7 Erkenntnisse aus der Kasseler OB-Wahl
Ein Paukenschlag vor laufenden Kameras, eine Stichwahl mit nur einem Bewerber, ein Promi-Faktor, der nicht zündet: Was sich aus dem Ergebnis der OB-Wahl in Kassel folgern lässt.
Geselle oder nicht Geselle - das war die eigentliche Frage bei der OB-Wahl in Kassel. Nach dem Rückzug des amtierenden SPD-Oberbürgermeisters, der nach einem Streit mit seiner Partei als unabhängiger Kandidat angetreten war, steht Grünen-Bewerber Sven Schoeller allein auf dem Stimmzettel für die Stichwahl am 26. März.
Zwei weitere Bewerberinnen spielten eher eine Nebenrolle: Sowohl SPD-Frau Isabel Carqueville, als auch die ehemalige hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) sind bei den Wählerinnen und Wählern durchgefallen. Wie konnte es dazu kommen?
1. Amtsinhaber Christian Geselle verliert 25 Prozentpunkte...
Ein turbulentes Jahr, das mit einer geplatzten rot-grünen Koalition begonnen hat und zunächst im Zerwürfnis mit der eigenen Partei geendet ist, kostet Geselle jetzt den Chefsessel im Rathaus. Der Amtsinhaber verliert 25 Prozentpunkte im Vergleich zur OB-Wahl von 2017. Damals hatte er mit 56,6 Prozent bereits im ersten Wahlgang triumphiert und alle 23 Stadtteile für sich entschieden. In 20 von 23 Stadtteilen erreichte er damals die absolute Mehrheit von mehr als 50 Prozent.
Als Konsequenz schmeißt Geselle jetzt hin, obwohl er auch als unabhängiger Kandidat mehr Stimmen als die anderen Bewerberinnen und Bewerber geholt hat. Die Gründe dafür erklärt er am Wahlabend vor laufenden Kameras: Neben dem Stimmenverlust seien die letzten Monate und Wochen vor der Wahl eine immense Belastung für seine Familie gewesen. Erst in der vergangenen Woche hatte Geselle kurzfristig eine Podiumsdiskussion für junge Menschen abgesagt und das mit Sicherheitsbedenken im Wahlkampf begründet.
2. … obwohl er SPD-Hochburgen aus der Kommunalwahl 2021 halten kann
Und doch: Die SPD-Anhänger sind Geselle offensichtlich treu geblieben. In allen SPD-Hochburgen der Kommunalwahl von 2021 konnte er sich die meisten Stimmen sichern. Je stärker die SPD damals in einem Stadtteil war, desto besser schnitt Geselle am Sonntag ab, wie die folgende Grafik zeigt.
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Die SPD-Kandidatin Isabel Carqueville überzeugte in den ehemaligen Hochburgen ihrer Partei nicht. Sie konnte in keinem Kasseler Stadtteil die meisten Stimmen einfahren und bescherte ihrer Partei so das historisch schlechteste Ergebnis bei einer OB-Wahl.
Ob diese Niederlage an der fehlenden Bekanntheit liegt, lässt sich nicht sagen. Zum einen sind ihr wohl die Streitigkeiten innerhalb der SPD zum Verhängnis geworden, zum anderen hat es wohl vor allem mit der Popularität Geselles in den SPD-Hochburgen zu tun.
3. Personenwahl statt Fokus auf Inhalte?
Geselle trat nicht für die SPD an - setzte aber auf seinen Bekanntheitsgrad und grenzte sich vor allem beim Thema Verkehr gegen seine Mitbewerber von SPD, Grünen und Linken ab. Wer nicht besonders genau hinschaute, konnte inhaltlich jedoch kaum Unterschiede erkennen. Lediglich beim Klimaschutz hatte Geselle weniger Maßnahmen im Programm, wie eine Analyse von Scientists for Future ergeben hatte. Dieses Thema spielte allerdings im Wahlkampf eine eher nebensächliche Rolle.
So lief es nach der OB-Wahl in Frankfurt auch in Kassel auf eine Personenwahl hinaus, die vom internen Streit in der SPD überschattet wurde. Profitiert davon hat wohl Grünen-Kandidat Sven Schoeller, obwohl der im Vergleich zu Geselle in der Stadtpolitik eher unbekannt ist.
4. Newcomer Sven Schoeller überzeugt Grün - und Anhänger der Linken
Dessen Prognose vor der Wahl lautete: Er und Geselle gehen in die Stichwahl. Dass Schoeller jetzt in zwei Wochen allein auf dem Stimmzettel steht, war nicht absehbar. Aber allein der zweite Platz ist für den Rechtsanwalt, der erst seit zwei Jahren in der Stadtverordnetenversammlung sitzt, ein voller Erfolg. Zuletzt hatte Eva Koch bei der OB-Wahl 2017 nur 9,2 Prozent für die Grünen geholt.
Schoeller galt vor der Wahl als der etwas andere Grüne, weil er auch für konservativere Kasseler und Kasselerinnen wählbar schien. Jetzt stellt sich heraus, dass viele Anhänger der Linken dem grünen OB-Kandidaten ihre Stimme gegeben haben.
