Warum ein Sieg im hessischen Wahlkreis nicht automatisch nach Berlin führt
Das neue Wahlrecht legt die Größe des kommenden Bundestags klar fest. Für Wahlkreissieger bedeutet das, dass sie nicht automatisch ins Parlament einziehen. Wen es treffen könnte.
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Die Ampel-Regierung hat 2023 das Wahlrecht geändert. Die Bundestagswahl am 23. Februar ist die erste, die den veränderten Regeln folgt. Vor allem Direktkandidaten in den Wahlkreisen und deren Wähler müssen sich darauf einstellen, länger als bisher auf das Ergebnis warten zu müssen - und möglicherweise enttäuscht zu werden.
Warum wurde das Wahlrecht für die Bundestagswahl geändert?
Dass vor einer Bundestagswahl das Wahlrecht geändert wird, passiert häufig. 2002 hatte man sich eigentlich auf eine Obergrenze von 598 Abgeordneten geeinigt. Doch dabei blieb es nicht. In der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode sitzen 736 Abgeordnete im Plenum im Berliner Reichstag.
Das ist teuer, kostet zu viel Platz und schränkt die Arbeitsfähigkeit des Parlaments ein. Darauf konnten sich alle Parteien einigen. Daher legte die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP die Größe des kommenden Bundestags verbindlich auf 630 Abgeordnete fest. Die Zahl darf nicht überschritten werden.
Wie wird sichergestellt, dass es beim kleineren Bundestag bleibt?
Der Bundestag beschloss 2023 mit der Mehrheit aus SPD, Grünen und FDP, dass künftig allein der Anteil der Zweitstimmen über die Sitzverteilung entscheidet. Sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es nicht mehr.
Diese Mandate sorgten in der Vergangenheit dafür, dass der Bundestag immer größer wurde. Denn alle Wahlkreissieger zogen direkt in den Bundestag ein. Waren das mehr, als der jeweiligen Partei gemäß Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden, kam die Partei in Genuss zusätzlicher Mandate. Damit es keine Verzerrung zu den Zweitstimmenergebnissen der anderen Parteien gab, erhielten diese Ausgleichsmandate. Alle Fraktionen wuchsen dadurch.
In einer zunehmend zersplitterten Parteienlandschaft fielen umso mehr Überhangmandate an. Die Zweitstimmenanteile der im Parlament sitzenden Parteien wurden kleiner. Doch bei der Verteilung der Direktmandate kamen beispielsweise in Hessen in der überwiegenden Zahl der Fälle bislang SPD und CDU zum Zug - bei den Erststimmen entscheidet ja die relative Mehrheit über den Sieg im Wahlkreis. Gewinnen kann bereits jemand mit weniger als 30 Prozent.
Was bedeutet das geänderte Wahlrecht für die Wähler?
Erst einmal nichts. Wählerinnen und Wähler können weiterhin die Erststimme für ihren bevorzugten Wahlkreiskandidaten vergeben und die Zweitstimme für die Partei ihrer Wahl. Der Stimmzettel bei der Bundestagswahl 2025 ist so aufgebaut wie bei früheren Wahlen.
Auch an der sogenannten Ober- und Unterverteilung der Mandate ändert sich nichts. Die Oberverteilung legt anhand des bundesweiten Zweitstimmenergebnisses fest, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag einnehmen darf.
Die Unterverteilung blickt auf die einzelnen Landeslisten einer Partei. Bei Bundestagswahlen gibt es keine bundesweiten Listen, CDU-Wähler in Hessen geben ihre Stimmen jemand anderem als CDU-Wählerinnen in Thüringen. Die Unterverteilung legt fest, wie viele Abgeordnete der Landesverband Hessen nach Berlin entsenden darf und wie viele der von Thüringen. Je stärker ein Landesverband abschneidet, desto mehr Mandate nimmt er ein.
Welche Folgen hat das geänderte Wahlrecht für Parteien und Kandidaten?
Die Parteien können tendenziell weniger Abgeordnete nach Berlin schicken, weil der Bundestag kleiner wird.
Vor allem heißt die Wahlrechtsreform für die Kandidaten, die per Erststimme gewählt werden, dass sie im Fall eines Siegs im Wahlkreis nicht automatisch in den Bundestag einziehen. Die Direktmandate einer Partei müssen nun durch ihren Zweitstimmenanteil im Plenum abgedeckt sein. Die Zahl der Sitze einer Fraktion darf nicht höher sein, als es das Zweitstimmenergebnis einer Partei hergibt. Liegt die Zahl der Wahlkreissieger darüber, dürfen diejenigen mit den prozentual schwächsten Ergebnissen nicht nach Berlin.
Diese Regel sorgte vor allem bei den Unionsparteien CDU und CSU für Protest. Sie finden, dass Wahlkreissieger automatisch in den Bundestag einziehen müssten.
Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt es bei der sogenannten Grundmandatsklausel: Das bedeutet, dass eine Partei auch dann mit einer Fraktion in den Bundestag einziehen darf, wenn sie zwar bundesweit an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, aber mindestens drei Direktmandate erringen kann.
Davon profitierte zuletzt die Linke. Auch für die CSU könnte das entscheidend sein, da sie in der Vergangenheit zwar viele Direktmandate errang. Aber weil sie nur in Bayern antritt, lag sie zuletzt bundesweit nur knapp über der Fünf-Prozent-Marke.
Was bedeutet das für die Wahlkreissieger?
Eine der spannenden Fragen bei der Bundestagswahl 2025 ist, wie viele Wahlkreissieger an der Klausel mit der Zweitstimmenabdeckung scheitern werden. Diese Frage lässt sich letztlich erst dann beantworten, wenn das vorläufige Endergebnis vorliegt. Das wird in der Nacht zum 24. Februar erwartet. Kandidaten und Wähler müssen sich in dieser Frage also länger gedulden als bislang.
Grundsätzlich gilt: Je stärker das Zweitstimmenergebnis einer Partei, desto wahrscheinlicher ziehen ihre Wahlkreissieger in den Bundestag ein. Und umgekehrt: Je mehr Direktkandidaten einer Partei bei den Erststimmen vorne liegen, desto wahrscheinlicher ziehen diejenigen unter ihnen mit den prozentual schwächsten Ergebnissen nicht in ein Abgeordnetenbüro in Berlin.
Wie viele Wahlkreissieger aus Hessen schaffen es nicht in den Bundestag?
Weil die CSU in Bayern und die CDU in Baden-Württemberg mit ihren Direktkandidaten überproportional stark sind, dürften es dort einige Wahlkreissieger nicht nach Berlin schaffen. Auch in Hessen könnte es manche CDU-Kandidaten treffen.
Das Meinungsforschungsinstitut YouGov geht in einer Auswertung von unterschiedlichen Daten für die Zeitung Welt am Sonntag (Bezahlschranke) von 45 Wahlkreisen aus, deren Sieger nicht ins Parlament einziehen könnten. In 31 davon könnte die Union betroffen sein.
Nach Angaben der Zeitung könnten in Baden-Württemberg sieben Wahlkreissieger durch das Zweitstimmenergebnis ungedeckt sein, in Hessen sechs, in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen je fünf, in Rheinland-Pfalz vier sowie in Schleswig-Holstein und dem Saarland je zwei. Für gefährdet hält YouGov demnach auch den Einzug von acht ostdeutschen AfD-Direktkandidaten und einem SPD-Kandidaten aus Bremen in den Bundestag. Grüne, Linke und BSW wären demnach nicht betroffen.
Um welche Wahlkreise es sich handelt, sagten die Forscher von YouGov nicht voraus, schreibt die Zeitung. Sorgen machen müssten sich Kandidaten in bundesweit 109 Wahlkreisen. In Hessen dürfte es sich vor allem um Wahlkreise in größeren Städten wie Frankfurt, Darmstadt oder Wiesbaden handeln, wo mehrere bekannte Kandidatinnen und Kandidaten in einem Wahlkreis aufeinander treffen und eine Mehrheit knapper ausfallen dürfte.
Eine - mit Vorsicht zu genießende - Wahlkreisprognose über die wahrscheinlichen Sieger bei den Erststimmenergebnissen bietet election.de an.
Ist mit dem veränderten Wahlrecht taktisches Wählen noch möglich?
Wegen der erforderlichen Zweitstimmenabdeckung für Direktmandate wirbt derzeit fast jede Partei dafür, ihr beide Stimmen zu geben. Früher war es nicht unüblich, dass etwa die FDP unter Billigung der Union eine Zweitstimmenkampagne fuhr. Sie bat darum, ihr nur diese Stimme zu geben und ihr damit über die Fünf-Prozent-Hürde zu helfen. Die Erststimme könne ruhig an den Unionskandidaten gehen, der dann über das Direktmandat nach Berlin ziehen könne, hieß es damals.
Dieses sogenannte Stimmensplitting ergebe vor allem deshalb heutzutage weniger Sinn, weil wegen der Zersplitterung des Parlaments Koalitionsfestlegungen im Voraus kaum noch möglich sind, wie der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim (Baden-Württemberg) sagt.
Denkbar sei künftig ein Vier-Fraktionen-Parlament ebenso wie ein Bundestag mit sieben Fraktionen, sagt Brettschneider. Bei dieser Bandbreite sei es schwer, die Folgen von taktischem Wählen abzuschätzen, zumal sich die klassischen Lager Schwarz-Gelb und Rot-Grün aufgelöst hätten.