"Jahrhundert-Ereignis" Aufräumen nach Unwetter-Chaos in Kassel
Mehr als 1.000 Notrufe und massive Schäden: Das Unwetter mit Gewitter, Starkregen und Hagel hat Kassel besonders schwer getroffen. Die Aufräumarbeiten laufen auf Hochtouren, doch die Auswirkungen sind weiter spürbar.
"So was hab ich noch nie erlebt. Das war so krass und in so kurzer Zeit", sagt Yannick Schleider. Mit einem Schrubber in der Hand steht er in seinem Sportstudio am Bahnhof Wilhelmshöhe in Kassel. Auch einen Tag nach dem heftigen Unwetter vom Donnerstag sind die Spuren nicht zu übersehen. Innerhalb von Sekunden habe das Wasser im Laden gestanden, erzählt Schleider, "es ist zur Tür reingelaufen, es ist in den Keller reingelaufen. Es war alles voll." Bis in den Abend habe das Team geputzt - jetzt geht es weiter.
So wie Schleider geht es vielen Betroffenen. Überall in der Stadt wird aufgeräumt. Aufgrund der hohen Schäden blieben am Freitag die Schulen in Kassel geschlossen, einige sogar darüber hinaus, wie die Stadt auf Twitter mitteilte. Auch die Jugendbücherei sowie die Kindertagesstätte Fasanenhof sind so schwer beschädigt, dass sie am Montag wohl nicht öffnen können.
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Neben Kassel wüteten die Gewitter am Donnerstagabend in Hattersheim (Main-Taunus) und Waldeck besonders schlimm. Hier prüft der Wetterdienst, ob möglicherweise Tornados durch die Straßen wirbelten.
OB Geselle: "Solche Bilder in unserer Stadt noch nicht gesehen"
Die Stadt Kassel informierte am Freitagmittag über die Lage nach dem Unwetter. Oberbürgermeister Christian Geselle (unabhängig) zeigt sich erschüttert. "Solche Bilder haben wir in unserer Stadt alle noch nicht gesehen", sagt er bei der Pressekonferenz.
Ersten, noch ungeprüften Rohdaten zufolge, fielen an verschiedenen Messstellen in Kassel innerhalb von einer halben Stunde 50 Millimeter Regen pro Quadratmeter, teilt die Stadt mit. Man spreche bei einer Menge von 45 Millimetern in einer Stunde von "einem Jahrhundert-Ereignis".
Bis zum Vormittag waren insgesamt 1.045 Notrufe eingegangen, am Donnerstagnachmittag bis zu 200 pro Stunde. Insgesamt waren 400 Einsatzkräfte mit etwa 90, teils auf Hochwasserlagen spezialisierten Fahrzeugen, im Einsatz. Für Betroffene hat die Stadt eine Service-Seite eingerichtet.
Tausende Keller vollgelaufen
Nach ersten Schätzungen der Feuerwehr waren in Kassel tausende Keller vollgelaufen. Teilweise hatte es mehrere Stunden gedauert, bis die Feuerwehr vor Ort sein konnte. Viele der Betroffenen hätten sich selbst geholfen.
Insgesamt war die Feuerwehr bis in die Morgenstunden 380 Mal bei Privatpersonen im Einsatz, Dutzende Einsätze liefen parallel. Auch am Donnerstag standen weitere rund 50 Einsätze an.
Ruderer kurzzeitig in Lebensgefahr
Direkt zu Beginn des Unwetters waren zwei Ruderer auf der Fulda in Lebensgefahr geraten. Beim Eintreffen der Rettungskräfte konnten sich diese selbst aus ihrer Lage befreien.
In den Krankenhäusern verzeichneten die Notaufnahmen kein erhöhtes Aufkommen. Bei den behandelten Personen habe sich vor allem um Leichtverletzte gehandelt, hieß es, teilweise wurden Brüche versorgt. Um weitere Gefährdungen auszuschließen, werden jetzt Bäume überprüft. Parkanlagen sollen deshalb nicht betreten werden.
Die Sporthallen in der Stadt wurden nach einer ersten Überprüfung teilweise gesperrt. Über das Wochenende können laut Stadt Fußballplätze und andere Ballsportanlagen nicht benutzt werden.
Stadtreiniger: Recyclinghöfe bieten Sonderschicht für Betroffene
Viele Straßen, Bürgersteige und Wege sind in Kassel noch am Freitag mit Schlamm, Blättern und Ästen verschmutzt und so entsprechend rutschig und eingeschränkt befahrbar. Die Stadtreiniger sind seit vier Uhr morgens mit allen verfügbaren Kräften im Dauereinsatz, wie Sprecherin Birgit Knebel auf Anfrage mitteilt.