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Auch die grünen Wählerinnen und Wähler der Kommunalwahl 2021 konnte Schoeller offenbar für sich gewinnen. Er setzte sich in allen Stadtteilen durch, in denen seine Partei bei der Wahl zum Stadtparlament vorne lag.
Spannend wird, wie er seine Themen aus dem Wahlkampf allen Bürgerinnen und Bürgern in Kassel vermitteln will. Gerade das Thema Radverkehr hatte zuletzt für Spannungen im eigentlich "grünen" Stadtteil Vorderer Westen gesorgt. Dort waren frisch installierte Fahrradbügel über Nacht abgeschraubt worden, um so die Fläche wieder für parkende Autos freizumachen.
5. Schoeller könnte der erste grüne OB in Kassel werden
Jetzt kommt es am 26. März zu einer Stichwahl mit nur einem Kandidaten: Sven Schoeller. Wahrscheinlich wird dieser hierbei auf die notwendigen 50 Prozent der Stimmen kommen, es sei denn, er hat Gegner, die ihn verhindern wollen.
In diesem Fall käme es zu einer Neuwahl, bei der wieder alle Parteien Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl stellen können. So wurde es in der Hessischen Gemeindeordnung festgelegt.
Wenn Schoeller in der Stichwahl gewählt wird, ist er der erste grüne Oberbürgermeister der Stadt, dazu hat er Rückenwind im Stadtparlament. In der Stadtverordnetenversammlung bestimmt die Jamaika-Koalition aus Grünen, CDU und FDP, dabei ist seine Partei stärkste Kraft.
6. Promi-Faktor von CDU-Kandidatin Kühne-Hörmann zündet nicht
"Eva macht das!" - mit diesem Slogan war Eva Kühne-Hörmann bei der diesjährigen OB-Wahl angetreten. Nach dem Wahlabend im Kasseler Rathaus ist klar: Die Menschen hier hat sie damit nicht überzeugt. Die ehemalige Justizministerin aus dem Kabinett von Volker Bouffier wollte in der roten Hochburg mit Erfahrung und Promi-Faktor punkten.
Mit 16,8 Prozent blieb sie jedoch noch hinter dem Ergebnis ihres Parteikollegen Dominique Kalb von 2017 zurück. Dieser hatte bei der Wahl vor sechs Jahren ein Ergebnis von 18,3 Prozent erreicht. Dass Kühne-Hörmann mit der CDU am regierenden Jamaika-Bündnis der Stadt beteiligt ist, hat ihr als OB-Kandidatin offenbar nicht so viel genutzt. Und so blieb ihr am Abend nur die Erkenntnis, dass ihre Partei in einer Stadt, die traditionell rot wählt, nicht so ein großes Potential hat.
Trotzdem hat Kühne-Hörmann ihrer Partei das drittstärkste Ergebnis beschert und kann in fünf Stadtteilen hinter Geselle auf dem zweiten Platz landen: Brasselsberg, Oberzwehren, Bettenhausen, Wolfsanger-Hasenhecke und Philippinenhof-Warteberg.
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Bitter für sie: Womöglich hat der Rückzug Geselles erst nach Bekanntgabe des Ergebnisses ihr einen Einzug in die Stichwahl verbaut. Denn bei einem frühzeitigen Rücktritt des Amtsinhabers von seiner Kandidatur wäre sie mit dem Ergebnis vom Sonntag in die Stichwahl gekommen. Auch wenn offen ist, ob Geselles Unterstützer dann ihr oder Isabel Carqueville die Stimmen gegeben hätten.
7. Wahlbeteiligung und Briefwahl
Erfreulich ist: Die Wahlbeteiligung war höher als bei der OB-Wahl 2017. Damals hatten nur 36,5 Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. In diesem Jahr lag die Wahlbeteiligung mit 40,9 Prozent immerhin fast 5 Prozentpunkte darüber, konnte aber nicht an die Jahre zuvor anknüpfen.
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So hat noch nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten gewählt. Das ist bedenklich, vor allem, wenn man sich die Beteiligung in einzelnen Stadtteilen anschaut. In Nord-Holland beispielsweise lag die Wahlbeteiligung nur bei gut 17 Prozent. Dort hatte die Linke mit Violetta Bock die meisten Wähler mobilisiert.
Das Interesse an Briefwahl ist deutlich gestiegen: Mit 27.438 Wahlbriefen haben doppelt so viele Menschen ihre Stimme per Briefwahl abgegeben wie noch 2017. Damals waren es 13.425 Wahlbriefe, die vor der eigentlichen Wahl in den Briefwahlbüros eingegangen sind.
Für die 2.000 ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer sowie die 200 städtische Helfer bedeutete das zum einen 91 statt 50 Briefwahllokale - zum anderen mehr Arbeit.
Dass es bei der Stichwahl in zwei Wochen auch so ein hohes Briefwahlaufkommen geben wird, ist eher unwahrscheinlich. Erfahrungsgemäß stimmen beim zweiten Durchgang weniger Menschen ab. Entscheiden müssen sie sich dann für oder gegen Sven Schoeller.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 13.03.2023, 19.30 Uhr
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