Bundespräsident Steinmeier in Stadtallendorf Zwischen Boxen, Bundeswehr und Bürgerdialog
Bundespräsident Steinmeier taucht während seiner "Ortszeit" ein in das Leben in Stadtallendorf. Er spricht mit Soldaten, diskutiert mit Bürgern über Migration und bricht beim Boxtraining spontan das Fasten mit Jugendlichen.
Gemeinsam Kochen, Sport treiben, Hausaufgaben machen – und diese Woche ausnahmsweise Boxen mit dem Bundespräsidenten. Hoher Besuch ist angesagt im Südstadtkiosk in Stadtallendorf (Marburg-Biedenkopf), einem ehemaligen Bunker, der heute als Jugendzentrum dient.

Rund zwei Dutzend Kinder und Jugendliche sind gekommen, anfangs aufgeregt, aber die Stimmung lockert sich schnell. "Ihr kommt hoffentlich nicht nur dann, wenn der Bürgermeister kommt?", will Frank-Walter Steinmeier mit Blick auf seinen Begleiter, Rathauschef Christian Somogyi (SPD), wissen – und erntet direkt Lacher. Auf keinen Fall, meint ein Jugendlicher. "Das ist hier mein zweites Zuhause."
Steinmeier schwingt die Fäuste
Steinmeier schaut sich die Räume an, beantwortet Fragen, lässt sich das Boxtraining zeigen. Das sei nicht nur körperliches, sondern auch mentales Training, erklären ihm die jungen Sportlerinnen und Sportler. Und schließlich schwingt der erste Mann im Staat auch selbst die Fäuste.
"Kann man gar nicht glauben", sagt die 16 Jahre alte Ceylin, die wohl ab jetzt ihr ganzes Leben lang davon erzählen wird, mal mit dem Bundespräsidenten geboxt zu haben.

Steinmeier ist seit Dienstag in Stadtallendorf. In der Kleinstadt leben Menschen aus mehr als 80 Ländern, ein Großteil der Jugendlichen hier hat Migrationsgeschichte. Ein paar kochen gerade Spaghetti und laden Steinmeier spontan ein, mit ihnen das Fasten zu brechen. Er zögert kurz, dann nimmt er gerne eine Portion. Und zum Nachtisch zockt der Bundespräsident noch eine Runde Fifa mit.
"Supersympathisch, einfach einmalig" - die Jugendlichen sind hinterher überzeugt: Der Bundespräsident, der ist in Ordnung.
Erinnern und Verantwortung
Kontrastprogramm am nächsten Morgen: Steinmeier besucht gemeinsam mit Bundeswehr-Angehörigen das Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ). Hier wird aufgearbeitet, wie Stadtallendorf in der NS-Zeit zum zentralen Standort der Rüstungsindustrie wurde.

Rund 20.000 Zwangsarbeiter wurden damals hierher verschleppt, es war die größte Fabrik für Sprengstoff und Munition in ganz Europa. Auf dem belasteten Boden befindet sich heute unter anderem ein Bundeswehr-Standort.
"Zeitenwende non stop"
In Stadtallendorf habe "Zeitenwende non stop" stattgefunden, erklärt der für die Gedenkstätte verantwortliche Kunsthistoriker Jörg Probst. "Kein Bundeswehrstandort hat eine einfache Geschichte, aber hier ist sie besonders drastisch."
Beim Gespräch mit den Soldaten geht es am Mittwoch ums Gedenken, aber auch ums Brückenbauen. "Wir haben durch historische Schuld auch historische Verantwortung", sagt ein Unteroffizier. Ein anderer betont, dass Soldaten bei diesen Themen sattelfest sein müssten, wenn sie Vorbilder sein wollen.

Es geht auch um konkrete Bedrohungen. Mit Blick auf die Ukraine spricht Steinmeier von einer "beispiellosen Opferung von jungen Soldaten" aus Russland und Nordkorea, wie man sie seit 1945 nicht mehr erlebt habe.
"Töten und getötet werden"
Ein Soldat sagt: "Wir sind alle im Frieden und in einer Zeit der Abrüstung groß geworden." Nun müsse man sich mit Wiederaufrüstung, Landes- und Bündnisverteidigung auseinandersetzen, mit Themen wie "Töten und getötet werden".
Eine Majorin schildert, dass sie und ihr Mann beide bei der Bundeswehr sind. An Weihnachten hätten sie sich gefragt: "Was passiert mit unseren Kindern, wenn wir beide in den Einsatz müssen?"
Migration: Vorbild Stadtallendorf?
Am Nachmittag soll es dann planmäßig "kontrovers" zugehen. Steinmeier diskutiert mit 13 geladenen Gästen bei Kaffee und Kuchen über Migration. Schließlich war das auch der Anlass seiner "Ortszeit" in Stadtallendorf: Steinmeier hatte einen Artikel gelesen, der die Kleinstadt als besonders vorbildlich in Sachen Integration beschrieb.