Der Hauptfokus liege derzeit auf der Wiederherstellung der Verkehrssicherheit, wobei sich die insgesamt 110 eingesetzten Helfer zunächst auf die Hauptverkehrsrouten konzentrieren würden. "Wir können nicht überall im Einsatz sein, wir bearbeiten zuerst die dringendsten Stellen", sagt Knebel. Für die aktuelle Situation wurden sogar zusätzliche Kräfte aus anderen Bereichen abgezogen.
Damit Betroffene ihren durch Unwetterschäden entstandenen Sperrmüll zeitnah entsorgen können, bleiben die Recyclinghöfe in Kassel am Freitag bis 14 Uhr - und damit anderthalb Stunden länger als üblich - geöffnet.
Die Wasserwerke der Stadt Kassel sind ebenfalls seit gestern im Einsatz. Um weiteren Schaden zu verhindern, seien die Kräfte derzeit damit beschäftigt Straßenabläufe frei zu räumen, wie ein Sprecher mitteilt.
Auswirkungen auf Nah- und Fernverkehr halten an
Auswirkungen hat das Unwetter auch auf den Nah- und Fernverkehr der Bahn. Reisende verbrachten die Nacht teilweise am Bahnhof. Aufenthaltszüge wurden bereitgestellt. Auch einen Tag später wird Kassel-Wilhelmshöhe aus dem Norden nur eingeschränkt angefahren, teilt die Bahn auf ihrer Webseite mit. Grund dafür sei eine Teilsperrung auf der Strecke Richtung Göttingen.
Im Öffentlichen Personennahverkehr kam es im gesamten Raum Nordhessen ebenfalls zu größeren Beeinträchtigungen, erst seit dem Vormittag habe sich der ÖPNV normalisiert, teilt die Stadt Kassel auf der eigens einberufenen Pressekonferenz mit. Am Morgen waren Teile des Streckennetzes nicht befahrbar, so konnte die Wendeschleife an der Endhaltestelle Wilhelmshöhe nur eingleisig bedient werden. Bei dem Unwetter waren acht Fahrzeuge der KVG beschädigt worden.
Im gesamten NVV-Gebiet waren die Auswirkungen insbesondere im Bahnverkehr am Freitag noch spürbar. So ist die Bahnstrecke zwischen Kassel Hauptbahnhof und Staufenberg-Speele noch gesperrt. Auch im Fuldatal kann es zu Verspätungen und Zugausfällen kommen. Dazu gibt es auf einzelnen RegioTram-Linien noch Probleme.
Der Busverkehr läuft bis auf Behinderungen im Schwalm-Eder-Kreis durch einen Hangrutsch zwischen Homberg und Malsfeld planmäßig. Im Laufe des Tages sollten die meisten Störungen aber behoben sein.
Twitter-Video zeigt Einsatzfahrt der Feuerwehr
Wie schwer es die documenta-Stadt bei dem Unwetter getroffen hat, wurde am Abend vor allem auch auf Social-Media deutlich. In der Hochphase des Unwetters kamen Bilder und Videos im Minutentakt auf Instagram, Twitter und Co. Sie zeigten überflutete Straßenzüge und Autos, die teils von den Fluten weggespült wurden - dazu Hagelkörner so groß wie Tischtennisbälle.
Ein vielfach geteiltes Video zeigt die Aufnahme aus dem Fahrerhaus eines Einsatzfahrzeugs, das sich den Weg durch die überfluteten Straßen bahnt. Zu hören ist die Stimme eines Feuerwehrmanns. Dieser ist vom Ausmaß der Überschwemmungen offenbar überrascht. "So was habe ich noch nicht gesehen - in 22 Jahren". sagt er.
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Notrufleitungen in Kassel überlastet
Mehr als 1.100 Notrufe wurden nach Angaben des hessischen Innenministeriums zwischen 16 und 22 Uhr alleine in der Region Kassel abgesetzt. Das hohe Aufkommen überlastete zeitweise sogar die 70 verfügbaren Notrufkanäle, so die Stadt Kassel.
Unterstützung erhielt die Leitstelle aus Fulda und Gießen, die zeitweise Notrufe übernahmen. Doch nicht alle Notrufe konnten bearbeitet werden, wie die Aussagen von Betroffenen aus der Stadt zeigen.
So berichtet Fatma Bavli, die Besitzerin eines Döner-Restaurants in der Friedrich-Ebert-Straße von mehreren Anrufen bei Feuerwehr und Polizei. Doch dort sei keiner ans Telefon gegangen.
Den Laden des Familienunternehmens hatte es bei dem Unwetter schwer getroffen, das Ergeschoss sei "voller Wasser" gewesen, klagt Bavli, dazu hätten sie ganze drei Stunden ohne Strom auskommen müssen.
Der amtierende Oberbürgermeister Christian Geselle (parteilos) kommentierte die Situation noch am Abend: "Das Unwetter hatte eine große Wucht und dementsprechend sind auch die Folgen."