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MoVe 35: Bürgerentscheid über Mobilität in Marburg

Autobahn und Blick aufs Schloss

Soll in Marburg der Autoverkehr halbiert werden? Eines der Ziele des neuen Mobilitätskonzepts MoVe35 spaltet die Bevölkerung seit Monaten. Am Sonntag durften die Marburger entscheiden.

Beim Bürgerentscheid wurde die Frage gestellt: "Sind Sie dafür, dass das im Rahmen von MoVe35 beschlossene Ziel einer Halbierung des Pkw-Verkehrs zugunsten anderer Verkehrsmittelnutzungen weiterhin verfolgt wird?" 

Wahlberechtigt bei der Abstimmung rund um das umstrittene Marburger Verkehrskonzept MoVe35 waren rund 58.000 Bürgerinnen und Bürger. Darum geht es im Detail:

MoVe35 steht für Mobilitäts- und Verkehrskonzept 2035. Es ist das erste Konzept in Marburg, das alle Verkehrsarten auf einmal zusammendenken soll: PKW, ÖPNV, Rad- und Fußverkehr.

Auf rund 230 Seiten wird zunächst eine Bestandsanalyse gemacht. Dann werden Ziele, mögliche Szenarien und entsprechende Maßnahmen vorgestellt. Hauptziel ist, eine "zukunftsorientierte, klimafreundliche und vielfältige" Verkehrswende in Marburg bis zum Jahr 2035.

Im Konzept heißt es: MoVe35 verstehe sich als langfristig angelegtes "Zielkonzept", es sei "kein festgeschriebener Fahrplan".

Anders als manche vielleicht annehmen, stimmen die Marburger nicht über das Verkehrskonzept an sich ab, sondern über eines der Unterziele, auf dem MoVe35 mit aufgebaut wurde: die Halbierung des städtischen PKW-Verkehrs bis zum Jahr 2035.  

Unabhängig vom Bürgerentscheid wird das Konzept also im Wesentlichen erhalten bleiben. Jedoch müssten bei einem mehrheitlichen Nein am 9. Juni einzelne Ziele und Maßnahmen noch mal überprüft werden.

Ausgangspunkt war ein Parlamentsbeschluss im April 2019. Die damalige Koalition aus SPD, Bürgern für Marburg und CDU entschied, eine "ganzheitliche Mobilitätsstrategie für Marburg" entwerfen zu lassen, etwa um dem Bevölkerungswachstum Marburgs und dem allgemeinen Mobilitätswandel zu begegnen. Zudem wollte man verkehrsbedingte Umweltbelastungen vermindern, die Sicherheit erhöhen und Außenstadtteile besser anbinden, hieß es.

Mit der Umsetzung wurde 2020 ein Verkehrsplanungsbüro aus Dortmund beauftragt. Das Büro entwickelte das "Zielkonzept" daraufhin gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Politik, Verwaltung, Institutionen, Vereinen, Verbänden und Wirtschaft. Auch zufällig ausgewählte Bürger waren dabei. Es gab mehrere öffentliche Veranstaltungen und eine Online-Befragung.

Offiziell vorgestellt wurde MoVe35 dann im Juni 2023. Kurz darauf wurde es im Stadtparlament verabschiedet.

Das nun besonders umstrittene Ziel, den Autoverkehr in Marburg zu halbieren, war im ursprünglichen Beschluss von 2019 noch nicht enthalten. Es entstand im Verlauf des dreijährigen Planungsprozesses.

Im Hintergrund steht, dass die Stadt Marburg im Juni 2019 den sogenannten Klimanotstand ausgerufen hat. Seitdem strebt sie Klimaneutralität bis 2030 an.

Zur Berechnung der aktuellen Autonutzung in Marburg nutzt MoVe35 den sogenannten Modal Split. Dieses mittlerweile weit verbreitete Berechnungsmodell sagt aus, welche Verkehrsmittel zu welchem Anteil genutzt werden. Der Ergebnis: Momentan ist das Auto Hauptverkehrsmittel in Marburg. Etwa vier von zehn Wegen werden mit dem "motorisierten Individualverkehr" zurückgelegt. Das ist in vielen vergleichbaren Städten ähnlich.

Bei stadtgrenzenüberschreitenden Wegen beträgt die Auto-Nutzung in Marburg laut Zwischenbericht von 2021 sogar fast 70 Prozent. Vergleichsweise niedrig ist im hügeligen Marburg die Fahrradnutzung: Nur jeder zehnte Weg wird per Rad erledigt. Dafür laufen die Marburgerinnen und Marburger relativ viel zu Fuß.

Für die Zukunft malt das Konzept verschiedene Szenarien aus, je nachdem wie und in welcher Härte verkehrsplanerisch eingegriffen wird. Das Konzept rechnet vor: Wenn die Stadt ihre Klimaziele tatsächlich erreichen will, muss sich die Autonutzung halbieren, die Radnutzung verdoppeln. Auch die ÖPNV-Nutzung muss deutlich steigen.

