Tödliche Polizeischüsse in Frankfurt Fall Amin Farah geht weiter - Bruder legt Beschwerde ein

Vor zwei Jahren wurde Amin Farah im Frankfurter Bahnhofsviertel von einem Polizisten erschossen. Die Ermittlung ergab, dass der Beamte in Notwehr gehandelt habe. Farahs Bruder macht der Polizei Vorwürfe und ficht die Einstellung des Verfahrens an.

Polizist im Vordergrund, Flatterband und Autos und weiter Polizisten unscharf im Hintergrund
Polizeieinsatz im Frankfurter Bahnhofsviertel nach tödlichen Schüssen auf einen 23-Jährigen. Bild © 5vision.media
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Abdiwali Farah will, so sagt er, Gerechtigkeit für seinen Bruder Amin. Er glaubt, die Polizei hätte Amin bei einem Einsatz im Frankfurter Bahnhofsviertel vor zwei Jahren nicht erschießen dürfen. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft sieht es anders. Sie stellte kürzlich die Ermittlungen gegen den Polizisten ein. Dieser habe in Notwehr gehandelt, er sei unschuldig.

Die Frankfurter Anwältin Anke Langensiepen, die Abdiwali Farah als Hinterbliebenen vertritt, will erreichen, dass in dem Fall weiter ermittelt wird. Sie hat Zweifel daran, dass es Notwehr war. Und sie hält den gesamten Polizeieinsatz für unverhältnismäßig. Ihre Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung wird nun von der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt geprüft.

80 Beamte beim Einsatz

Was in jener Sommernacht vor zwei Jahren geschehen ist, stellt sich nach den Ermittlungen so dar: Gegen 1.40 Uhr, in der Nacht zum 2. August 2022, alarmieren zwei Prostituierte die Polizei. Sie sagen, ein Mann habe sie in einem Hotel in der Moselstraße mit einem Messer bedroht. In seinem Zimmer habe außerdem ein Gegenstand gelegen, der wie eine Pistole ausgesehen habe.

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Die Streifenpolizisten holen Verstärkung. Das Spezialeinsatzkommando Süd trifft gegen 2.30 Uhr am Hotel ein. Insgesamt sind laut Innenministerium knapp 80 Beamte am Einsatz beteiligt. Amin Farah sitzt zu dem Zeitpunkt allein in seinem Zimmer, das die Prostituierten längst unversehrt verlassen haben. Um kurz nach 4 Uhr ordnet die Polizei den Zugriff an.

Behörden geben Falschinformation

Mit einer Ramme brechen die Polizisten die Zimmertür auf und schicken einen Hund hinein, so hat es die Staatsanwaltschaft ermittelt. Der Hund verbeißt sich in Farahs Arm. Polizisten dringen ins Zimmer ein. Der erste von ihnen sieht sich Farah gegenüber, der ein Messer in Hand hält. Nur anderthalb Meter trennen die beiden. Der Polizist nimmt eine Stichbewegung in seine Richtung wahr und schießt, insgesamt sechs Mal.

Ein Schuss verfehlt Farah, zwei treffen ihn in den Arm, einer in die Brust, einer in die Schulter und einer von oben in den Kopf. Der 23-Jährige ist sofort tot - anders als Polizei und Staatsanwaltschaft es zunächst darstellen. Der Presse gegenüber sprechen sie von schweren Verletzungen, denen Farah später erlegen sei. Auf hr-Nachfrage korrigiert sich die Staatsanwaltschaft zwei Tage später.

Polizisten wechseln kein Wort mit Farah

Stundenlang stehen Beamte in jener Nacht vor dem Hotel, in dem Farah allein in seinem Zimmer sitzt. Die Ermittlungen legen nahe, dass die Polizei nicht einmal versucht, ihn anzusprechen. Niemand bittet ihn, einfach mit erhobenen Händen aus dem Zimmer zu treten. Die Einsatztaktik ist offenbar eine andere - man setzt wohl auf das Überraschungsmoment, will Farah überwältigen.

Ein junger Mann in magentafarbener Jacke
Amin Farah auf einem undatierten Foto. Bild © privat

Der Grund: Farah ist polizeibekannt. Als die Einsatzkräfte die Polizei-Datenbank abfragen, finden sie die Vermerke: drogenabhängig, bewaffnet, gewalttätig. Die Beamten nehmen deshalb an, Farah werde nicht kooperieren. Sprachlich wäre ein Kontakt ohne Weiteres möglich. Er spricht recht gut Deutsch. Auch das ist in der Polizei-Datenbank vermerkt.

