Hessische Linke feiert bei Bundestagswahl Comeback Auferstanden aus Ruinen
Würden Wahlsiege am Maß der Euphorie gemessen, wäre vermutlich die Linkspartei vorne. Dabei schien sie auch in Hessen am Boden zerstört. Für die Auferstehung gibt es mehr als eine Ursache.

Es war spät am Sonntag. Am Tag nach der Party müsste Violetta Bock langsam anfangen, für Berlin zu packen. Aber sie muss auch noch viel anderes erledigen. Reihenweise Glückwünsche beantworten zum Beispiel. Und sich vermutlich auch sammeln.
Dass sich am Dienstag im Bundestag doch eine künftige Fraktion der lange totgesagten Linken treffen wird, hatte sich zuletzt abgezeichnet, klar. Dass die 37-Jährige aus Kassel dabei sein könnte, geriet auf einmal auch zur Möglichkeit. Aber so richtig eben erst seit einigen Wochen.
"Es ist schon auch heute noch ganz gut", sagt die Politikwissenschaftlerin, die noch als Geschäftsführerin des Mieterbundes Nordhessen arbeitet, zum Hochgefühl des Wahlerfolgs. Er schien monatelang ein Ding der Unmöglichkeit.

Fast noch ein Mandat mehr
Rund 8,8 Prozent hat die Linkspartei am Sonntag bundesweit geholt, 8,7 Prozent in Hessen. Das war auf beiden Ebenen rund das Doppelte vom Ergebnis der vorherigen Bundestagswahl. In keinem anderen Flächenbundesland im Westen ist die Partei so stark geworden wie hier.
Fast hätte es sogar für fünf hessische Mandate im Bundestag gelangt - das wäre eine Bestmarke gewesen. Nun sind die ersten vier Kandidatinnen und Kandidaten der Liste gewählt, und eine davon ist Bock.
Dass ein vorderer Listenplatz nicht aussichtsreich sein muss, hat sie auf dem absoluten Stimmungstiefpunkt der Linken erlebt. Lange ist das nicht her: Vor eineinhalb Jahren, bei der Landtagswahl, hatte sie Platz fünf.
Nicht einmal Platz eins hätte gereicht: Die Partei flog nach eineinhalb Jahrzehnten mit demoralisierenden 3,1 Prozent aus dem Landtag - und aus anderen Länderparlamenten auch. Das Ende schien nahe.
Die Brot-und-Butter-Themen
"Wir haben alles richtig gemacht", sagt mit dem Wetzlarer Ex-Landtagsabgeordneten Hermann Schaus ein krisen- und wahlkampferprobter Parteiveteran zu dem, was sich seitdem getan habe. Vor allem hat sich laut dem 69-Jährigen ausgezahlt, dass die Partei auf die "Brot-und-Butter-Themen" vieler Menschen gesetzt habe:
Steigende Mieten, fehlende Wohnungen, hohe Lebensmittelpreise und das Gesamtgefühl, es gehe nicht gerecht zu: Schaus meint diese Themen und die Forderungen nach einem Mietendeckel, höherem Mindestlohn oder einer Vermögenssteuer.
Eine Befreiung
Die hessische Spitzenkandidatin Janine Wissler sagte am Montag in hr INFO ebenfalls: "Wir haben auf die richtigen Themen gesetzt." Dazu gehört für die Frankfurterin auch der Umgang mit dem ansonsten beherrschenden Wahlkampfthema. Viele hätten es den Linken hoch angerechnet, dass sie sich nicht "an dieser Debatte über weniger Migration, mehr Abschottung und mehr Abschiebungen beteiligt haben".
Dass sich Wissler noch einmal über ihre Partei freuen könnte, war auch nicht abzusehen. Die 43 Jahre alte Ex-Bundesvorsitzende, seit langem die Gallionsfigur des Landesverbandes, wurde seit ihrem Wechsel nach Berlin Anfang 2021 in Flügelkämpfen aufgerieben, vor allem im Streit mit Sahra Wagenknecht.
Die Bundestagswahl im September 2021 war nur deshalb nicht zum Vollfiasko geworden, weil die Linke über die Hintertür drei gewonnener Direktmandate zu einer Fraktion kam. Mit 4,7 Prozent im Bund und 4,3 Prozent in Hessen hätte das nicht geklappt.
Im Nachhinein ist klar: Als Wissler im Oktober des vergangenen Jahres nicht noch einmal für die Parteispitze antrat, war das Schlimmste für die Linke vorbei. Ein Jahr zuvor hatte Wagenknecht die Abspaltung und die Gründung des BSW eingeleitet. Da sprachen nicht wenige in der Linken schon von einem überfälligen Befreiungsschlag. "Die Atmosphäre in der Partei ist seitdem viel sachlicher und umgänglicher geworden, auch bei unterschiedlichen Meinungen“, sagt ein jahrzehntelanges Mitglied aus Hessen heute.
