"Habe niemanden in Aserbaidschan" 18-jährige Aysu trotz Ausbildungszusage abgeschoben
Aysu will in Linden eine Pflegehelfer-Ausbildung beginnen, nur noch die Arbeitserlaubnis fehlt. Doch dann wird sie abgeschoben. Der Fall stößt in ihrem Umfeld auf Unverständnis. Der Innenminister widerspricht.
Die Rufe nach Abschiebungen werden in der öffentlichen und politischen Diskussion lauter, die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Geflüchteten wirkt rauer. Trotzdem gibt es Beispiele, die bei vielen Menschen auf Unverständnis stoßen - wie das von Aysu.
"Ich habe niemanden in Aserbaidschan. Ich habe keine Familie da", sagt die 18-Jährige, die Mitte September aus Linden (Gießen) nach Aserbaidschan abgeschoben wurde. Im Video-Telefonat mit dem hr beginnt sie immer wieder zu schluchzen. Sie wirkt erschöpft. Ihre dunklen Haare hat sie zurückgebunden.
Abschiebung traf Aysu unvorbereitet
Die Abschiebung Mitte September traf sie vollkommen unvorbereitet. Die 18-Jährige hatte gerade eine Zusage für eine Pflegehelfer-Ausbildung bei der Diakonie erhalten. Weil ihr dafür noch eine Arbeitserlaubnis fehlte, hatte Aysu einen Termin bei der Ausländerbehörde vereinbart. Doch als sie an der Behörde eintraf, war die Polizei schon da - und brachte sie direkt zum Flughafen.
So erzählt es Elmar Schaub. Er habe noch mit Aysu im Warteraum der Ausländerbehörde gescherzt, als plötzlich drei Polizeibeamte kamen und Aysu mitteilten, dass noch heute ihr Flug nach Aserbaidschan gehen wird. Schaub beschreibt, dass Aysu daraufhin ohnmächtig auf ihrem Stuhl zusammengesunken sei, weshalb die Polizei einen Notarzt kommen ließ. Die Abschiebung habe das aber nicht verhindert.
Nach der Flucht von ihrer Mutter verlassen
Elmar Schaub und seine Frau Anna-Lena leiten in Linden eine Wohngruppe für Mädchen und junge Frauen. Aysu sei über das Jugendamt zu ihnen gekommen.
Die Wohngruppe sei "familienähnlich", sagt Schaub. Die emotionale Verbindung zu Aysu ist spürbar: "Es ist, als wäre ein Familienmitglied abgeschoben worden."
Die 18-Jährige habe schon als Kind Gewalt durch ihren Vater erfahren, erzählt der Sportpädagoge weiter. Aysus Mutter sei mit ihr vor dem Vater geflohen, über Umwege kamen sie nach Deutschland. Dann sei Aysu aber auch von ihrer Mutter verlassen worden.
Aysu erzählt im Videocall, dass ihr Vater elf Jahre im Gefängnis gesessen habe, weil er einen Menschen ermordet und mit Drogen gehandelt habe. Dass ihr Vater in Aserbaidschan lebt, löst bei ihr viele Ängste aus: "Ich möchte nach Deutschland zurückkommen. Ich habe sehr große Angst vor meinem Vater. Ich habe Angst, rauszugehen."
"Hätte Abschiebung nicht für möglich gehalten"
Elmar Schaub ist immer noch fassungslos über Aysus Abschiebung: "Was die alles geleistet hat, in der kurzen Zeit in Deutschland. Sie ist von ihren Eltern verlassen worden, vorher misshandelt worden und hat hat hier in kürzester Zeit Deutsch gelernt."
Aysu habe außerdem tolle Rückmeldungen von ihren Praktikumsstellen bekommen, erzählt Elmar Schaub. "Dass dieser Mensch abgeschoben wird, hätte ich in meinem ganzen Leben nicht für möglich gehalten."
Poseck: Voraussetzungen für Duldung nicht erfüllt
Der hessische Innenminister Roman Poseck sieht beim Fall Aysu hingegen kein Problem. Sie sei schon länger ausreisepflichtig gewesen, betont er: "Wenn eine Ausreisepflicht besteht, dann bedeutet das grundsätzlich auch, dass diese umgesetzt wird und auch umgesetzt werden muss. Das ist auch eine Frage der Konsequenz unseres Rechtsstaates."
Die Voraussetzungen dafür, die Duldung um eine Erlaubnis zur Ausbildung zu erweitern, seien bei Aysu nicht erfüllt gewesen. Ihrem Unterstützerkreis wurde mitgeteilt, dass die Ausbildung zur Pflegehelferin, die eine Vorstufe zur vollen Ausbildung als Pflegefachkraft ist, nicht als qualifizierte Ausbildung anerkannt würde. Sie reiche nicht aus, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen.
Restriktiverer Kurs bei Abschiebungen
Um die Zahl der Abschiebungen zu steigern, nimmt das Innenministerium nach eigenen Angaben derzeit "intensive Anstrengungen" vor. Die Zahl der Abschiebungen aus Hessen ist seit 2020 gestiegen. 2023 wurden hierzulande über 1.400 Menschen abgeschoben. Bundesweit waren es mehr als 16.000 Menschen.
Die Tendenz ist weiterhin steigend: Im ersten Halbjahr des Jahres 2024 waren es fast 10.000 Menschen, die aus Deutschland abgeschoben wurden. Seit Ende August gibt es auch wieder Abschiebungen nach Afghanistan. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte kürzlich "zeitnah" weitere Abschiebungen in das Land an, in dem die islamistische Taliban die Macht übernommen hat. Außerdem seien Abschiebeflüge in die Türkei geplant.
Widerspruch zwischen Fachkräftemangel und Abschiebequote
Timmo Scherenberg vom Hessischen Flüchtlingsrat befürchtet, dass durch die derzeit aufgeheizte Debatte mehr "harte" Abschiebungen von gut integrierten Menschen durchgeführt werden, um Quoten zu steigern. "Der Fall von Asyu zeigt die Widersprüchlichkeit der Politik, die wir gerade erleben", meint er.
Einerseits gebe es den Fachkräftemangel, gerade Pflegekräfte würden händeringend gesucht. Auf der anderen Seite würden Menschen wie Aysu, die schon Deutsch können und hier einen Abschluss gemacht haben, abgeschoben, um eine Quote zu erfüllen, sagt Scherenberg.
Beobachter der Diakonie und Caritas hatten die Abschiebepraxis am Frankfurter Flughafen zuletzt kritisiert. Erwachsene und Kinder seien in Hausschuhen oder Flipflops zu den Flügen gebracht worden. Häufig hätten die Betroffenen keine Möglichkeit zu packen oder Geld von ihrem Konto abzuheben.
Aysu träumt von Ausbildung in Deutschland
Aysus Traum wäre es, ihre Ausbildung in Deutschland zu beginnen und arbeiten zu gehen, sagt sie schluchzend. Ihre Verzweiflung wird deutlich: "Ich vermisse meine Schule. Jeden Tag schreiben mir meine ehemaligen Klassenkameraden, was sie gelernt haben."
Elmar und Anna-Lena Schaub möchten sich weiterhin für Aysu einsetzen. Doch das könnte schwierig werden, meint Timmo Scherenberg: "Aysu hat jetzt erstmal eine Wiedereinreisesperre für einige Jahre, die nur mithilfe eines Anwalts verkürzt werden kann."