Check zur Bundestagswahl Menschen mit Behinderung wünschen sich mehr Kontakt zu Politikern
Menschen mit Behinderung interessieren sich für die gleichen Themen wie alle anderen - gerade vor der Bundestagswahl. Trotz einiger Verbesserungen sieht die Lebenshilfe noch Hindernisse bei der Teilhabe. In Sozialen Medien macht sie darauf aufmerksam.
Unabhängig davon, wie die Bundestagswahl ausgeht, hat Jan Bernhardt einen klaren Wunsch: "Der neue Bundeskanzler müsste mal Menschen mit Behinderung besuchen, um zu sehen, dass wir auch etwas können, aber benachteiligt werden. Und wer will schon ein Deutschland, in dem das so ist?"

Neben ihm sitzen Manuela Stock und Simon Kreuter. Sie alle leben mit einer geistigen Behinderung und treffen sich montags bei der Lebenshilfe in Marburg. Unter der Leitung von Noami Cloarec sind sie als sogenannte Co-Lehrkräfte in Hessen unterwegs. Das heißt: Sie sprechen unter anderem in Schulen über Barrieren, Vorurteile und andere Dinge, die sie im Alltag erleben.
Lebenshilfe-Film soll Barrieren abbauen
Dieses Mal ist aber alles anders: Der Landesverband des Selbsthilfeverbands für Menschen mit geistiger Behinderung hat ein Kamerateam nach Marburg geschickt. Mit einem Beitrag für ihren Kanal auf Youtube möchte die Lebenshilfe zeigen, wie sich Menschen mit Behinderung über die Bundestagswahl austauschen.
"Nur wenn wir auch solche Dialoge begleiten, bekommen wir in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit", sagt Regisseur Manuel Bahmer. Er möchte Barrieren abbauen und zeigen, dass Menschen mit Behinderung "sich für die gleichen Themen interessieren wie alle anderen".
Simon Kreuter wünscht sich zum Beispiel einen zuverlässigen öffentlichen Nahverkehr. Jan Bernhardt denkt über Bildung und soziale Projekte in Deutschland nach. Und Manuela Stock macht sich Sorgen um die Wirtschaft und politische Debatten: "Dieser Streit, diese Trauer und auch diese Wut. Das ist so traurig. Die Leute sind echt verzweifelt. Deutschland muss wieder eins werden."
Normalos informieren über Social Media
Auch in Gießen wird bei der Lebenshilfe oft über die Bundestagswahl diskutiert. Hier gibt es eine Social-Media-Redaktion von Menschen mit und ohne Behinderung. Sie nennen sich Normalos und machen Beiträge für ihren Instagram- und Facebook-Kanal. Mit Hilfe von Videos und Grafiken erklären sie dort zum Beispiel, wie ein Wahlzettel aussieht oder warum überhaupt gewählt wird.
Und das alles in Leichter Sprache: in kurzen Sätzen, verständlich, ohne Fremdwörter. "Leichte oder auch einfache Sprache ist wichtig. Wir wollen Themen so einfach wie möglich erklären. Damit es alle verstehen", sagt Justus Bode. Für ihn sei es manchmal schwierig, Debatten aus dem Bundestag zu verfolgen, erzählt er. Vor allem, weil dort viele Fachbegriffe verwendet würden.

