Viel Kritik an neuem System Bezahlkarte für Geflüchtete erst in wenigen Orten in Hessen eingeführt
Sie soll illegale Migration und Schlepperkriminalität bekämpfen. Doch die Landesregierung verfehlt ihr Ziel, die Bezahlkarte für Geflüchtete zum 1. April flächendeckend einzuführen. Stattdessen regt sich Protest in den Kommunen. Experten halten das System für unfair und unwirtschaftlich.
Sie sieht aus wie eine normale Debit-Karte, allerdings mit entscheidenden Unterschieden: Das Guthaben stammt vom Land Hessen, Bargeldabhebungen sind auf 50 Euro gedeckelt, auch Überweisungen sind begrenzt.
Ende Dezember wurden die ersten Bezahlkarten in Hessens Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete (EAEH) in Gießen ausgegeben. Die schwarz-rote Landesregierung wollte das System bis zum 1. April flächendeckend auf kommunaler Ebene einführen. Verpflichtend sollte es für Neuankömmlinge sein, Kommunen können es auf bereits zugewiesene Asylbewerber ausweiten.
hr-Recherchen zeigen nun: Von einer flächendeckenden Einführung ist Hessen weit entfernt. Kritiker bemängeln sowohl den Ablauf der Einführung als auch den Nutzen der Karte.
Rhein: Bezahlkarte gegen illegale Migration
Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) sagte bei der Einführung im Dezember, man wolle mit der Karte illegale Migration und Schlepperkriminalität bekämpfen. Geflüchtete sollen das Geld vom deutschen Staat ausschließlich für ihren Lebensunterhalt nutzen und nichts ins Ausland schicken können.
Nach Angaben des Sozialministeriums wurden in Hessen bislang rund 1.600 Karten ausgegeben. Laut EAEH wurden seit Dezember mehr als 5.500 Neuankömmlinge registriert. Der Hessische Flüchtlingsrat geht davon aus, dass in Hessen etwa 40.000 Menschen Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen.
Nur wenige Kommunen haben die Karte eingeführt
Besonders hapert es offenbar bei der Einführung auf kommunaler Ebene. Laut Sozialministerium wurde das System in "einigen Kommunen" eingeführt. In wie vielen, ist derzeit nicht bekannt.
Nach Informationen des Hessischen Flüchtlingsrats gibt es die Bezahlkarte erst in fünf hessischen Landkreisen, etwa im Lahn-Dill-Kreis und im Kreis Limburg-Weilburg.
Kommunen beklagen Technikprobleme
In Darmstadt wurde die Einführung auf unbestimmte Zeit verschoben. Sozialdezernentin Barbara Akdeniz (Grüne) nennt als Hauptgrund die fehlende Technik: "Es gibt noch keine Schnittstelle zwischen dem Kartendienstleister und dem System unserer Stadtverwaltung." Über ähnliche Probleme klagt Frankfurt.
"Es gibt noch viel zu viele offene Fragen", sagte Akdeniz dem hr. Ohne Schnittstelle müssten die Mitarbeitenden der Stadt alle Daten händisch eintragen und verwalten. "Da machen wir aber nicht mit." Die Arbeitsbelastung sei bereits hoch, ein zusätzlicher Aufwand nicht zumutbar.
Akdeniz kritisierte zudem die mögliche Bargeldabhebung von monatlich 50 Euro als zu niedrig. Die Stadt Wiesbaden versuchte bereits, eine Bezahlkarte mit höherer Bargeldgrenze einzuführen - scheiterte damit aber.
Flüchtlingsrat: "Grotesker Verwaltungsaufwand"
Timmo Scherenberg vom Flüchtlingsrat sagt, dass es derzeit noch viele Unklarheiten gebe. Er kritisiert: Die Karte sei eingeführt worden, obwohl sie funktional noch nicht ausgereift sei. Kommunen und Betroffene müssten nun mit einem unfertigen Produkt hantieren.
Zudem sei es "unrealistisch", dass durch die Bezahlkarte Überweisungen an Schleuser unterbunden würden. Diese Erwartung werde von der Politik "hineinprojiziert".
Aus Sicht des Flüchtlingsrats ist die Karte bevormundend und reine Symbolpolitik. "Und der Verwaltungsaufwand dafür ist grotesk", so Scherenberg.
Verzögerungen bei Auszahlungen - Protest in Gießen
Nach hr-Informationen soll es im Verlauf der Umstellung dazu gekommen sein, dass einige Geflüchtete vorübergehend gar keine Leistungen erhielten. Das Sozialministerium bestätigte, dass dies in "wenigen Einzelfällen" und "für kurze Zeit" vorgekommen sei. Dringende Bedarfe würden aber stets durch Sachleistungen abgedeckt.
Aktuell gebe es zudem Verzögerungen wegen eines Brandanschlags vor der EAEH in Gießen, bei dem im März mehrere Geldtransporter brannten. Auf einem Internetportal des linken und linksextremen Spektrums war dazu ein anonymes Bekennerschreiben aufgetaucht, das den Anschlag mit Protest gegen die Bezahlkarte begründete.
Bündnis gegen Bezahlkarte gründet Wechselstube
In Gießen hat sich mittlerweile offiziell ein Bündnis gegen die Bezahlkarte gebildet, das deren sofortige Abschaffung fordert und eine sogenannte Wechselstube gründete. Zum Brandanschlag vor der Erstaufnahme will sich das Bündnis nicht äußern.