Nun will der Bundespräsident von Menschen aus der Stadt wissen: Ist das wirklich so?
Das Thema ist auch in Stadtallendorf ein Dauerbrenner. Am Tisch sitzen Ehrenamtliche, Pädagogen und Geistliche, Leute aus Wirtschaft und Politik, einige mit eigener Migrationsgeschichte.
Gebet auf dem Baugerüst?
Ein Unternehmer macht durchwachsene Erfahrungen mit ausländischen Fachkräften. Einen "Spitzenmann" aus der Ukraine habe er neuerdings dabei. Aber seine Ausbildung werde nicht anerkannt, der Führerschein laufe bald ab. "Soll der Maler bald mit dem dem E-Lastenrad zur Baustelle?", fragt er. Steinmeier lacht und kurz wird über horrende Führerscheinpreise diskutiert.
Der Unternehmer berichtet auch von einem muslimischen Mitarbeiter, der mitten am Tag hoch oben auf dem Gerüst den Gebetsteppich ausgerollt habe. Viel zu gefährlich, meint er. Der Moschee-Vertreter im Raum stimmt ihm zu: "Bei der Arbeit wird nicht gebetet." Das könne man auf später verschieben.
Der strenge Muslim arbeite nicht mehr für ihn, erzählt der Unternehmer. "Das ging so nicht." Dabei brauche er seine Mitarbeiter dringend – und eigentlich noch mehr. Einfach mal ein direkter Ansprechpartner bei der Agentur für Arbeit, das wäre richtig hilfreich. "Aber da lande ich in der Warteschleife."
Bürgerdialog: Viele Themen, wenig Kontroverse
Pädagogen schildern Erfolge, aber auch Sorgen. Vor allem die mangelnden Deutschkenntnisse vieler Kinder beschäftigen sie. Eine Tafel-Mitarbeiterin meint: "Die verschiedenen Nationalitäten mischen sich zu wenig."

Steinmeier hört viel zu, stellt Fragen, lobt ihren Einsatz. Eine echte Kontroverse entsteht aber selten – was vielleicht an der Vielzahl an Menschen und Detailtiefe an Themen liegt, die sie mitbringen. Vieles ist zu komplex für eine kurze Debatte.
Steinmeier widerspricht
Echten Widerspruch gibt es lediglich bei Aussagen eines Stadtrats von der Bürger Union Stadtallendorf (BUS). Der berichtet, einige Jahre eine Flüchtlingsunterkunft geleitet zu haben und äußert starke Meinungen über Integrationsfähigkeit und Arbeitswillen bestimmter Nationalitäten. "Nordafrikaner – Arbeit: null", sagt er etwa. Später wird er betonen, er habe niemanden über einen Kamm scheren wollen.
Der Bundespräsident ist nicht seiner Meinung, was den Zusammenhang von Ethnie und Arbeitswillen angeht. "Das kann ich so nicht bestätigen", sagt er. Auch ein junger Afghane, selbst 2016 geflüchtet, widerspricht dem Mann.
Und? Ist Stadtallendorf ein Vorbild?
Und Steinmeiers Fazit? Ist Stadtallendorf wirklich so ein Vorbild? "Selbstverständlich hat niemand gesagt: Stadtallendorf ist das Paradies für Zuwanderung und Integration", resümiert der Bundespräsident am Schluss.
Aber: Es gebe hier großes Verständnis dafür, mit Zugewanderten selbstverständlich umzugehen und Probleme zu lösen – die es natürlich auch hier gebe.
Ein Mini-Ergebnis gibt es schließlich auch: Bürgermeister Somogyi will sich mit der Agentur für Arbeit in Verbindung setzen und schauen, was man machen kann, um den Austausch zu verbessern.