Polizeikritiker sprechen von Mord und Rassismus

Der Kopfschuss, die Einsatztaktik, die Falschinformation der Öffentlichkeit - all das führt dazu, dass der Einsatz in die Kritik gerät. Dazu kommt: Der Getötete ist Somalier, er hat eine dunkle Hautfarbe. Im Innenausschuss des Landtags wird die Frage gestellt, ob die Polizisten rassistisch gehandelt hätten. Der damalige Innenminister Peter Beuth (CDU) verneint das.

Das überzeugt nicht alle. "Das war Mord" - mit diesem Slogan demonstrieren noch ein Jahr später polizeikritische Gruppen in der Frankfurter Innenstadt und werfen den Einsatzkräften Rassismus vor. Sie sehen Parallelen zu einem Einsatz in Dortmund eine Woche später, bei dem ebenfalls ein junger Afrikaner von der Polizei erschossen wurde. Dieser Fall wird derzeit in Dortmund vor Gericht verhandelt.

Auch die Polizisten brauchen Hilfe

Es passiert selten in Deutschland, dass Menschen von der Polizei erschossen werden. Im vergangenen Jahr waren es nach Länderangaben acht Menschen, in diesem Jahr bisher sieben. Zum Vergleich: In den USA sterben jedes Jahr rund 1.000 Menschen durch Polizeischüsse, mehr als hundertmal so viele wie hierzulande.

Wenn nach dem Einsatz der Leichenwagen kommt, trifft das nicht nur die Hinterbliebenen der Opfer. Oft sind auch die Polizisten traumatisiert, sagt Carsten Schenk vom Zentralpsychologischen Dienst der hessischen Polizei. Er und seine Kollegen fahren in solchen Fällen direkt zum Tatort und bieten Hilfe an. Und die werde fast immer angenommen.

Unhaltbare Vorwürfe belasten Polizisten

Manche Beamte finden nicht mehr in den Schlaf, erleben das Geschehen gedanklich immer wieder und können sich nicht konzentrieren. Wenn dann auch noch wegen Totschlags gegen sie ermittelt wird und ihr Handeln öffentlich in Frage gestellt wird, sei das besonders belastend, sagt Polizei-Psychologe Schenk. Nicht jeder Beamte könne damit umgehen.

Auch im Fall Farah ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen den Polizisten, der geschossen hatte, wegen Totschlags - so ist es in solchen Fällen üblich. Ein Mordverdacht, wie ihn einzelne Gruppierungen immer noch erheben, stand juristisch allerdings nie im Raum. Auf keines der Mordmerkmale wie Habgier, Heimtücke oder andere "niedere Beweggründe", wie es im Gesetz heißt, sehen die Ermittler auch nur die geringsten Hinweise.

Keine Stellungnahme der Polizei

Wie der Beamte all das verkraftet hat, ist nicht bekannt. Weder er noch die Polizei hat sich dazu bisher öffentlich geäußert. Der Hessische Rundfunk hat im Verlauf der Recherche immer wieder angefragt, um möglichst alle relevanten Perspektiven darzustellen. Doch offenbar besteht auf Seiten der Polizei dieser Wunsch nicht.

Ganz anders wird mit dem Dortmunder Fall umgegangen. Dort hat der angeklagte Polizist - trotz eines laufenden Gerichtsverfahrens gegen ihn - dem WDR ein Interview gegeben. Darin wehrt der Beamte sich vor allem gegen den Rassismus-Vorwurf. Dieser sei ungerechtfertigt und verletzend. Er leide ohnehin unter dem Geschehenen.

Behörden betonen Farahs Verfehlungen

Über den Beamten, der im Frankfurter Bahnhofsviertel geschossen hat, ist fast nichts bekannt: Weder sein Name noch sein Alter, auch über seine bisherige Tätigkeit weiß man nichts. Selbst die Staatsanwaltschaft hat diese Informationen nicht bekommen, denn die Identität von SEK-Beamten wird geschützt. Nur wenn die Ermittler explizit nachfragen würden, könnten sie erfahren, mit wem sie es zu tun haben.