Immer stärkere Eintrittswellen
Schon kurz nach dem Bruch mit Wagenknecht berichtete die Linke von steigenden Mitgliederzahlen. Es seien Menschen, die von Dauerstreit und Forderungen nach Asylverschärfungen abgeschreckt worden seien, für die Wagenknecht stand.
Dass der eigene Erfolg mit dem Misserfolg des BSW zusammenfällt, das den Einzug in den Bundestag knapp verpasste, ist auch in Hessen für viele Linke eine Genugtuung. Zumal das BSW zwischenzeitlich in Umfragen viel besser als die Linke dastand.
Zwei weitere Eintrittswellen folgten, eine größer als die andere. Inzwischen hat die Partei in Hessen nach eigenen Angaben 7.000 Mitglieder. Das ist Rekord und doppelt so viel, wie noch kurz vor Weihnachten. Tendenz: weiter steigend.
Merz setzte größten Triggerpunkt
Der erste Triggerpunkt für Einsteiger war der Bruch der Ampelkoalition vergangenen November. Enorm wurde der Anstieg der Mitglieder bei der Linken dann Ende Januar, als CDU-Chef Friedrich Merz mit Hilfe der AfD einen Entschließungsantrag für eine striktere Migrationspolitik im Bundestag durchsetzte.
Die künftige Bundestagsabgeordnete Bock spricht von "einer Phase, in der der Wind sich dreht“. Da seien die Linke für viele die Anlaufstation, um gesellschaftlich dagegen zu halten. Tatsächlich stiegen erst mit dem umstrittenen CDU-Asylvorstoß mit den Mitgliederzahlen auch die Umfragewerte der Linken merklich.
In der zweiten Jahreshälfte 2024 war sie über drei Prozent kaum hinausgekommen. Nun eben fast neun Prozent. In jedem der hessischen Wahlkreise waren es mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen. In Uni-Städten als den Linken-Hochburgen wurde es ein Vielfaches. Ganz vorne waren Marburg mit 19 und Gießen mit 17,4 Prozent.
Viele Frauen und junge Menschen
Der Frauenanteil in der künftigen Linken-Truppe aus Hessen für Berlin ist ein Alleinstellungsmerkmal: Drei von vier der Abgeordneten sind weiblich. Zu Wissler und Bock kommt noch die 31 Jahre alte Co-Landeschefin Desiree Becker. Einziger Mann im Quartett ist Jörg Cezanne. Der 66-Jährige gehört dem Bundestag bereits an.
Die Zusammensetzung passt zur Bedeutung von Frauen in der Wählerschaft: Bei ihnen kam die Linke am Sonntag bundesweit sogar auf 11 Prozent.
Die Marburger Parteienforscherin Isabelle Borucki findet das angesichts von Schwerpunkten wie Sozialpolitik, Geschlechtergerechtigkeit, Diversity oder Anti-Rassismus sehr plausibel. "Von den Themen, die die Linke im Wahlkampf gespielt hat, sind Frauen stärker betroffen“, sagte sie dem hr. Rechte Parteien propagierten zudem auch Rollenbilder, mit denen Frauen schlecht leben könnten.
Auffälligen Zuspruch erfuhr die Linke auch beim jüngeren Teil der Wählerschaft. Bei den 18- bis 24-Jährigen war sie diesmal sogar Spitzenreiterin. Die Stimmen schossen hier seit der letzten Bundestagswahl von 9 auf 25 Prozent in die Höhe. Dazu passt, dass die meisten Wähler, die diesmal von anderen Parteien zur Linken wechselten, beim vorherigen Mal die lange bei Jungwählern besonders erfolgreichen Grünen bevorzugt hatten.
Nicht nur Studierende
Aber ist das nachhaltig oder ein Hype, der sich auch im Rummel um Co-Bundeschefin Heidi Reichnnick auf TikTok spiegelt? Violetta Bock befürchtet keine Kurzlebigkeit des Erfolgs. Ganz viele der Neuen wollten sich konkret einbringen, sagt sie. Das spreche für dauerhaftes Engagement.
"Kämpfen und Kümmern" laute die Parole, die neben Solidarität auch politischen Erfolg bringen soll. Die Partei bietet zum Beispiel konkrete Sozialsprechstunden an, etwa bei Stress mit Behörden oder Wohnungsgesellschaften. Gerade dafür interessierten sich neue Mitglieder stark.
Ihrem Wetzlarer Parteikollegen Schaus macht es nach eigenen Angaben Mut für die Kommunalwahl im kommenden Jahr und die Landtagswahl 2029, dass sich Mitglieder- und Wählerzuwächse auch in ländlicheren Regionen wie dem Lahn-Dill-Kreis zeigten. Und unter den jungen Menschen, die dazukämen, seien längst nicht nur Akademiker. "Wir haben jetzt auch zwei Lokomotivführerinnen bei uns", sagt er.