkrankungen, die die Menschen am Erwerbsleben hindern, die zu Suiziden führen können, die zu Dramen in Familien führen können." Das müsse ernst genommen werden. Das werde es aber nicht, jedenfalls nicht so wie es der Situation angemessen wäre.
Gesundheitsminiseriums: Fachkräftemangel ist allgegenwärtig
Das hessische Gesundheitsministerium reagierte auf hr-Nachfrage auf die wiederholte Kritik des Psychosozialen Beirats. "In Bezug auf die darin aufgeworfenen Problemlagen müssen weiterhin die verschiedenen Zuständigkeiten beachtet werden, vorrangig unterliegt das Gesundheitssystem der Selbstverwaltung, dies bezieht sich zum Beispiel auf Fragen der Bedarfsplanung für niedergelassene Behandler innen und Behandler", erkärte das Ministerium.
Der Fachkräftemangel ist zudem laut Ministerium allgegenwärtig und betrifft nicht nur, aber im besonderen Maße das Gesundheitswesen, was sich unter anderem auch in Wartezeiten in den Behandlungsangeboten niederschlägt.
Sozialpädagogin: "Es braucht Zeit, viel Zeit"
Die Sozialpädagogin Lea Hecker meint, es gehe nicht darum, einen Schuldigen für den Notstand auszumachen. Der Brandbrief gebe auch keine konkreten Lösungsvorschläge. "Wir haben diesen Brandbrief geschrieben, weil wir eben gesagt haben, wir haben nicht die eine Lösung." Da müsse an ganz vielen Stellschrauben gedreht werden. "Es braucht Zeit, viel Zeit.“
Je früher der Notstand erkannt und angegangen werde, desto größer sind laut der Verfasserinnen die Chancen auf eine gesunde Gesellschaft. Darum forderen sie in dem Brandbrief Prävention auf regionaler und bundesweiter Ebene. "Es geht ja darum, in den Austausch zu gehen, darüber zu reden. Wir haben gerade nicht die Massen an Möglichkeiten, weil wir nicht 2.000 Fachkräfte aus dem Boden stampfen werden", betont Christel Sprößler. "Aber wenn wir in der Hilflosigkeit bleiben oder nicht hingucken, werden wir immer weniger haben."
Redaktion: Susanne Mayer
Sendung: hr-iNFO, 15.7.2024,11:54 Uhr
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