Um das zu schaffen, wird es laut MoVe35 allerdings nicht ausreichen, umweltfreundliche Verkehrsarten zu stärken und dadurch attraktiver als das Auto zu machen. Deshalb schlägt das Konzept auch Maßnahmen vor, die das Autofahren gezielt erschweren sollen. Das könnten beispielsweise neue Einbahnstraßenregelungen, Sperrungen und Parkplatzabbau sein.

Tatsächlich wird eine Veränderung des Modal Splits mit dem Ziel, Autofahrten zu reduzieren, derzeit vielerorts angestrebt. Auch andere Städte haben in den vergangenen Jahren große Verkehrsentwicklungspläne entworfen oder sind gerade dabei. Manche stecken sich dabei ganz ähnlich ambitionierte Ziele für den Autoverkehr wie MoVe35:

  • "Weg von der Auto-Orientierung" heißt es beispielsweise in Darmstadt im "Masterplan DA 2030+": Die erfolgreiche Mobilitätswende sei nur mit einer deutlichen Veränderung des Modal Splits zu erreichen. Konkret soll die Autonutzung von 35 auf 25 Prozent sinken.
  • In Gießen wurde im Verkehrsentwicklungsplan festgelegt: Der Anteil der mit dem Auto zurückgelegten Wege soll bis 2035 von 40 auf 25 Prozent sinken. Bei Strecken bis drei Kilometern strebt man sogar 10 Prozent an.
  • Auch in Kassel soll die Autonutzung bis zum Jahr 2030 sinken, allerdings etwas weniger stark. Von einer Reduzierung von 40 auf 31 bis 38 Prozent ist im Verkehrsentwicklungsplan der Stadt die Rede.
  • Die Stadt Fulda strebt dagegen nur eine vergleichsweise leichte Reduzierung an: Man wolle die Autonutzung bis 2035 von 45 auf 42 Prozent senken, heißt es im Fuldaer Verkehrsentwicklungsplan.

Nachdem MoVe35 veröffentlicht worden war, entbrannten in Marburg heftige Diskussionen darum, insbesondere bezüglich der Szenarien für den Autoverkehr. Ein Bürgerbegehren für einen Bürgerentscheid zum Konzept sammelte im vergangenen November mehr als 8.000 Stimmen - mehr als doppelt so viele wie nötig.

Doch die Stadtverordnetenversammlung erklärte das Bürgerbegehren aufgrund von Formfehlern für ungültig. Zwei Wochen später brachte Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) dann selbst eine Bürgerbefragung ins Spiel. Die Stadt könne die vielen Unterschriften aus der Stadtgesellschaft nicht unbeantwortet lassen, sagte Spies damals zur Begründung.

Die Opposition im Stadtparlament kritisiert MoVe35 besonders stark. Dazu gehören neben der FDP die CDU und Bürger für Marburger, die das Konzept ursprünglich sogar mit auf den Weg gebracht hatten. Sie nennen das 50-Prozent-Ziel "ideologisch" und "politisch gesteuert" und sprechen von einem "Kulturkampf gegen das Auto". Sie meinen: Es gebe für den tatsächlichen Nutzen der Maßnahme keinen Nachweis.

Kritik an der aktuellen Fassung von MoVe35 kommt auch aus der Marburger Wirtschaft. Einzelhändler und Arztpraxen fürchten beispielsweise um die Erreichbarkeit der Innenstadt und Attraktivität des Wirtschaftsstandorts. Die Regionalversammlung der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg fordert ebenfalls, dass MoVe35 noch mal komplett neu aufgesetzt wird.

Auch aus dem Umland gibt es Sorgen und Kritik. Befürchtet wird beispielsweise eine Benachteiligung älterer Menschen, die auf das Auto angewiesen seien, oder eine Mehrbelastung anderer Strecken, weil Autofahrer ausweichen könnten.

Klar hinter dem Ziel, den Autoverkehr in Marburg zu halbieren, steht die aktuelle Koalition aus Grünen, SPD und Klimaliste. Sie hat es 2021 sogar im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Auch Oberbürgermeister Spies (SPD) macht sich dafür stark.

Ein Bündnis von über 20 Klimaschutzinitiativen aus Marburg hat zudem eine Kampagne gestartet, mit der sie dazu auffordert, am 9. Juni mit Ja zu stimmen. Dazu gehören zum Beispiel der Naturschutzbund Marburg, die BI Verkehrswende und die Scientists For Future.

Sie meinen: MoVe35 sei nicht nur gut fürs Klima, sondern werde auch den Verkehr in Marburg für alle Beteiligten sicherer und besser machen. Klimaneutralität und eine echte nachhaltige Verkehrswende könnten nur erreicht werden, wenn auch der Autoverkehr eingeschränkt werde.

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