Autismus-Expertin erklärt Was die Suche nach Pawlos so schwierig macht
Seit Tagen wird in Weilburg nach dem sechsjährigen Pawlos gesucht. Weil der Junge Autist ist, reagiert er auf bestimmte Reize anders als andere Kinder. Eine Expertin erklärt, worauf die Einsatzkräfte achten müssen.
Die Suche nach dem vermissten Pawlos in Weilburg ist für die Einsatzkräfte eine besondere Herausforderung: Der Sechsjährige aus Waldbrunn (Limburg-Weilburg), der seit Dienstag verschwunden ist, ist laut Polizei "autistisch veranlagt".
Deshalb wenden die Einsatzkräfte ungewöhnliche Methoden bei der Suche an und bitten auch die Bevölkerung um besondere Aufmerksamkeit.
Expertin: Angespannt in unbekannten Situationen
"Autistische Kinder sehen die Welt auf eine andere Art", sagte Sonderpädagogin Sarah Weber dem hr. Die Darmstädterin leitet ein Kompetenzzentrum für das Thema Autismus. "Sie nehmen Reize wie Geräusche, Lichteffekte oder Berührungen anders wahr als nicht-autistische Menschen."
Autisten seien häufig angespannt, erklärt die Expertin. Sie müssten die Details der Umgebung erst zu einem großen Ganzen zusammensetzen, was nicht-autistischen Menschen auf den ersten Blick gelinge. "Dadurch ist ihr Sicherheitsgefühl nicht so schnell hergestellt", so Weber.
Keine lauten Rufe
"Autistische Menschen reagieren sehr sensitiv auf plötzliche laute Geräusche", erläuterte Weber. Es sei bei der Suche nach Pawlos wichtig, "dass man nicht laut nach ihm ruft".
Auch die Polizei empfiehlt: Wer Pawlos antrifft, solle ihn nicht ansprechen oder nach ihm rufen, sondern stattdessen den Notruf 110 wählen oder sich an eine Polizeidienststelle wenden.
Luftballons als visueller Reiz
Mit bunten Luftballons, die in Weilburg aufgehängt wurden, wollen die Einsatzkräfte Pawlos' Aufmerksamkeit wecken. "Keine schlechte Idee", findet Autismus-Expertin Weber. "Luftballons stellen einen eindeutigen visuellen Reiz dar, besonders wenn der Junge sich dafür sehr interessiert." So könne man Pawlos möglicherweise dazu bringen, sich zu nähern.
Externen Inhalt von Instagram anzeigen?
An dieser Stelle befindet sich ein von unserer Redaktion empfohlener Inhalt von Instagram. Beim Laden des Inhalts werden Daten an den Anbieter und ggf. weitere Dritte übertragen. Nähere Informationen erhalten Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.
Dass Polizeiautos während der Suchaktion durch Weilburg fahren und Tonaufnahmen von Pawlos' Mutter abspielen, hält Sonderpädagogin Weber ebenfalls für sinnvoll. "Sie ist seine Bindungsperson - an dieser Stimme wird er sich hoffentlich orientieren und sich der Geräuschquelle zuwenden."
Gleiches gilt laut Weber für den Einsatz von Musik: "Wenn es ein bekanntes oder beliebtes Lied für das Kind ist, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu der Geräuschquelle hinläuft."
Expertin: "Viele autistische Kinder mögen Gewässer"
Bei der Suche nach Pawlos konzentrieren sich die Einsatzkräfte immer wieder auch auf Gewässer. "Viele autistische Kinder mögen Gewässer", erläutert Weber in Bezug auf das Geräusch von fließendem Wasser. "Das ist ein gleichbleibender Stimulus, der Hintergrundgeräusche effektiv überdecken kann."
Auch die regelmäßigen Wellenbewegungen des Wassers wirkten für manche Kinder beruhigend. Mit Blick auf den vermissten Pawlos, der möglicherweise allein in der Nähe eines Gewässers unterwegs sein könnte, ergänzte Weber: "Das kann natürlich hochgradig gefährlich sein."
Bedürfnis nach Rückzug
Weber vermutet, dass die ungewohnte Situation für Pawlos "sehr herausfordernd" sein muss. "Ich könnte mir gut vorstellen, dass er sich orientierungslos fühlt und sich den Dingen zuwendet, die ihm Sicherheit und Vorhersehbarkeit geben."
Autistische Kinder zögen sich in solchen Fällen zum Beispiel vor der Reizüberflutung an ruhige Orte zurück, so Weber. Eine andere Möglichkeit sei sogenanntes selbststimulierendes Verhalten - etwa ein Wiederholen von Bewegungen oder Geräuschen, um sich zu beruhigen.
Immer wieder Vermisstenfälle mit Autismus-Bezug
Pawlos' Verschwinden erinnert an ähnliche Fälle, bei denen ebenfalls Kinder mit Autismus vermisst wurden: Im April 2024 war in Bremervörde (Niedersachsen) der sechsjährige Arian verschwunden und erst zwei Monate später tot aufgefunden worden. Ermittler vermuteten damals, dass der Junge sich wegen seines Autismus möglicherweise vor den Helfern verstecken könnte.
Im Oktober 2024 war in Hannover ein Zehnjähriger mit Autismus-Diagnose verschwunden und laut Polizei eigenmächtig mit dem Zug nach Berlin gefahren. Er wurde einen Tag später wohlbehalten in der Wohnung einer Freundin gefunden.