"Das Problem ist, dass sich viele in der Politik mit Menschen mit Behinderung nicht zusammensetzen und auch nicht aufeinander zugehen", sagt Inklusiv-Reporter Daniel Tabert. Es sei immer leicht, über andere zu reden statt mit ihnen. Inklusion heiße aber, dass alle Menschen eingebunden werden müssen.
Wahl-O-Mat nicht in Leichter Sprache
Die Gruppe in Marburg testet derweil gemeinsam den Wahl-O-Mat, um möglichst gut über die Positionen der Parteien informiert zu sein. Dafür braucht es aber gegenseitige Unterstützung. Ohne Hilfe wäre das für Simon Kreuter etwa zu kompliziert, wie er sagt: "Ich kann nicht lesen und nicht schreiben, deshalb ist mir das viel zu schwer."
Auch für Jan Bernhardt sind die insgesamt 38 Fragen in dem Online-Tool "anspruchsvoll". Politische Themen wie Klimaschutz oder soziale Teilhabe seien ihm aber wichtig. Deshalb möchte er auch wissen, was die Parteien dazu sagen. Manuela Stock ist sich sicher: "Menschen, die keine Behinderung haben, verstehen den Wahl-O-Mat genauso wenig. Sie geben es nur nicht zu."
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat nach eigenen Angaben versucht, den Wahl-O-Mat auch in Leichter Sprache herauszubringen. Sie sei aber daran gescheitert, die jeweiligen Positionen der Parteien vereinfacht darzustellen. "Die Verwendung bestimmter Adjektive, Bezeichnungen und Formulierungen hat wesentlichen Einfluss darauf, welche Position einzelne Parteien einnehmen", teilte ein Sprecher dem hr mit.
Menschen mit Behinderung wollen mitreden
Eine Übersetzung in leichte Sprache würde die Thesen demnach deutlich verändern und auch die Unterscheidbarkeit der Parteien erschweren. Trotzdem gibt es Hilfestellungen im Wahl-O-Mat: eine Art Bedienungsanleitung in Leichter Sprache, eine Vorlesefunktion und erstmals auch Inhalte in Gebärdensprache.
Manuela Stock freut sich, dass es immer mehr Möglichkeiten gibt, sich auf dem Laufenden zu halten: "Jeder hat ein Interesse, da mitzureden. Weil es auch wichtig ist, dass wir nicht auf unsere Behinderung festgelegt werden." Auch das ist etwas, was die Lebenshilfe in Hessen vermitteln möchte.
Zweite Bundestagswahl mit inklusivem Wahlrecht
"Nur wenn wir eine Stimme abgeben, können wir was verändern", betont Simon Kreuter. Für Menschen mit Sehbehinderung zum Beispiel gibt es ein Angebot aus Marburg: Die Blindenstudienanstalt (kurz: Blista) hat Wahlschablonen angefertigt und bundesweit verschickt. Das sind dicke Pappen mit runden Aussparungen an den Stellen, wo das Kreuz gesetzt werden kann.

Seit 2019 gibt es außerdem das inklusive Wahlrecht. Seitdem können auch Menschen mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen wählen. Bei der Bundestagswahl 2021 konnten so mehr als 80.000 Menschen in Deutschland erstmals ihre Stimme abgeben, die auf eine sogenannte Wahlassistenz angewiesen sind. Diese erklärt in der Wahlkabine oder bei der Briefwahl alles Organisatorische, nimmt aber keinen Einfluss auf die Stimmabgabe selbst.
Inklusiv-Reporterin Volz: "Wir stehen für Vielfalt"
Ein Thema, das den Normalos in Gießen vor der Wahl besonders am Herzen liegt, ist die Demokratie. Deshalb haben sie auch von der großen Demonstration gegen Rechtspopulismus in Gießen berichtet. Der Redaktion ist es wichtig, sich gegen rechts zu positionieren. "Wir stehen für Vielfalt und möchten zeigen, was wir erleben, und unsere Stimme erheben", sagt Katharina Volz.
Die Redaktion hat darum auch die Gedenkstätte in Hadamar (Limburg-Weilburg) besucht. Die Normalos wollen daran erinnern, dass die Nationalsozialisten genau dort auch Menschen mit Behinderung umbrachten. "Wenn ich darüber nachdenke, dass ich vor 80 Jahren selber auch Opfer gewesen und ermordet worden wäre, dann macht mir das Angst", berichtet Volz.

"In Deutschland leben viele Menschen mit einer Behinderung", sagt Inklusiv-Reporter Julian Heidinger. Ihre Ängste, Sorgen und Wünsche sollten daher angehört und umgesetzt werden.
Von einer Behinderung könne jeder betroffen sein, ergänzt Daniel Tabert. Menschen neigen seiner Meinung nach dazu, sich erst Gedanken darüber zu machen, wenn es zu spät ist. "Wir müssen aber jetzt aus der Vergangenheit lernen. Das ist etwas, was man wirklich nach außen tragen muss."