Interview mit Zeitzeugin Bombennacht in Kassel: "Wir waren alle einfach froh, überlebt zu haben"
Als die Bomben auf Kassel fielen, war Gisela Heede eine junge Frau. 80 Jahre später erinnert sich die inzwischen fast Hundertjährige an eine Nacht, die ihr Leben veränderte.
In der Nacht vom 22. Oktober 1943 flog die britische Luftwaffe einen Großangriff auf Kassel. Der Angriff gilt als einer der verheerendsten im Zweiten Weltkrieg: Die Bomben zerstörten fast die gesamte Innenstadt und töteten 10.000 Menschen. Damit lag die Opferzahl in Kassel - im Verhältnis zur Größe der Stadt - noch vor Dresden. Viele der Opfer erstickten in ihren Kellern, die oft über unterirdische Gänge miteinander verbunden waren.
Auch die Kasselänerin Gisela Heede saß in einem solchen Luftschutzkeller, als die Bomben fielen. Im Januar wird sie 100 Jahre alt, damals war sie erst 19. Die Erinnerungen an die Bombennacht von Kassel sind für die Zeitzeugin immer noch präsent. Im Interview mit hessenschau.de schildert sie ihre Eindrücke vom damaligen Kassel und aus jener Nacht.
hessenschau.de: Frau Heede, Sie waren zum Zeitpunkt des Angriffs der Briten 19 Jahre alt. Wie haben Sie den Bombenhagel auf Kassel erlebt?
Gisela Heede: Ich war mit meinen Eltern im Keller. Meine Mutter war todsterbenskrank. Sie ist in der Bombennacht im Keller geblieben. Mein Vater und ich sind rausgegangen, als die Bomben aufhörten. Unser Haus brannte und wir haben es löschen wollen. Aber wir hatten kein Wasser. Zu zweit haben wir davorgestanden und zugeschaut, wie das Haus abbrannte. Wir konnten nichts machen. Unser Grundstück ist vollkommen abgebrannt.
hessenschau.de: Wie haben Sie das überstanden?
Heede: Es flogen tennisballgroße Flocken durch die Luft. Die fielen auf meinen Pullover. Der war danach vollkommen durchlöchert. Wir erlitten auch eine Brandverletzung an den Augen, weil wir ja neben dem Haus standen, das lichterloh brannte. Deshalb wurden wir dann von irgendjemandem ins Klinikum gebracht.
hessenschau.de: Wie haben Sie denn die Stimmung nach dem Bombenangriff in der Stadt in Erinnerung? Wer wurde verantwortlich gemacht?
Heede: Es gab keine Hetze, alles war normal. Ich habe nie irgendetwas Böses gehört. Alle waren nett zueinander. Wir waren alle einfach froh, überlebt zu haben. Von einer Hetze oder auch einer Stimmung gegen die Nazis habe ich überhaupt nichts gehört. Die Menschen waren gar nicht verbissen – und hatten ja auch alle ihr Tun, um wieder eine eigene Wohnung zu bekommen.
hessenschau.de: Die Innenstadt wurde aber zu 80 Prozent zerstört. Wie haben Sie Kassel vor dem Krieg denn in Erinnerung?
Heede: Kassel war eine wunderschöne Stadt. Wir haben damals alles zu Fuß gemacht. Ich bin oft zu Fuß von unserem Haus in der Mönchebergstraße ins Schwimmbad gelaufen. Davon, dass die Kasseler Innenstadt eine Arbeiterstadt gewesen sein soll, habe ich nie etwas gehört.
hessenschau.de: Wie ging es nach dem Bombenangriff auf Kassel für Sie weiter?
Heede: Als vier Wochen nach der Bombennacht meine Mutter starb, war ich zuerst in Villingen (Schwarzwald) bei meiner Schwester. Man wurde ja in der damaligen Zeit erst mit 21 Jahren volljährig. Dadurch war ich eine Halbwaise und mein Vater wurde freigestellt. In Helsa (Kassel) haben wir dann von einem Ingenieur zwei Zimmer bekommen.
Die Arbeit war dann eine Ablenkung für mich. Mein Vater besaß ein Fuhrgeschäft, ich hatte gerade das Handelsabitur gemacht. Deshalb musste ich die ganze Buchführung für ihn machen.
Wir fuhren jeden Morgen mit dem Lastwagen nach Kassel. Wir haben in Oberkaufungen angefangen, Leute mitzunehmen, denn es gab keine Verkehrsverbindung. Alle mussten hinten auf die Pritsche springen. In Niederkaufungen ging es damit weiter und am Bahnhof Bettenhausen mussten alle von der Pritsche runter. Wir jungen Mädchen sind außerdem oft nach Simmershausen (Kassel) gelaufen und haben unterwegs gesungen, denn wir hatten ja schon viel Schlimmeres erlebt.
hessenschau.de: Was für eine Rolle spielt die Erinnerung an diese Nacht heute noch für Sie?
Heede: Mit dem 80-jährigen Jubiläum kommt mir das alles wieder ganz nah in Erinnerung. Sonst denke ich nur ab und zu daran, dann aber mit Schrecken. Jetzt, wo diese ganze Unruhe im Nahen Osten herrscht, durch die Lage im Gaza-Streifen und die in der Ukraine, wird mir die Bombennacht in Erinnerung gerufen. Da sehe ich die Menschen, die genauso dastehen, wie wir damals hilflos dastanden und zugesehen haben, wie unser Haus abbrannte.
Die Fragen stellte Leander Löwe.
Ende der weiteren InformationenSendung: hr4, 20.10.2023, 15.30 Uhr
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