War was? Weihnachtsbaumkanone oder Schönschrift blauer Ninja Turtles
In Münzenberg schießt ein Mann Weihnachtsbäume aus einer gigantischen Kanone. Warum? Weil es so wunderschön sinnfrei ist, wie War was? weiß.
Hessen, das Bundesland, in dem immer was los ist. An dieser Stelle wirft unser Kolumnist Stephan Reich mit seiner Glosse "War was?" jeden Freitag einen ganz eigenen Blick auf die Nachricht der Woche. Nehmen Sie diese Blick bitte keinesfalls ernst.
Kennen Sie Chindogu? Chindogu ist Japanisch und bedeutet etwa "eigenartiges Werkzeug". Es bezeichnet eine Art Trend aus den Neunzigern in Japan, unnötige und völlig unpraktikable Gegenstände herzustellen.
Beispielsweise Essstäbchen mit einem kleinen montierten Ventilator, der das Essen auf dem Weg zum Mund kühlt. Oder einen auf dem Kopf zu tragenden Klorollenhalter, um so stets ein Taschentuch vor der Nase zu haben. Oder eine wie eine Art Pömpel aussehende Kinnstütze für Menschen, die am Schreibtisch arbeiten. Kurz: Chindogu sind völlig sinnfreie Erfindungen, die keinerlei praktikablen Nutzen haben.
In diesem Sinne: Konnichiwa, Harald Seipp aus Münzenberg in der Wetterau. Seipp hat nämlich eine Weihnachtsbaumkanone erfunden, und ja, das ist genau das, wonach es sich anhört: eine meterlange Kanone aus einem alten Wasserrohr, montiert auf einen mobilen Untersatz, aus der heraus Seipp nach Weihnachten Weihnachtsbäume durch die Luft schießt. Gefragt nach dem Sinn, sagte Seipp: "Mh, gestern wusste ich es noch. Schade."
Warum muss immer alles Sinn ergeben?
Ich muss sagen, ich finde das vollumfänglich gut. Warum muss denn immer alles einen Sinn ergeben? Man geht ja durchs Leben, und ständig wird erwartet, dass alles, was man tut, irgendwie sinnvoll, logisch und nachvollziehbar ist. Als wäre das Leben ein Tetrisspiel, und alle Klötzchen müssen immer ineinanderpassen.
Und irgendwie ärgert mich das manchmal. Warum kann ich nicht hier sitzen und in meiner Kolumne einfach mal einen sinnfreien Satz schreiben wie: Fünfundzwanzig gehen Banane wegen samtweicher Hasenfuß gefressen die Schönschrift blauer Ninja Turtles.
Puh, das hat gut getan. Als würde ich eine innere Weihnachtsbaumkanone zünden, die mir mal die Synapsen freipustet.
Und dann: bumm!
Seipp hat seine Kanone übrigens schon vor vier Jahren gebaut, vor diesem Weihnachten hat er sie noch verfeinert und sie auf den mobilen Untersatz montiert. Man steckt den Weihnachtsbaum hinein, dann einen Sack Stroh und einen Gymnastikball, den man aufpumpt, was mir insgesamt schon wunderschön sinnfrei vorkommt.
Und dann: bumm! "Das ist irgendwie ein Ur-Instinkt", sagt Seipp, und im Interview sieht er dabei genau so selig aus, wie man sich einen Mann vorstellt, der ab und an mal einfach so einen Weihnachtsbaum aus einer Kanone schießt.
"Ich verachte den Materialismus"
Einen Ur-Instinkt zu befriedigen, würde allerdings fast schon wieder Sinn ergeben. Und Spaß haben ja auch. Schmälert das meine Freude an Seipps Weihnachtsbaumkanone? Oder die Analogie zu den Chindogu? Eher nicht. Auch Chindogu haben ja dann doch einen Sinn, wenn man genauer hinsieht.
Ihr Schöpfer Kenji Kawakami war überzeugter Antikapitalist, in ihrer Sinnlosigkeit und Unproduzierbarkeit sind seine Chindogu als Kritik an Materialismus und Konsumgesellschaft zu verstehen. "Ich verachte den Materialismus und wie alles in eine Ware verwandelt wird", sagte er dazu. Und Recht hat er.
Einen dieser Kinnstützen-Pömpel für Menschen, die am Schreibtisch arbeiten, würde ich mir aber dennoch sofort kaufen.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 17.01.2024, 16.45 Uhr
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