 

Was den Getöteten angeht, gaben die Behörden dagegen viele Informationen heraus. Es waren ausnahmslos negative, und nicht alle stimmten. So wurde Farah als Wohnsitzloser bezeichnet, dabei hatte er eine Meldeadresse in Darmstadt.

Drogen, Ermittlungen, Spielzeugpistole

Unstrittig ist, dass er Drogen konsumierte. In seinem Leichnam wurden Kokain, Alkohol und andere Rauschmittel nachgewiesen. Auch war er wohl schon als gewalttätig aufgefallen. Im Innenausschuss sprach der damalige Minister Beuth von 29 Straftaten, bei denen Farah als Verdächtiger geführt wurde, von Drogendelikten über Raub bis hin zu gefährlicher Körperverletzung.

Aber auf hr-Nachfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft: Es waren alles Ermittlungsverfahren, in denen die Unschuldsvermutung gilt. Farahs Vorstrafenregister ist leer. Auch Schusswaffen hatte er nicht, allerdings zwei Gegenstände, die man bei flüchtigem Hinsehen dafür halten konnte: ein Feuerzeug in Revolverform und eine Spielzeugpistole.

Betreuerin: "Er war ein junger, toller Mann"

Farahs Tod mit 23 Jahren schockierte besonders in Darmstadt viele Menschen, dort lebte er seit 2018. Der schmächtige, 1,66 Meter große Mann hat Eindruck hinterlassen - auch bei einer Frau, die Farah in einer Sammelunterkunft für Geflüchtete betreut hat. Im Gespräch mit dem hr erinnert sie sich an viele Details, beschreibt ihn als "jungen, tollen Mann mit einem großen Lachen".

Zwei junge schwarze Männer mit einem Schild, auf dem "Black Lives Matter" steht
Amin Farah mit einem Freund vor einer "Black Lives Matter"-Demo in Darmstadt. Bild © privat

Farah sei offensichtlich traumatisiert gewesen, wahrscheinlich durch seine Erlebnisse auf der Flucht nach Deutschland. Er habe sich selbst unter Druck gesetzt, habe Geld verdienen wollen, um seiner Familie in Somalia zu helfen. Er übernahm Logistik-Jobs, unter anderem bei Amazon. Als er eine eigene Wohnung im Darmstädter Johannisviertel bezog, schien er angekommen in Deutschland.

Tragischer Tod der Frau in Somalia

Der Bruch in Amin Farahs Leben war der Tod seiner Frau in Somalia. So beschreiben es übereinstimmend mehrere Menschen, die ihn kannten. Noch bevor er mit 16 Jahren in Richtung Deutschland aufbrach, war er dort mit einem noch jüngeren Mädchen verheiratet worden - eine Kinderehe, die in Deutschland nicht anerkannt wurde. Er selbst hatte zwar Bleiberecht, seine Partnerin durfte er aber nicht nachholen.

Als Farah erfuhr, dass seine Frau unter offenbar grausamen Umständen in Somalia zu Tode gekommen war, verlor er den Halt. Er soll Betreuern gegenüber von Selbstmord gesprochen haben. Den Kontakt zu seinem Bruder Abdiwali ließ er mehr und mehr abreißen. Farah nahm Drogen, verbrachte viel Zeit im Frankfurter Bahnhofsviertel, kam mit der Polizei in Konflikt.

Was bleibt, ist Plakette 019

Einen seiner besten Momente in Deutschland habe Farah auf dem Darmstädter Ernst-Ludwig-Platz gehabt, sagt die Betreuerin: bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt kurz nach dem Tod des US-Bürgers George Floyd, der erstickte, weil ihm ein Polizist minutenlang das Knie in den Nacken gedrückt hatte. Fotos zeigen einen selbstbewussten Farah mit einem Schild mit der Aufschrift "Black Lives Matter".

Zwei Jahre nach seinem Tod durch Polizeischüsse erinnert nicht mehr viel an Amin Farah. Auf dem Friedhof Heiligenstock am Rande von Frankfurt hat er ein Rasengrab ohne Stein, ohne Schild, ohne Blumen.

Eine Gedenktafel, die von einem somalischen Verein angebracht wurde, ist spurlos verschwunden. Amin Farahs Grab lässt sich nur anhand einer Plakette orten, die in den Boden geschraubt ist. Darauf steht "019". Mehr nicht.

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de