In der Wechselstube können Asylbewerber Einkaufsgutscheine, die sie mit der Bezahlkarte in Läden erworben haben, gegen Bargeld tauschen. In anderen Städten haben sich ähnliche Initiativen gegründet - auch wenn es dort noch gar keine Bezahlkarte gibt.
Ebi Kraatz vom Gießener Bündnis sagte dem hr: Geflüchtete seien besonders häufig auf Bargeld angewiesen, etwa um günstig Gebrauchtwaren zu kaufen. Die Karte sei "diskriminierend" und werde niemanden von der Einreise nach Deutschland abhalten.
Um wie viel Geld geht es überhaupt?
Bleibt die Frage: Was bringt die Bezahlkarte? Konkret: Wie viele Leistungen an Asylbewerber gehen tatsächlich in die Schlepperkriminalität oder werden an Angehörige ins Ausland überwiesen? Und welche Kosten entstehen für die Einführung der Karte?
Beides wurde vom Sozialministerium auf Anfrage nicht beziffert. Es seien keine Erhebungen zu Auslandstransfers bekannt. Die Kosten für die Karte könne man aufgrund der unvorhersehbaren Zahl an Asylsuchenden nicht genau nennen.
Forscherin: "Rechnet sich überhaupt nicht"
Sabine Zinn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin forscht unter anderem zu Migration und Statistik. Sie sagt: Wie viel Geld von Geflüchteten ins Ausland geschickt wird, könne niemand seriös beziffern, da es keine Datengrundlage gebe.
Man gehe anhand von Studien davon aus, dass sieben Prozent der Geflüchteten überhaupt Auslandsüberweisungen tätigten. Das sei unterdurchschnittlich. Der Anteil der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte insgesamt, die Geld an Angehörige ins Ausland überweisen, liege bei rund zwölf Prozent.
Personen im laufenden Asylverfahren oder mit einer Duldung erhalten keine Grundsicherung wie Bürgergeld. Stattdessen werden sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) versorgt.
Die Art der Versorgung hängt stark von der Unterbringung ab:
- In Sammelunterkünften erfolgt sie oft über Sachleistungen, zum Beispiel durch Kleiderkammern oder Essensausgaben.
- Wenn die Unterkunft über eine eigene Küche verfügt, kann stattdessen Geld für Lebensmittel ausgezahlt werden.
Zusätzlich erhalten Asylbewerber ein sogenanntes Taschengeld für den "notwendigen persönlichen Bedarf" wie Transport- oder Telefonkosten. Für Alleinstehende beträgt es derzeit rund 200 Euro monatlich. Die Auszahlung erfolgt bislang entweder in bar oder - falls ein eigenes Konto vorhanden ist - per Überweisung.
Wie viel Geld bekommen Asylbewerber?
Personen im laufenden Asylverfahren oder mit einer Duldung erhalten keine Grundsicherung wie Bürgergeld. Stattdessen werden sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) versorgt.
Die Art der Versorgung hängt stark von der Unterbringung ab:
- In Sammelunterkünften erfolgt sie oft über Sachleistungen, zum Beispiel durch Kleiderkammern oder Essensausgaben.
- Wenn die Unterkunft über eine eigene Küche verfügt, kann stattdessen Geld für Lebensmittel ausgezahlt werden.
Zusätzlich erhalten Asylbewerber ein sogenanntes Taschengeld für den "notwendigen persönlichen Bedarf" wie Transport- oder Telefonkosten. Für Alleinstehende beträgt es derzeit rund 200 Euro monatlich. Die Auszahlung erfolgt bislang entweder in bar oder - falls ein eigenes Konto vorhanden ist - per Überweisung.
Zinn sagte dem hr: Angesichts der geringen Summen, die Geflüchtete zur Existenzsicherung in Deutschland zur Verfügung hätten, sei es "wahnwitzig" zu glauben, dass sie sehr große Beträge ins Ausland schicken könnten.
Mit der Karte werde ein hoher bürokratischer Aufwand betrieben für einen geringen Nutzen - ohne empirische Grundlage, auf Basis von Annahmen, kritisierte Zinn: "Allein volkswirtschaftlich gesehen rechnet sich das überhaupt nicht."
Sozialministerium: Einführung im zweiten Quartal
Kurz vor dem Stichtag teilte das Sozialministerium mit: Die Einführung der Bezahlkarte sei "gut angelaufen". Da die technische Infrastruktur noch Zeit brauche, könnten Kommunen "formlos und unbürokratisch" eine Fristverlängerung beantragen. Das Problem sei nicht spezifisch für Hessen. Soll heißen: Woanders tritt es auch auf.
Derzeit rechnet das Sozialministerium nach eigenen Angaben damit, dass die Umstellung auf die Bezahlkarte im zweiten Quartal abgeschlossen ist. Der Prozess sei fließend.
Die Planung von Umtauschaktionen habe man zur Kenntnis genommen. Man werde das Vorgehen genau beobachten, teilte das Ministerium mit: "Möglichem Missbrauch werden wir begegnen."
Korrektur: In einer früheren Version hieß es, dass bislang rund 1.000 Karten ausgegeben worden seien. Dies folgte einer Antwort des Sozialministeriums auf eine Anfrage von Anfang März. Mittlerweile wurden laut Ministerium rund 1.600 Karten ausgegeben.